Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1.7.1994 Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen, abgewiesen wird.
Die beklagte Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 22.10.1986 geborene Kläger leidet an einem Zustand nach atrioventrikulärer Shunt-Einlage und weiterer mehrfacher Shunt-Revisionen aufgrund eines erhöhten intracraniellen Druckes infolge einer intrauterinen Störung des Schädelwachstums. Es besteht ein leichtgradiger Entwicklungsrückstand im seelischen und geistigen Bereich. Er bedarf gegenüber altersgemäß entwickelten und gesunden Kindern einer vermehrten Hilfe und Beaufsichtigung bei der Körperreinigung (10 Stunden monatlich), bei der Verrichtung der Notdurft mit anschließender Körperreinigung (ebenfalls 10 Stunden) sowie vermehrter Hilfe und Anleitung beim An- und Auskleiden (5 Stunden monatlich). Mehrmals täglich muß bei ihm von Erwachsenen das Shunt-Ventil geprüft und betätigt werden; dies erfordert mindestens 1 Stunde pro Monat. Die Mobilität in Beziehung auf Besuche, Spaziergänge, Spielen auf Spielplätzen, Zurechtfinden in fremder Umgebung ist gegenüber altersgemäß entwickelten und gesunden Kindern eingeschränkt. Der Kläger benötigt daher Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Leistungsmäßig gleichgestellt gegenüber alterskonform entwickelten und gesunden Kindern ist der Kläger hinsichtlich der übrigen für das Pflegegeld maßgeblichen Komponenten (Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, Besorgung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, Reinigung der Wohnung und der Gebrauchsgegenstände, Pflege der Leib- und Bettwäsche, Beheizung der Wohnung samt Zutragen von Heizmaterial).
Der Kläger besucht seit 1994 eine Integrationsklasse der Volksschule, wo er nach dem Lehrplan der allgemeinen Sonderschule unterrichtet wird. Aufgrund seines Entwicklungsrückstandes muß er nach wie vor in die Schule gebracht und von dieser abgeholt werden, ein Umstand der bei gleichaltrigen gesunden Kindern nicht mehr erforderlich ist. Die Begleitung auf dem Schulweg erfordert Hilfe im Ausmaß von 19 Stunden monatlich. Vor Beginn der Schulpflicht hatte der Kläger einen monatlichen Betreuungs-, Hilfe- und Aufsichtsaufwand von 36 Stunden.
Die beklagte Partei wies den Antrag auf Gewährung von Pflegegeld für den minderjährigen Kläger mit Bescheid vom 19.4.1994 ab. In der Begründung wurde ausgeführt, daß nach einem Sachverständigengutachten ein monatlicher Pflegebedarf von durchschnittlich 40 Stunden vorliege, der für einen Pflegegeldbezug der Stufe 1 nicht ausreiche. Eine dauernde Beaufsichtigung des Kindes sei nicht notwendig.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Zahlung des Pflegegeldes im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klage.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und verwies zusätzlich darauf, daß ein Bedarf an ständiger Aufsicht erst bei einem 180 Stunden monatlich übersteigenden Pflegebedarf zu berücksichtigen sei. Der Bedarf an Lernhilfe sei für die Gewährung eines Pflegegeldes nicht relevant.
Das Erstgericht sprach dem Kläger Pflegegeld der Stufe 1 ab 1.7.1994 zu und wies das Mehrbegehren ab. Seit Beginn der Schulpflicht habe der Kläger einen Pflegebedarf von 55 Stunden monatlich, weil die erforderlichen 19 Stunden für die Begleitung auf dem Schulweg nicht unter dem Begriff der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn gesehen werden könnten. Diese diene behindertern Personen zum Ersatz dafür, daß sie gewisse Sozialkontakte nicht wahrnehmen könnten. Der Schulbesuch hingegen sei nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht des Kindes, weshalb es sich bei der Notwendigkeit einer Begleitperson für den Schulbesuch um eine Hilfeleistung handle, die gesondert zu bewerten sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Aus der Einstufungsverordnung ergebe sich nicht, daß sie sämtliche denkbaren Verrichtungen erfasse und die einzige Grundlage für die Beurteilung des Pflegeaufwandes bilde. Es seien Betreuungsmaßnahmen denkbar, die von der Regelung der Verordnung nicht erfaßt seien, sie wolle nur die häufigsten Fälle des Betreuungsaufwandes der Pauschalierung unterwerfen, um die Erledigung der Masse der Fälle nach einer einheitlichen Leitlinie sicherzustellen. Dies schließe nicht aus, daß in einzelnen Fällen, in denen ein spezifischer Betreuungsaufwand anfalle, der sich vom üblichen unterscheide, dessen Umfang konkret zu ermitteln sei. Zwar komme die Begleitung des Kindes auf dem Schulweg der Mobilitätshilfe im weiteren Sinne und damit den in § 2 Abs 2 EinstV genannten Hilfsverrichtungen nahe. Die dort aufgezählten Verrichtungen seien aber als aufschiebbare Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich seien. Bei der Schulwegbegleitung sei ein derartiger Spielraum nicht gegeben, weil die Betreuung zu vorgegebenen unaufschiebbaren Zeiten durchgeführt werden müsse. Der Betreuungsaufwand für die Schulwegbegleitung sei jedenfalls ein vom Gesetz mitumfaßter Bedarf, weil der Schulbesuch für die psychisch-geistige Entwicklung eines Kindes im Schulalter unerläßlich sei. Sei aber die Fortentwicklung des Kindes durch Hintanhaltung des Schulbesuchs deutlich gefährdet, müsse der daraus abzuleitende Bedarf in den Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegegeld Berücksichtigung finden.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Sie beantragt die Abänderung im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.
Die klagende Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Nach § 4 Abs 1 des hier anzuwendenden niederösterreichischen Pflegegeldgesetzes 1993 (NÖPGG, LGBl 9220-0) gebührt das Pflegegeld ab Vollendung des dritten Lebensjahres, wenn aufgrund einer körperlichen geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung der ständige Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) voraussichtlich mindestens 6 Monate andauern wird oder würde. Nach Abs 2 besteht Anspruch auf Pflegegeld in der Höhe der Stufe 1 für Personen, deren Pflegebedarf nach Abs 1 durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich beträgt. Nähere Bestimmungen für die Beurteilung des Pflegebedarfes sind nach Abs 3 von der Landesregierung durch Verordnung festzulegen. Diese Verordnung hat insbesondere festzulegen: 1. eine Definition der Begriffe "Betreuung" und "Hilfe", 2. Richtwerte für den zeitlichen Betreuungsaufwand, wobei verbindliche Mindestwerte zumindest für die tägliche Körperpflege, die Zubereitung und das Einnehmen von Mahlzeiten sowie für die Verrichtung der Notdurft festzulegen sind, 3. verbindliche Pauschalwerte für den Zeitaufwand der Hilfsverrichtungen, wobei der gesamte Zeitaufwand für alle Hilfsverrichtungen mit höchstens 50 Stunden pro Monat festgelegt werden darf...... (Insoweit entspricht das NÖPGG dem BPGG). Die von der niederösterreichischen Landesregierung erlassene Einstufungsverordnung zum NÖPGG, LGBl 9220/1-0 (NÖEinstV) entspricht mit geringfügigen Abweichungen der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz (EinstV). Nach § 1 Abs 1 sind unter Betreuung alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Zu diesen Verrichtungen zählen nach Abs 2 insbesondere solche beim An- und Auskleiden, bei der Körperpflege, der Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, der Verrichtung der Notdurft, der Einnahme von Medikamenten und der Mobilitätshilfe im engeren Sinn. Unter Hilfe sind nach § 2 aufschiebbare Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind. Hilfsverrichtungen sind nach Abs 2 die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche, die Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Für jede Hilfsverrichtung ist ein - auf einen Monat bezogener - fixer Zeitwert von 10 Stunden anzunehmen (Abs 3). Nach § 3 Abs 3 NÖEinstV ist Pflegebedarf bei Personen zwischen dem 3. und 15. Lebensjahr insoweit nicht anzunehmen, als die notwendigen Verrichtungen auch von Personen, die sich auf der dem jeweiligen Lebensalter entsprechenden Entwicklungsstufe befinden, nicht selbständig vorgenommen werden können. Während die Betreuungsmaßnahmen in § 1 demonstrativ aufgezählt sind, handelt es sich bei dem Katalog des § 2 um eine taxative Aufzählung (Gruber/Pallinger, PGG 37 Rz 16 zu § 4; Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich 178; derselbe, BPGG 83; 10 ObS 2393/96a). Dies ergibt sich daraus, daß der für Hilfsverrichtungen in Rechnung zu stellende Bedarf bereits durch § 4 Abs 3 Z 3 NÖPGG auf insgesamt maximal 50 Stunden pro Monat begrenzt ist. Daraus folgt aber weiters, daß ein Hilfebedarf alleine, also ohne Betreuungsbedarf, niemals zur Gewährung eines Pflegegeldes führen kann. Hingegen sind die Betreuungsmaßnahmen wie ausgeführt demonstrativ aufgezählt, weshalb grundsätzlich auch andere Bedarfslagen im Rahmen des Pflegebedarfes Anerkennung finden können (Pfeil BPGG 91; ebenso SSV-NF 9/66).
Was nun die hier allein strittige Notwendigkeit einer Begleitung des Kindes auf dem Schulweg betrifft, so sind die dabei erforderlichen Verrichtungen nicht der Betreuung (§ 1 EinstV), sondern der Hilfe (§ 2 EinstV) zuzurechnen. Diese Verrichtungen anderer Personen betreffen nämlich nicht den persönlichen, sondern den sachlichen Lebensbereich und gehören nach Auffassung des Obersten Gerichtshof zur Mobilitätshilfe im weiteren Sinn.
Die unter dem Begriff "Mobilitätshilfe" gemeinten Verrichtungen werden zwar von den Einstufungsverordnungen zum Teil der Betreuung (Mobilitätshilfe im engeren Sinn), zum Teil aber der Hilfe zugeordnet (Mobilitätshilfe im weiteren Sinn). Was unter Mobilitätshilfe im "engeren" und solcher im "weiteren" Sinn verstanden werden soll, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Zur Betreuung können Maßnahmen der Mobilitätshilfe nur gehören, wenn deren Unterbleiben von pflegebedürftigen Menschen der Verwahrlosung aussetzte. Diese Gefahr sah der Verordnungsgeber offenbar beim Unterbleiben von folgenden Verrichtungen als gegeben an: Aufstehen und Zubettgehen, Stehen und Treppensteigen, also bei allen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Ortswechseln im häuslichen Bereich sowie bei allen im Ablauf des täglichen Lebens vorkommenden Lagewechseln, weiters bei der Hilfe beim An- und Ablegen von Körperersatzstücken, die der Förderung der Mobilität dienen. Dieser Katalog ist daher auf den häuslichen Bereich ausgerichtet. Der diesbezügliche Bedarf ist im konkreten Einzelfall festzustellen. Ein fixer Zeitwert von 10 Stunden monatlich ist dagegen für jene Mobilitätshilfe "im weiteren Sinn" zu veranschlagen, die im Sinne des § 2 Abs 1 EinstV zur Sicherung der Existenz erforderlich ist. Nach der offenkundigen Auffassung der Verordnungsgeber (Bundesminister für Arbeit und Soziales, Landesregierung) zählen dazu insbesondere die Begleitung zum Arzt oder zur Therapie. Auch die Beschaffung notwendiger Bedarfsgüter des täglichen Lebens ist hier zu subsumieren; es muß sich aber um Gegenstände handeln, die nicht bereits einer anderen Gruppe von Hilfsverrichtungen zugeordnet sind wie zB Nahrungsmittel, Medikamente oder Heizmaterial. In der Sache geht es also um die Begleitung der pflegebedürftigen Person bei unbedingt erforderlichen Verrichtungen außer Haus (vgl dazu SSV-NF 8/79 mwN).
Der Auffassung des Berufungsgerichtes, daß es sich bei der Begleitung eines Kindes auf dem Schulweg um Betreuungsmaßnahmen handle, die in § 1 EinstV nicht aufgezählt seien, kann daher nicht beigestimmt werden. Vielmehr liegen Hilfsverrichtungen im Sinne des § 2 EinstV vor, die aber infolge der bereits dargestellten taxativen Aufzählung nur der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn zugerechnet werden können. Für diese Mobilitätshilfe ist aber nach § 2 Abs 3 EinstV ein - auf einen Monat bezogener - fixer Zeitwert von 10 Stunden anzunehmen. Wie es dem Wesen einer Pauschalierung entspricht, ist das Bedarfsausmaß hier nicht konkret zu prüfen (Pfeil, Pflegevorsorge 186, 188). Für die Zuerkennung des betreffenden pauschalierten Bedarfes ist es also unerheblich, ob im konkreten Fall mit 10 Stunden das Auslangen gefunden werden kann. Da diese Pauschalierung jedoch auch als nach unten fixer Wert anzusehen ist, muß sie ebenso gelten, wenn im Einzelfall für die betreffende Verrichtung unter Umständen mit einem geringeren Ausmaß an Hilfe das Auslangen gefunden werden könnte. Die Notwendigkeit auf derartige subjektive Besonderheiten einzugehen, soll durch die Pauschalwerte im Sinne des § 4 Abs 3 Z 3 BPGG bzw NÖPGG gerade vermieden werden. Bereits dem Gesetz ist somit zu entnehmen, und die Einstufungsverordnungen haben dies lediglich umgesetzt, daß bei Hilfsverrichtungen keine konkret-individuelle Prüfung anzustellen ist (Pfeil BPGG 88 f; SSV-NF 8/74, 8/104 ua). Was die Begleitung auf dem Schulweg anbelangt, so kann der hier vertretenen Auffassung auch nicht entgegengehalten werden, daß nach der Definition des § 2 EinstV unter Hilfe "aufschiebbare" Verrichtungen anderer Personen zu verstehen sind. Damit soll nämlich nur ausgedrückt werden, daß die hier betroffenen Verrichtungen eine gewisse zeitliche Planung und Vorausschau ermöglichen, ein Kriterium, das hinsichtlich der regelmäßigen Begleitung auf einem Schulweg ebenso gegeben ist wie etwa hinsichtlich einer regelmäßigen Begleitung zu therapeutischen Maßnahmen oder auch hinsichtlich der Beheizung des Wohnraumes, die in der kalten Jahreszeit unter Umständen auch täglich zu erfolgen hat und insoweit als nicht "aufschiebbar" angesehen werden könnte.
Klammert man aber den von den Vorinstanzen zu Unrecht angenommenen Pflegebedarf von 19 Stunden für die Begleitung des Kindes auf dem Schulweg aus und subsumiert man diese Verrichtung unter der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn, dann ergibt sich klar, daß der für die Zuerkennung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 1 erforderliche Mindestpflegebedarf von mehr als 50 Stunden monatlich nicht erreicht wird. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Pflegegeldes nach § 4 NÖPGG liegen nicht vor. In Stattgebung der Revision der beklagten Partei waren daher die Urteile der Vorinstanzen im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 1 ASGG, wonach der Versicherungsträger die Kosten, die ihm durch das Verfahren erwachsen sind, ohne Rücksicht auf dessen Ausgang selbst zu tragen hat. Nach § 23 a Abs 2 NÖPGG sind die Bestimmungen des ASGG, die sich auf Versicherungsträger beziehen, im Gerichtsverfahren auf den Pflegegeldträger anzuwenden. Da auch die Voraussetzungen des § 77 Abs 3 ASGG nicht gegeben sind, besteht keine Grundlage dafür, die klagende Partei zum Ersatz der Revisionskosten zu verpflichten.
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