OGH 1Ob590/95

OGH1Ob590/9527.7.1995

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Christopher B*****, infolge Revisionsrekurses des Minderjährigen, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien als Unterhaltssachwalter, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgerichtes vom 9.Mai 1995, GZ 44 R 218/95-113, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Favoriten vom 24.Februar 1995, GZ 1 P 287/87-107, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung des Verfahrens aufgetragen.

Text

Begründung

Der Vater des Minderjährigen leidet „an einer psychischen Krankheit“. Seit 9.September 1993 war es ihm nicht möglich, „einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erlangen“. Er hatte bisher für sein Kind eine monatliche Unterhaltsleistung von S 1.200,-- zu erbringen.

Mit Schriftsatz vom 2.November 1994, der am 4.November 1994 beim Erstgericht einlangte, beantragte die offenbar zur AZ 19 SW 20/92 des Bezirksgerichtes Donaustadt bestellte Sachwalterin des Vaters, diesen „von der Bezahlung von Alimentationsleistungen ... für die Dauer seiner Einkommenslosigkeit zu entbinden“. Dieses Begehren wurde im wesentlichen damit begründet, der Vater des Minderjährigen erhalte durch das Sozialreferat Geldaushilfen zur Deckung seines Lebensbedarfes in der Höhe von monatlich S 4.640,-- und habe davon den Mietzins für seine Wohnung und die Energiekosten zu bezahlen; außerdem habe er „eine weitere Sorgepflicht“ für ein zweites Kind (ON 93).

Das Erstgericht sprach aus, daß der Vater für den Unterhalt des Minderjährigen „anstelle des ihm mit hg. Beschluß vom 31.8.1988, ON 19, auferlegten Betrages von mtl. S 1.200,-- für die Zeit vom 9.9.1993 bis 3.11.1994 nur einen solchen von mtl. S 500,-- ... zu bezahlen“ habe und „ab 4.11.1994 von weiteren Unterhaltsleistungen enthoben“ werde, weil dessen „Leistungsfähigkeit nicht gegeben“ sei.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluß und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Es erwog im wesentlichen: Es könnten auch Sozialhilfeleistungen einer Unterhaltsbemessung zugrunde gelegt werden. Die Unterhaltsbemessungsgrundlage des Jahres 1988 könne jedoch nicht annähernd „mit dem Sozialhilfe-Unterstützungsbetrag von (behauptet) S 7.174,-- monatlich gleichgesetzt werden“. Der Betrag von S 7.500,-- im Jahr 1988 entspräche heute einer Bemessungsgrundlage von zumindest S 10.000,- -. Das Unterhaltsexistenzminimum habe im Jahr 1994 S 6.600,-- betragen und sei für das Jahr 1995 mit S 6.750,-- anzunehmen. Diese Beträge dienten der „Deckung der Mindestbedürfnisse“ des Unterhaltspflichtigen und könnten „durch Unterhaltsbelastungen nur geringfügig unterschritten werden“; dieser Rahmen von „größenordnungsmäßig etwa S 500,- -“ lasse sich im vorliegenden Fall jedoch nicht ausschöpfen, weil der Vater „ohnedies weit weniger an Mitteln als das Unterhaltsexistenzminimum“ beziehe. In den Geldaushilfen an den Vater sei überdies ein „Mietzuschuß enthalten“, der zur Deckung des monatlichen Mietzinses von S 2.400,53 heranzuziehen sei. Es bestehe daher keine Möglichkeit mehr, den Vater mit Unterhaltsleistungen zu belasten.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

Es entspricht ständiger Rechtsprechung, daß jeder Unterhaltsverpflichtung die Umstandsklausel innewohnt und der Unterhalt bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse neu zu bemessen ist (ÖA 1994, 26 = EFSlg. 71.462; EFSlg 65.742; EFSlg 43.108 ua). Der Oberste Gerichtshof hat aber auch schon ausgesprochen, daß die seinerzeitige Relation zwischen Unterhaltsleistung und Einkommen für die Neubemessung dann keine Rolle spielt, wenn die Änderung der Verhältnisse - wie hier - nicht oder nicht nur in einer Änderung des Einkommens des Unterhaltspflichtigen besteht (1 Ob 550/94; ÖA 1994, 26; EFSlg 62.575).

Vorweg ist zu klären, ob ein Unterhaltspflichtiger, dessen einziges Einkommen, wie auch im vorliegenden Fall behauptet wird, der Empfang von Sozialhilfe ist, überhaupt zu einer Unterhaltsleistung verpflichtet werden kann. Die Rekursgerichte vertraten bisher einerseits die Ansicht, es sei auch von der Sozialhilfe Unterhalt zu leisten (zB EFSlg 53.151), andererseits wurde ausgesprochen, daß ein Sozialhilfeempfänger zu einer Unterhaltsleistung nicht fähig sei (zB EFSlg 53.152; 50.378; EFSlg 44.933). Purtscheller/Salzmann (in: Unterhaltsbemessung Rz 223) folgten letzterer Ansicht. Der erkennende Senat deutete allerdings bereits in der Entscheidung 1 Ob 559/92 (EFSlg 68.035) an, daß auch Sozialhilfe als Einkommen zu betrachten sei, weil dort ausgeführt wurde, daß sich ein Unterhaltspflichtiger für den Fall des Unterlassens der Antragstellung in Ansehung „ihm gebührender Leistungen (aus Sozialhilfe ...)“ im Sinne der Anspannungstheorie zumindest ein ihm mögliches Einkommen für die Unterhaltsleistung anrechnen lassen müsse. Es unterblieb aber noch ein ausdrücklicher Ausspruch, daß Leistungen aus der Sozialhilfe tatsächlich ein für die Unterhaltsbemessung heranzuziehendes Einkommen darstellten. In der Entscheidung 1 Ob 550/94 wurde sodann klargestellt, daß auch Sozialhilfeleistungen als Einkommen des Unterhaltspflichtigen anzusehen seien und der Wortlaut des § 8 Abs.1 WSHG dieser Ansicht nicht entgegenstehe. Die Sozialhilfe habe wie die Ausgleichszulage oder Notstandshilfe subsidiären fürsorgerechtlichen Charakter und solle die Führung eines menschenwürdigen Lebens ermöglichen. Sozialhilfezahlungen fielen in die freie Verfügbarkeit des Beziehers und dienten nicht der Abgeltung eines bestimmten Sonderbedarfs. Sie seien dann aber ebenso wie die Notstandshilfe oder Ausgleichszulage als Einkommen der Unterhaltsbemessung zugrunde zu legen. Dieser Ansicht, an der festzuhalten ist, folgte auch der dritte Senat (3 Ob 160, 161/94). Das Rekursgericht ging also insoweit, wenn auch ohne nähere Erörterung, richtig davon aus, daß Sozialhilfeleistungen für die Unterhaltsbemessung heranzuziehen sind.

Nicht zu folgen vermag der erkennende Senat jedoch der bloß kursorisch begründeten Ansicht des Rekursgerichtes, vom „Unterhaltsexistenzminimum“ könnten nur noch etwa S 500,-- abgeschöpft werden. Die dabei für die Jahre 1994 und 1995 als Unterhaltsexistenzminima genannten Beträge legen nahe, daß sich diese Ausführungen nur auf § 291b EO beziehen. Damit wich aber das Rekursgericht von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ab, daß der gemäß § 291b EO zu ermittelnde Betrag keine starre Untergrenze für die Durchsetzbarkeit gesetzlicher Unterhaltsansprüche bilden kann, weil dieser Richtwert gemäß § 292b EO vom Exekutionsgericht auf Antrag angemessen herabzusetzen ist, wenn die laufenden gesetzlichen Unterhaltsforderungen durch die Exekution nicht zur Gänze hereingebracht werden können (EFSlg 70.818; RZ 1994/57; 3 Ob 5/94; 4 Ob 556/94; 2 Ob 569/94; 2 Ob 576/94; 9 Ob 507/95). Gemäß § 292b EO hat dem Verpflichteten ein Betrag zu verbleiben, der zur Erhaltung seiner Körperkräfte und seiner geistigen Persönlichkeit notwendig ist (RZ 1994/57; 3 Ob 5/94; 2 Ob 569/94; 2 Ob 576/94). Dabei ist dem Gesetz nicht zu entnehmen, daß die angemessene Herabsetzung des Freibetrages ihre Grenze dann finde, wenn nicht einmal der laufende Unterhalt des Kindes zur Gänze hereingebracht werden könnte. Diese Grundsätze eröffnen für die Gerichte einen Ermessensspielraum bei der Festlegung des unpfändbaren Freibetrages (RZ 1994/57; 3 Ob 5/94). Der Gesetzgeber hat nämlich durch § 292b EO zum Ausdruck gebracht, daß Unterhaltsforderungen Priorität genießen (2 Ob 569/94; 2 Ob 576/94). Ein pflichtbewußter Vater würde seine Kinder im Normalfall ebenso an seinen - wenngleich kärglichen - Einkommensverhältnissen teilhaben lassen (1 Ob 550/94; 2 Ob 569/94; 2 Ob 576/94).

Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren Feststellungen zu treffen haben, welche monatlichen Sozialhilfeleistungen der unterhaltspflichtige Vater seit September 1993 bezog und derzeit erhält (vgl ON 111 für Sozialhilfezahlungen bis zum 28.März 1995). Es werden aber auch die Lebensverhältnisse des Unterhaltsschuldners zu klären sein. Dieser brachte nämlich in seinem Antrag auf Entbindung von künftigen Unterhaltsleistungen vor, er befinde sich „immer wieder in stationärer Pflege des Psychiatrischen Krankenhauses“. Soweit er etwa während solcher Perioden für seinen eigenen Lebensunterhalt nicht selbst finanzielle Vorsorge zu treffen hatte und hat, wird die gemäß § 292b EO nach gerichtlichem Ermessen festzusetzende Untergrenze der Belastbarkeit niedriger als im gegenteiligen Fall liegen. In der Entscheidung 3 Ob 5/94, die einen Ehegattenunterhalt zum Gegenstand hatte, wurde zB der Freibetrag gemäß § 292b EO bei einem monatlichen Nettopensionseinkommen des Unterhaltspflichtigen von S 6.619,-- mit S 3.619,-- festgesetzt. Unbeachtet blieb bisher aber auch die Behauptung des Antragstellers, er habe noch „eine weitere Sorgepflicht“ (AZ 5 P 147/94 des Bezirksgerichtes Liesing). Zu prüfen wird daher auch sein, ob und bejahendenfalls in welcher Höhe eine solche Unterhaltspflicht tatsächlich besteht. Erst wenn die Einkommens- und Lebensverhältnisse sowie alle Unterhaltspflichten des Vaters des Minderjährigen erhoben und festgestellt sein werden, wird sich verläßlich beurteilen lassen, von welchem gemäß § 292b EO als Untergrenze festzulegenden Betrag auszugehen sein wird, der dem unterhaltspflichtigen Vater jedenfalls zu verbleiben hat. Ist vom Schuldner mehr als ein Unterhaltsanspruch zu befriedigen und reicht der nach Festsetzung des Existenzminimums gemäß § 291b EO verbleibende Betrag nicht aus, um die laufenden Unterhaltsansprüche zu decken, müssen sich nicht nur alle Unterhaltsberechtigten einen anteiligen Abzug gefallen lassen, sondern es haben sich der Unterhaltsschuldner und die Unterhaltsberechtigten auch den Fehlbetrag angemessen zu teilen (EFSlg 70.818).

Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.

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