OGH 2Ob576/94

OGH2Ob576/9410.11.1994

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am 7.Jänner 1973 geborenen Andrea W*****, vertreten durch Dr.Harald Heinrich, Rechtsanwalt in Salzburg, infolge deren Revisionsrekurses gegen den Beschluß des Landesgerichtes Salzburg als Rekursgericht vom 27.Juli 1994, GZ 22a R 227/94-82, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Salzburg vom 11.April 1994, GZ 4 P 542/84-77, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die Antragstellerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Begründung

Der Vater der Antragstellerin ist aufgrund des Beschlusses des Bezirksgerichtes Salzburg vom 22.9.1988 zur Leistung eines monatlichen Unterhaltsbeitrages von 1.700,-- S seit 1.9.1988 verpflichtet. Dieser Entscheidung lag das Einverständnis ihrer Mutter zu einem Angebot des Vaters zugrunde.

Am 11.9.1991 beantragte Minderjährige die Erhöhung der Unterhaltsleistung auf 3.700,-- S ab 1.10.1991.

Der Vater sprach sich dagegen aus und brachte vor, lediglich Sondernotstandshilfe zu beziehen und um Frühpensionierung angesucht zu haben; er beziehe lediglich einen Pensionsvorschuß von monatlich ca. 6.000,-- S.

Mit Beschluß vom 10.12.1992 verpflichtete das Erstgericht den Vater zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltes von 2.600,-- S; das Mehrbegehren auf Zahlung von 1.100,-- S wurde abgewiesen.

Während der abweisende Teil dieser Entscheidung in Rechtskraft erwuchs, wurde der Beschluß in seinem übrigen Umfang aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung aufgetragen.

Nach Verfahrensergänzung verpflichtete das Erstgericht den Vater nunmehr wiederum zur Leistung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 2.600,-- S seit 1.10.1991, wobei es im wesentlichen von folgenden Feststellungen ausging:

Der Vater der (nunmehr großjährigen) Andrea W***** ist seit 1.1.1982 beim Arbeitsamt S***** als arbeitslos gemeldet. Er bezog vom 1.11.1991 bis 31.12.1991 eine Notstandshilfe von 261,20 S täglich und vom 1.1. bis 14.7.1992 eine solche von täglich 271,60 S. Vom 30.8.1992 bis 31.12.1992 bezog er einen AL-Pensionsvorschuß von täglich 249,80 S und vom 1.1.1993 bis 16.1.1993 einen solchen von 264,30 S; vom 17.1.1993 bis 15.1.1994 wurde ihm ein NH-Pensionsvorschuß von 264,30 S täglich bewilligt.

Die vom Arbeitsamt 1984 initiierte Vermittlung einer Beschäftigung als Spüler in einem Autobahnrestaurant lehnte der Vater als nicht seiner bisherigen Tätigkeit entsprechend ab.

Die vom Vater für seine Tätigkeit als Statist bei den S***** Festspielen bezogenen Einkünfte wurden von der Notstandshilfe bzw. vom AL-Pensionsvorschuß in Abzug gebracht.

Mit Urteil vom 9.10.1991 wurde eine Klage auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension abgewiesen, weil der Unterhaltspflichtige aufgrund seines Gesundheitszustandes und seiner Ausbildung als in der Lage erachtet wurde, einer Beschäftigung als Bürohilfskraft oder Telefonist nachzugehen.

Zuletzt hat die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten mit Bescheid vom 28.10.1992 seinen Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension abgewiesen; eine diesbezügliche Klage wurde mit Urteil vom 19.5.1993 abgewiesen, weil Arbeitsunfähigkeit nicht vorliege und der Unterhaltsschuldner Tätigkeiten der Berufsgruppe 2 (zB Telefonist, Bürohilfskraft, Werkstättenschreiber) ausüben könne.

Es steht aber fest, daß der Vater wegen a) mangelnder Fachkenntnisse und EDV-Erfahrung, b) Langzeitarbeitslosigkeit seit über 10 Jahren und somit Arbeitsentwöhnung, c) altersbedingter Leistungsminderung,

  1. d) generell hoher und derzeit noch zunehmender Arbeitslosigkeit und
  2. e) äußerst schwerer Vermittelbarkeit älterer Arbeitnehmer (über 50 Jahre) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar ist. Zu Beginn der beinahe 12jährigen Arbeitslosigkeit hätte aber noch die reale Chance bestanden, eine geeignete Beschäftigung zu erlangen.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände sei dem Unterhaltspflichtigen die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung wie zB als Telefonist oder Bürohilfskraft zumutbar, woraus er ein monatliches Nettoeinkommen von mindestens 12.000,-- S beziehen könnte.

In Anwendung der "Anspannungstheorie" vertrat das Erstgericht die Ansicht, es könne nicht zum Nachteil des Kindes ausschlagen, wenn der unterhaltspflichtige Vater die mangelnde Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt selbst verschuldet habe, weil er sich nicht um eine geeignete Arbeitsstelle bemühte und keine Eigeninitiative entwickelte; er habe sogar eine vom Arbeitsamt vermittelte Arbeitsstelle als nicht adäquat abgelehnt.

Das vom Unterhaltspflichtigen angerufene Rekursgericht änderte die Entscheidung dahingehend ab, daß der Unterhaltserhöhungsantrag abgewiesen wurde; der ordentliche Revisionsrekurs wurde für zulässig erklärt.

Das Rekursgericht führte aus, daß zwar bei einem Verdienst von 12.000,-- S ein Unterhaltsbeitrag von 2.640,-- S bei Unterhaltsbemessung nach der Prozentsatzkomponente angemessen sei, doch seien im vorliegenden Fall die Voraussetzungen einer Anspannung des Vaters nicht gegeben. Bei längerer Arbeitslosigkeit könne die Anspannungstheorie nicht angewendet werden, ohne zu prüfen, in welchem Berufszweig und mit welchem Einkommen der Unterhaltspflichtige vermittelt werden könnte, es sei somit auch die Arbeitsmarktlage zu beachten. Auch Haftentlassenen sei ein mehrmonatiger Zeitraum zuzubilligen, um einen neuen Arbeitsplatz zu erlangen bzw die Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen. Die Tatsache der Entlassung durch den Dienstgeber oder der Verbüßung einer Haft könne für sich gesehen nicht im Wege einer Verschuldenszuweisung die Anwendbarkeit des Anspannungsgrundsatzes begründen.

Wenngleich im vorliegenden Fall die mangelnde Vermittelbarkeit aufgrund der Arbeitsentwöhnung des Vaters das Resultat einer jahrelang vergebenen Chance, sich in die Arbeitswelt wieder einzugliedern, sei, sei eine Anspannung auf ein fiktives Einkommen nicht möglich, weil keine Vermittelbarkeit mehr bestehe. Die Anspannung dürfe nicht zu einer bloßen Fiktion führen, sondern müsse immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolge, unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage zu erzielen in der Lage wäre.

Entgegen der Ansicht des Erstgerichtes sei die Anwendung der Anspannungstheorie nicht gerechtfertigt, weil der Unterhaltspflichtige nicht mehr vermittelt werden könne. Es sei somit von einer Bemessungsgrundlage von rund 8.000,-- S auszugehen, woraus sich ein Unterhaltsbeitrag von monatlich 1.700,-- S ergebe, was auch der bestehenden Unterhaltsverpflichtung entspreche.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der Antragstellerin mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, daß der Beschluß des Erstgerichtes bestätigt werde.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt.

Die Antragstellerin vertritt in ihrem Rechtsmittel die Ansicht, es seien die Voraussetzungen dafür, den Vater anzuspannen, gegeben, weil er sich trotz der ihn treffenden Sorgepflicht während 12jähriger Arbeitslosigkeit nie um einen Arbeitsplatz gekümmert habe. Der Vater habe bewußt einen Arbeitsplatz nicht gesucht, da die Aufnahme einer geregelten Arbeit offensichtlich seiner persönlichen Lebensansicht und seinen Interessen widersprochen habe. Dies dürfe aber nicht zu Lasten des Unterhaltsberechtigten gehen.

Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden:

Gemäß § 140 Abs 1 ABGB haben die Eltern nach Kräften zur Deckung des Bedarfes des Kindes beizutragen. Sie müssen ihre gesamten persönlichen Möglichkeiten, besonders ihre Leistungskraft unter Berücksichtigung ihrer Ausbildung, ihrer beruflichen Möglichkeiten und ihrer Fähigkeiten ausschöpfen, um ihrer Unterhaltspflicht nachkommen zu können. Mit der Anspannung der Leistungskraft des Unterhaltspflichtigen kann der Unterhalt auf der Grundlage eines zwar tatsächlich nicht erzielten, aber wohl erzielbaren Einkommens bemessen werden (Pichler in Rummel2, Rz 6 zu § 140; RZ 1991/25). Die Anspannung des Unterhaltsschuldners auf ein von ihm tatsächlich nicht erzieltes Einkommen setzt aber voraus, daß ihn ein Verschulden, also zumindest leichte Fahrlässigkeit daran trifft, daß er keine Erwerbstätigkeit ausübt (3 Ob 607/90; NRsp 1994/194). Die Anspannung darf nicht zu einer bloßen Fiktion führen, sondern muß immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolgt, unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage zu erzielen in der Lage wäre (EFSlg 67.952; ZfRV 1993, 246; 7 Ob 528/94). So wie auch der wegen eines Deliktes - sei es auch wegen des Deliktes der Verletzung der Unterhaltspflicht - in Haft befindliche Unterhaltsschuldner nicht auf sein verlorenes Einkommen angespannt werden kann, weil ihm die Teilnahme am Arbeitsmarkt und die Erzielung eines entsprechenden Einkommens während dieser Zeit jedenfalls unmöglich ist (7 Ob 528/94), ist auch im vorliegenden Fall eine Anspannung des unterhaltspflichtigen Vaters auf ein höheres Einkommen nicht möglich, weil er nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanzen in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolgt, ein Einkommen von 12.000,-- S nicht erzielen hätte können.

Es sind daher, wie das Rekursgericht zutreffend ausgeführt hat, die Voraussetzungen für eine Anspannung des Unterhaltsschuldners nicht gegeben.

Dessenungeachtet ist aber die Entscheidung des Erstgerichtes zutreffend, was im Zuge der allseitigen rechtlichen Prüfung wahrzunehmen war:

Bei der Unterhaltsbemessung nach § 140 ABGB kommt es vor allem auf die Bedürfnisse des Unterhaltsberechtigten an; es ist aber auch die konkrete Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen zu berücksichtigen. Einen Anhaltspunkt dafür, nach welchen Kriterien der Beitrag der Eltern zu ermitteln ist, gibt das Gesetz durch Verknüpfung der Bedürfnisse des Kindes mit den Lebensverhältnissen der Eltern (JBl 1991, 40; 1 Ob 588/93 ua). Ein konkretes Berechnungssystem kann dem Gesetz, das die Bemessungskriterien nur durch unbestimmte Rechtsbegriffe umschreibt, nicht entnommen werden. Die Bemessung des Unterhalts bloß in Höhe des Regelbedarfs ohne Bedachtnahme auf die konkreten Lebensverhältnisse des Unterhaltsschuldners steht mit dem Gesetz nicht im Einklang, weil sie die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners nicht berücksichtigt. Hingegen stellt die Bemessung des Unterhalts nach bestimmten nach Altersgrenzen abgestuften Hundertsätzen des Einkommens des Unterhaltsschuldners, durch die die Gleichbehandlung gleichartiger Fälle gewährleistet werden soll, an sich für durchschnittliche Fälle eine brauchbare Handhabe dar, um den Unterhaltsberechtigten an den Lebensverhältnissen des Unterhaltsschuldners angemessen teilhaben zu lassen (RZ 1991/26; 1 Ob 512/94 ua). So wie aber bei überdurchschnittlichem Einkommen des Unterhaltsschuldners die undifferenzierte Handhabung der Prozentkomponente die Gefahr einer Überalimentierung in sich birgt und ein solches Einkommen nicht etwa dazu führen darf, daß der Unterhaltsberechtigte über die im § 140 ABGB verankerte Angemessenheitsgrenze hinaus alimentiert wird (RZ 1991/26; 1 Ob 512/94 ua), ist die Gefahr einer Unteralimentierung trotz vorhandener Leistungsfähigkeit bei undifferenzierter Handhabung der Prozentsatzmethode dann gegeben, wenn den Unterhaltsschuldner keine weiteren Unterhaltspflichten treffen. In derartigen Fällen ist daher primär auf die Bedürfnisse des Kindes abzustellen (2 Ob 548/94). Die Ansicht des Rekursgerichtes, im vorliegenden Fall sei die Unterhaltspflicht des Vaters nach der Prozentsatzkomponente zu ermitteln, ist daher im Hinblick darauf, daß den Unterhaltsschuldner keine weiteren Unterhaltspflichten treffen und der Regelbedarf der Antragstellerin weitaus höher ist als die sich unter Anwendung der Prozentsatzkomponente ergebende Summe, nicht zutreffend. Vielmehr erscheint der vom Erstgericht zugesprochene Unterhaltsbeitrag von 2.600 S im Hinblick auf eine Bemessungsgrundlage von rund 8.000 S durchaus angemessen. Dieser Betrag übersteigt auch nicht die Belastbarkeitsgrenze des Unterhaltsschuldners. Für die Ermittlung dieser Belastbarkeitsgrenze ist der Freibetrag im Sinne des § 292b EO maßgeblich, wonach dem Unterhaltsschuldner nur jener Betrag zu verbleiben hat, der zur Erhaltung seiner Körperkräfte und seiner geistigen Persönlichkeit notwendig ist (2 Ob 569/94). Auch im Normalfall würde ein ein sehr geringes Einkommen beziehender Vater nur so viel für seinen Unterhalt verbrauchen, als zur Erhaltung seiner Körperkräfte und seiner geistigen Persönlichkeit notwendig ist. Zieht man nun im vorliegenden Fall vom Einkommen des Unterhaltspflichtigen die von der Antragstellerin begehrten Unterhaltsbeiträge ab, so verbleibt ihm ein Betrag von rund 5.400 S, der den zur Erhaltung der Körperkräfte und der geistigen Persönlichkeit notwendigen Betrag übersteigt (vgl. 3 Ob 5/94). Anderseits liegt der zugesprochene Betrag noch erheblich unter dem Regelbedarf der zum Zeitpunkte der Antragstellung über 18 Jahre alten Klägerin.

Es war daher in Stattgebung des Revisionsrekurses der Antragstellerin der Beschluß des Erstgerichtes wiederherzustellen.

Ein Kostenersatz an die Antragstellerin hat aber nicht zu erfolgen, weil ein solcher im Pflegschaftsverfahren nicht vorgesehen ist (EFSlg. 44.428 ua).

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