OGH 10ObS9/97i

OGH10ObS9/97i28.1.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. Nicole E*****, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Linz-Land, Abteilung Jugendwohlfahrt, diese vertreten durch Mag.Marcus Bumberger, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1.Oktober 1996, GZ 12 Rs 214/96v-18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 30.Mai 1996, GZ 10 Cgs 311/95y-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 17.10.1983 geborene und somit nunmehr im 14. Lebensjahr stehende Klägerin kam 1988 auf einen Pflegeplatz bei einer Mutter, bei der sie zusammen mit ihren erwachsenen Kindern und einem minderjährigen Enkelkind wohnt. Die Obsorge und damit gesetzliche Vertretung steht der Bezirkshauptmannschaft Linz-Land, Abteilung Jugendwohlfahrt, zu. Durch häufigen Pflegeplatzwechsel und das Fehlen einer Bezugsperson vor 1988 verzögerte sich die Entwicklung und kam es zu massiven Verhaltensauffälligkeiten mit selbst- und fremdaggressiven Handlungen. Seit 1988 konnte diese Entwicklung teilweise aufgeholt werden, es zeigen sich jedoch immer noch Verhaltensauffälligkeiten im Sinne von gelegentlichen Agressionsausbrüchen.

Obwohl nach der Krankengeschichte ein Sonderschulbesuch zu erwarten war, besuchte die Klägerin die Volksschule, die sie 1995 abschloß. Dies war allerdings nur mit zusätzlichem Lernaufwand von ca. drei Stunden täglich durch die Pflegemutter möglich, wobei das Mädchen in der Schule vor allem Probleme mit Mathematik (speziell bei Textaufgaben) hatte und sich Störungen in der Feinmotorik beim Zeichnen und Basteln auswirkten. Sie begann zwar Hausaufgaben selbständig, benötigte dann aber Hilfe. Die Lernzeit mußte häufig unterbrochen werden, weil sie über Schwindel, Kopfweh und Müdigkeit klagte und auch mitunter erbrechen mußte.

Seit 1995 besucht die Klägerin die Hauptschule. Sie wird während der Woche in einem Internat betreut und verbringt das Wochenende bei ihrer Pflegemutter. Die Lernergebnisse der 3. Leistungsstufe sind positiv, wenn auch nur mit vermehrter Förderung und heilpädagogischem Sonderaufwand der Betreuer. Wenn es nicht unbedingt sein muß, dienen die Wochenenden bei der Pflegemutter der Erholung und wird dort nicht gelernt.

In medizinischer Hinsicht leidet die Klägerin an einer psychischen Behinderung leichten Grades bei prae- und postnatalen Störungen mit anschließender Milieuverwahrlosung. Sie benötigt mehr (und zwar psychischen) Betreuungsaufwand als ein gesundes gleichaltriges Kind. Lernhilfe ist bei ihr im größeren Ausmaß als bei anderen Schülern (ca. 1,5 Stunden) sowie vermehrte Betreuung und Beobachtung bei psychosomatischen und aggressiven Reaktionen (ca. 5 Wochenstunden) erforderlich. Insgesamt ergibt sich auf Grund dieser psychischen Behinderung ein Aufwand von ca. 14 Stunden wöchentlich, ds mehr als 50 Stunden monatlich.

Mit Bescheid vom 25.10.1994 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 15.7.1994 auf Zuerkennung eines Pflegegeldes ab.

Mit ihrer (pflegschaftsgerichtlich genehmigten) Klage stellte die Klägerin das Begehren auf Zuerkennung eines solchen im gesetzlichen Ausmaß.

Das Erstgericht wies dieses Klagebegehren ab. Es beurteilte die eingangs wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahingehend, daß die Anleitung eines psychisch Behinderten nur dann als Hilfe im Sinne des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG) angesehen werden könne, wenn der Behinderte aufgrund seiner Kritik- und Antriebslosigkeit zu täglichen lebenswichtigen Verrichtungen angehalten werden müsse. Das (bloße) Lernen gehöre jedoch weder zu den Grundbedürfnissen eines Menschen, noch handle es sich um lebenswichtige Verrichtungen im Sinne des BPGG und der Einstufungsverordnung (EinstV). Ein "normaler" Schulabschluß möge zwar für das spätere Fortkommen von Vorteil sein, die Förderung zur Erreichung dieses Zieles sei jedoch keine Pflegemaßnahme im Sinne des BPGG, weil bei Unterbleiben vermehrter Lernhilfe keine Verwahrlosung drohe.

Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin erhobenen Berufung keine Folge, sondern bestätigte das Ersturteil. Es übernahm dessen rechtliche Beurteilung und führte noch weiter aus, daß Lernen im Hinblick auf das verfassungsmäßig gewährleistete Recht auf Bildung zwar zu den Grundbedürfnissen eines Menschen und damit zu den Kriterien eines "selbstbestimmten und bedürfnisorientierten" Lebens gehöre; eine Ausdehnung der im BPGG und in der EinstV enthaltenen Begriffe der "Betreuung" und "Hilfe" auf psychische Unterstützung und Bildungsförderung sei daraus jedoch nicht abzuleiten, seien doch Lernhilfe und -förderung nicht als existenzsichernde Maßnahmen im Sinne der genannten Rechtsquellen anzusehen. Insoweit bestünden gegen die EinstV auch keine die Einleitung eines Verordnungsprüfungsverfahrens rechtfertigende Bedenken.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen dieses Urteil gerichtete, auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte, gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage zulässige und von der beklagten Partei nicht beantwortete Revision der Klägerin ist nicht berechtigt.

Der Oberste Gerichtshof hat hiezu folgendes erwogen:

Gemäß § 4 EinstV ist die Anleitung und Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei Durchführung der in den §§ 1 und 2 dieser Verordnung genannten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen. Die Bestimmung hat hiebei Fälle im Auge, in denen die Anwesenheit der Betreuungsperson während der Verrichtung erforderlich ist (arg.: "Anleitung und Beaufsichtigung... bei der Verrichtung"; SSV-NF 9/66 = SZ 68/137). Der bei der Klägerin erforderliche Lern-, Beobachtungs- und Betreuungsaufwand ist allerdings unter keine der in § 1 genannten Betreuungs- und der in § 2 aufgezählten Hilfsverrichtungen zu subsumieren. § 2 scheidet aus, weil es sich bei den in Abs 2 dieser Stelle aufgezählten Verrichtungen - entgegen den Ausführungen des Berufungsgerichtes - um eine taxative (Pfeil, Pflegevorsorge 178; derselbe, BPGG 83; 10 ObS 2393/96a, 10 ObS 2452/96b), also nicht erweiterbare Aufzählung mit fixen Pauschalwerten (10 ObS 2080/96x) handelt. § 1 scheidet aus, weil - wie sich aus der (demonstrativen [arg.: "insbesondere"]: SSV-NF 9/75, 10 ObS 2393/96a) Aufzählung des Leistungskataloges (speziell in Abs 2) ergibt - hiemit grundsätzlich nur körperlich/physische, eine Verwahrlosungsgefahr mit sich bringende Verrichtungen erfaßt werden sollten.

In der Entscheidung 10 ObS 2323/96a hat der Senat erst jüngst hiezu ausgeführt, daß es sich hiebei "um zumindest im weiteren Sinne lebenswichtige Verrichtungen nicht medizinischer Art handeln muß" (so auch Pfeil, Pflegevorsorge 107 f und BPGG 80). Der vom Gesetzgeber des BPGG in Verbindung mit der EinstV verfolgte Zweck besteht danach - wie bereits das Berufungsgericht hervorgehoben hat - darin, den betroffenen Personen durch Gewährung entsprechender Hilfestellung im persönlichen und sachlichen Lebensbereich zu einer menschenwürdigen Existenz (arg.: "Verwahrlosung") zu verhelfen, wobei mit Existenzsicherung nicht eine wirtschaftliche Existenz (also etwa besseres Fortkommen) gemeint ist. Die hier der Klägerin zugeführten Betreuungs- und Hilfeleistungen als rein psychische Unterstützungsmaßnahmen zur Bildungsförderung einerseits und Aggressionsdämpfung im mitmenschlichen Umgang andererseits können darunter nicht subsumiert werden. Die bei der Klägerin erforderlichen Maßnahmen sind aber auch nicht den (grundsätzlich erweiterbaren) Leistungen des § 1 "gleichzusetzen". Spezielle Lernhilfe und -förderung sind nicht als existenzsichernde Maßnahme weder im Sinne des BPGG noch der EinstV anzusehen. Andernfalls könnte unter Umständen auch jede sonstige Lern- und Nachhilfe bei lern- und auffassungsschwachen (-gestörten) Schülern/innen Pflegegeld auslösen; (bloßer) Bildungsfortschritt ist - nach Wortlaut und Zielsetzung (§ 6 ABGB) des Gesetz- wie auch des Verordnungsgebers - nicht Gegenstand eines Pflegegeldanspruches.

Demgemäß wurde auch schon bisher vom Obersten Gerichtshof ein aus § 4 EinstV abgeleiteter Betreuungsaufwand nur in jenen Fällen zuerkannt, in denen es sich um Betroffene handelte, die aufgrund psychischer Leidenszustände der Betreuung für gewisse (lebens)notwendige Tätigkeiten zur (körperlichen) Pflege ihrer Person oder zur Instandhaltung ihres Haushaltes oder zur selbständigen Nahrungsbereitung bedurften (SSV-NF 9/66 = SZ 68/137, 10 ObS 2004/96w, 10 ObS 2410/96a). Die Entscheidung steht damit auch nicht in Widerspruch mit jener zu 10 ObS 2452/96b, weil beim dortigen (im 11. Lebensjahr stehenden) Kläger aufgrund seines leichtgradigen Entwicklungsrückstandes im seelischen und geistigen Bereich gegenüber altersgemäß entwickelten und gesunden Kindern - anders als bei der Klägerin im hier zu beurteilenden Fall - eine vermehrte Hilfe und Beaufsichtigung bei der Körperreinigung, bei der Verrichtung der Notdurft mit anschließender Körperreinigung sowie vermehrte Hilfe und Anleitung beim An- und Auskleiden gegeben waren. In dieser Sozialrechtssache konnte jedoch ein (zusätzlicher) Betreuungsaufwand für die Schulwegbegleitung - welcher dort wie hier mit der Gefährdung der Fortentwicklung des Kindes durch Hintanhaltung der mit einem Schulbesuch einhergehenden Bildungsmöglichkeit zu begründen versucht wurde - gleichfalls keine Berücksichtigung in den Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegegeld finden.

Der Revision war daher aus allen diesen Erwägungen ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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