Normen
StaatsbürgerschaftsrechtsNov 2005
StbG 1985 §10 Abs1 Z2
StbG 1985 §10 Abs3 Z2
StbG 1985 §20
StbG 1985 §20 Abs1
StbG 1985 §20 Abs3
StbG 1985 §64a Abs11
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RO2021010009.J00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Vorgeschichte
1 Am 20. Juni 2011 stellte der Mitbeteiligte, ein türkischer Staatsangehöriger, bei der Wiener Landesregierung (Amtsrevisionswerberin) den Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft.
2 Mit Bescheid der Amtsrevisionswerberin vom 16. Oktober 2015 wurde dem Mitbeteiligten die österreichische Staatsbürgerschaft für den Fall zugesichert, dass er binnen zwei Jahren den Nachweis über das Ausscheiden aus dem türkischen Staatsverband erbringt.
3 Mit Bescheid der Amtsrevisionswerberin vom 18. Mai 2020 wurde dieser Zusicherungsbescheid gemäß § 20 Abs. 2 iVm § 10 Abs. 1 Z 2 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) idF vor BGBl. I Nr. 38/2011 widerrufen und der Verleihungsantrag des Mitbeteiligten gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 StbG idF vor BGBl. I Nr. 38/2011 abgewiesen.
Den Widerruf der Zusicherung stützte die Amtsrevisionswerberin darauf, dass der Mitbeteiligte bei der Ausfolgung der Zusicherung der Verleihung (am 20. Oktober 2015) erklärt habe, dass er in der Zwischenzeit weder eine gerichtlich noch „verwaltungsstrafrechtlich“ strafbare Handlung gesetzt habe. Im fortgesetzten Verfahren sei der Amtsrevisionswerberin eine rechtskräftige ungetilgte Verurteilung des Mitbeteiligten (wegen §§ 15, 83 Abs. 1 StGB und § 107 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten) mitgeteilt worden. Der Mitbeteiligte habe in Wien eine näher bezeichnete Person „gefährlich mit dem Tod bedroht, um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er ihm ein Steakmesser an den Hals hielt, auf ihn einschlug und ihn fragte, ob er ihn umbringen soll“ sowie eine weitere näher bezeichnete Person „am Körper zu verletzen versucht, indem er ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzte“ (so die Feststellungen des Verwaltungsgerichts).
4 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht).
Angefochtenes Erkenntnis
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Beschwerde des Mitbeteiligten stattgegeben und der Bescheid der Amtsrevisionswerberin vom 18. Mai 2020 behoben (I.). Eine ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt (II.)
6 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der Mitbeteiligte habe rechtzeitig die Genehmigung zur Entlassung aus dem türkischen Staatsverband (nach Art. 25 des türkischen Staatsangehörigengesetzes Nr. 5901 vom 29. Mai 2009) bei der Amtsrevisionswerberin vorgelegt, sodass der Zusicherungsbescheid (vom 16. Oktober 2015, erlassen am 20. Oktober 2015) „gültig“ geblieben sei (Verweis auf VwGH 20.3.2013, 2013/01/0032).
7 Vorliegend sei die Übergangsbestimmung des § 64a Abs. 11 StbG anzuwenden. Das Verfahren sei daher nach der Rechtslage vor der Novelle BGBl I Nr. 38/2011 zu Ende zu führen, weil das StbG ein einheitliches Verleihungsverfahren vor Augen habe und der Widerruf der Zusicherung und die Abweisung des Verleihungsantrages eine notwendige Einheit darstelle.
8 Mit dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) vom 29. September 2011, G 154/10, (VfSlg. 19.516) sei jene Fassung des § 20 Abs. 2 StbG, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens „des BGBl. I Nr. 38/2011“ in Geltung gestanden habe, nach Ablauf der gemäß Art. 140 Abs. 5 B‑VG gesetzten „Reparaturfrist“ mit 31. Oktober 2012 aufgehoben worden. Eine Neuregelung des § 20 Abs. 2 StbG sei erst mit der Novelle BGBl. I Nr. 16/2013 und somit denklogisch nach dem Inkrafttreten der Novelle BGBl. I Nr. 38/2011 erfolgt. Somit könne diese Neuregelung im vorliegenden Fall wegen der Übergangsbestimmung des § 64a Abs. 11 StbG nicht zur Anwendung gelangen.
9 Die Verurteilung des Revisionswerbers, die als Grund für den Widerruf der Zusicherung herangezogen worden sei, sei mit 24. August 2016 und somit nach dem Ablauf der vom VfGH im genannten Erkenntnis festgelegten Frist rechtskräftig geworden. Somit liege vorliegend kein Tatbestand („Sachverhalt“) vor, auf den gemäß Art. 140 Abs. 7 Satz 2 und 3 B‑VG die vom VfGH aufgehobene Bestimmung des § 20 Abs. 2 StbG weiterhin anzuwenden wäre. Vielmehr sei der vorliegende Fall nach der „bereinigten Rechtslage“ vor dem Inkrafttreten der Novelle BGBl. I Nr. 38/2011 ‑ und somit ohne die Bestimmung des § 20 Abs. 2 StbG ‑ zu beurteilen.
10 Somit mangle es vorliegend wegen § 64a Abs. 11 StbG an einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage für den Widerruf der Zusicherung.
11 Im vorliegenden Fall habe der Mitbeteiligte die seiner Verurteilung zugrundeliegende Tat (am 26. September 2015) vor Erlassung des Zusicherungsbescheides (am 20. Oktober 2015) begangen und dies in der Niederschrift vom 20. Oktober 2015 verschwiegen.
12 Eine Wiederaufnahme des abgeschlossenen Zusicherungsverfahrens durch das Verwaltungsgericht scheide aus, da § 32 VwGVG keine Möglichkeit biete, durch das Verwaltungsgericht ein auf Ebene der belangten Behörde abgeschlossenes Verfahren wiederaufzunehmen.
13 Andererseits könne ein rechtswidrig gesetzter Widerruf der Zusicherung auch nicht dazu führen, dass dem Einbürgerungswerber die österreichische Staatsbürgerschaft trotz des Vorliegens eines möglichen Wiederaufnahmsgrundes unmittelbar vom Verwaltungsgericht zu verleihen sei und der Amtsrevisionswerberin damit die Möglichkeit zur Wiederaufnahme genommen werde.
14 Sache des Beschwerdeverfahrens sei ausschließlich die Frage der Rechtmäßigkeit des Widerrufsbescheides. Wenn dieser mit Rechtswidrigkeit belastet sei, sei dieser zur Gänze (auch im Hinblick auf die erfolgte Abweisung des Verleihungsantrages) zu beheben.
15 Die Zulässigkeit der ordentlichen Revision begründete das Verwaltungsgericht im Wesentlichen damit, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage fehlt, was „Rechtssache“ des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens im Falle eines Widerrufs der Zusicherung sei, welche das Verwaltungsgericht zu erledigen habe, und wie das Verwaltungsgericht im Falle eines rechtswidrig ergangenen Widerrufbescheides der belangten Behörde vorzugehen habe.
16 Ebenso existiere keine „explizite Rechtsprechung“ zur Rechtsfrage, ob die Übergangsbestimmung des § 64a Abs. 11 StbG auch Verfahren umfasse, die den Widerruf der Zusicherung zum Gegenstand haben bzw. ob infolge des Erkenntnisses VfSlg. 19.516 für derartige Fälle eine Rechtsgrundlage für die Erlassung eines Widerrufsbescheides fehle.
17 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Amtsrevision, die vom Verwaltungsgericht gemäß § 30a Abs. 6 VwGG unter Anschluss der Akten des Verfahrens vorgelegt wurde. Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zulässigkeit
18 Die Amtsrevisionswerberin schließt sich der Zulässigkeitsbegründung des Verwaltungsgerichts an bzw. gibt diese inhaltsgleich wieder.
19 Ergänzend führt sie aus, in diesem Zusammenhang stehe auch die Frage, ob ‑ sollte ein Widerruf in Verfahren nach der Rechtslage vor BGBl. I Nr. 38/2011 tatsächlich nicht zulässig sein ‑ die bereits zugesicherte Staatsbürgerschaft dann auch bei Vorliegen eines absoluten Einbürgerungshindernisses (vorliegend eine Verurteilung iSd § 10 Abs. 1 Z 2 StbG) nach dem rechtzeitigen Nachweis des Ausscheidens aus dem bisherigen Staatsverband (bzw. der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit des Ausscheidens) „verliehen werden muss“.
20 Auch fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob im Falle eines „Herkunftslandes“, welches das Ausscheiden aus dem Staatsverband erst nach dem Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit zulasse, die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft überhaupt zugesichert werden dürfe oder ob die Staatsbürgerschaft in diesen Fällen (unter der Auflage eines späteren Ausscheidens nach § 34 StbG) „direkt“ verliehen werden müsse, da durch die Zusicherung keine Ermöglichung oder Erleichterung des Ausscheidens iSd § 20 Abs. 1 Z 3 StbG vorliege bzw. ob im Falle eines „Herkunftslandes“, welches das Ausscheiden aus dem Staatsverband bereits nach Zusicherung des Erwerbs einer anderen Staatsangehörigkeit zulasse, die Zusicherung der österreichischen Staatsbürgerschaft überhaupt noch aufrecht sei, wenn innerhalb der zweijährigen Frist des § 20 Abs. 1 StbG lediglich eine „Genehmigung des Ausscheidens“ durch die Behörden des Herkunftsstaates, nicht jedoch das Ausscheiden selbst nachgewiesen werde.
21 Die Amtsrevision ist zulässig und begründet.
Nachweis des Ausscheidens
22 Zunächst ist auf die von der Amtsrevision zuletzt aufgezeigte Rechtsfrage einzugehen, ob die Zusicherung der österreichischen Staatsbürgerschaft überhaupt noch aufrecht sei, wenn innerhalb der zweijährigen Frist des § 20 Abs. 1 StbG lediglich eine „Genehmigung des Ausscheidens“ durch die Behörden des Herkunftsstaates, nicht jedoch das Ausscheiden selbst nachgewiesen werde.
23 Im Hinblick auf die Zusicherung der Verleihung normiert der Einleitungssatz des § 20 StbG seit der Stammfassung des StbG gleichbleibend und damit unabhängig von der vorliegend problematisierten Übergangsbestimmung des § 64a Abs. 11 StbG, dass einem Fremden die Verleihung der Staatsbürgerschaft (Erstreckung der Verleihung) zunächst für den Fall zuzusichern ist, dass er binnen zwei Jahren das Ausscheiden aus dem Verband seines bisherigen Heimatstaates nachweist.
24 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes tritt der Zusicherungsbescheid ohne weiteres mit Ablauf von zwei Jahren außer Geltung, wenn der Einbürgerungswerber nicht innerhalb dieser Frist das Ausscheiden aus dem Staatsverband des bisherigen Heimatstaates nachweist. Der Lauf dieser Frist beginnt mit Rechtskraft des Zusicherungsbescheides. Es handelt sich um eine materiell-rechtliche, nicht erstreckbare Frist. Entscheidend ist, dass der Nachweis binnen zwei Jahren erbracht wird. In diesem Fall gilt der Zusicherungsbescheid auch noch nach Ablauf der Frist.
Die Zusicherung ist also in ihrer Gültigkeit von vornherein dadurch bedingt, dass der Einbürgerungswerber innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist (entweder) das Ausscheiden aus dem Verband seines bisherigen Heimatstaates (oder dessen Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit) nachweist. Wird dieser Nachweis nicht erbracht, hat die Behörde ‑ ohne auf den vorangegangenen Zusicherungsbescheid eingehen zu müssen und unter Zugrundelegung des allenfalls in der Zwischenzeit geänderten Sachverhaltes ‑ über den Verleihungsantrag zu entscheiden (vgl. zu allem VwGH 18.6.2014, 2013/01/0052, mwN).
Einzelfallbezogene Beurteilung
25 Diese Rechtslage bedeutet für den vorliegenden Einzelfall Folgendes:
26 Das Verwaltungsgericht führte in diesem Punkt aus, der Mitbeteiligte habe rechtzeitig die „Genehmigung“ zur Entlassung aus dem türkischen Staatsverband (nach Art. 25 des türkischen Staatsangehörigengesetzes Nr. 5901 vom 29. Mai 2009) bei der Amtsrevisionswerberin vorgelegt, sodass der Zusicherungsbescheid (gemeint nach § 20 Abs. 1 Einleitungssatz StbG) „gültig“ geblieben sei. Dazu stellte das Verwaltungsgericht fest, der Mitbeteiligte habe bei der Amtsrevisionswerberin die Genehmigung des türkischen Innenministeriums zur Entlassung aus dem türkischen Staatsverband (sog. „Wechselgenehmigung“) vorgelegt.
27 Die Amtsrevisionswerberin bringt ergänzend vor, der Mitbeteiligte habe damit nicht „die Entlassung selbst“ vorgelegt (gemeint: nachgewiesen).
28 Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte nicht den Nachweis des Ausscheidens nach § 20 Abs. 1 Einleitungssatz StbG erbracht hat, weil er nur die Genehmigung zur Entlassung aus dem türkischen Staatsverband, jedoch nicht den Nachweis der Entlassung aus dem türkischen Staatsverband vorgelegt hat (vgl. zur Verpflichtung des Verwaltungsgerichts, ausländisches Recht in einem ‑ grundsätzlich amtswegigen ‑ Ermittlungsverfahren festzustellen, da der Grundsatz „iura novit curia“ nicht gilt, VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0484, mwN; vgl. im Übrigen zur Entlassung aus dem türkischen Staatsverband Rumpf/Odendahl, Türkei [Stand 24.2.2017] in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe‑ und Kindschaftsrecht, 7, und die Art. 25 bis 27 des ‑ auch vom Verwaltungsgericht zitierten ‑ türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes Nr. 5901 vom 29.5.2009, in Rumpf/Odendahl, aaO, 13). Der Mitbeteiligte hat mit der bloßen Vorlage dieser sog. „Wechselgenehmigung“ auch nicht den Nachweis gemäß § 10 Abs. 3 Z 2 StbG erbracht, dass ihm die für das Ausscheiden aus seinem bisherigen Staatsverband erforderlichen Handlungen nicht möglich oder nicht zumutbar waren (vgl. zur diesbezüglichen Beweislast [arg. „nachweist“] etwa VwGH 7.9.2020, Ra 2020/01/0250, mwN, zu § 14 Abs. 1 Z 1 Passgesetz 1992). Wird der Nachweis des Ausscheidens aus dem Verband seines bisherigen Heimatstaates oder dessen Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit nicht (fristgerecht) erbracht, hat die Behörde ‑ ohne auf den vorangegangenen Zusicherungsbescheid eingehen zu müssen und unter Zugrundelegung des allenfalls in der Zwischenzeit geänderten Sachverhaltes ‑ über den Verleihungsantrag zu entscheiden (vgl. VwGH 18.6.2014, 2013/01/0052, mwN).
29 Damit ist aber der Zusicherungsbescheid nach dem Ablauf der Frist von zwei Jahren ex lege außer Kraft getreten. Da der Zusicherungsbescheid demnach nicht mehr dem Rechtsbestand angehörte, ging auch der erfolgte Widerruf der Zusicherung ins Leere. Die Abweisung des Verleihungsansuchens erfolgte auf Grund des (zwischenzeitig eingetretenen) Verleihungshindernisses gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 StbG zu Recht (vgl. zu allem VwGH 18.6.2014, 2013/01/0052, mwN). Dieses Verleihungshindernis ist seit der Staatsbürgerschaftsrechts‑Novelle 2005, BGBl. I Nr. 37/2006, unverändert geblieben.
30 Bei diesem Ergebnis haben die vom Verwaltungsgericht und in der Amtsrevision weiter aufgeworfenen Fragen nur mehr theoretische Bedeutung. Der Verwaltungsgerichtshof ist zur Klärung von bloß theoretischen Rechtsfragen aber nicht berufen. Dies gilt auch dann, wenn die einem Revisionsfall zugrunde liegende Rechtsfrage für künftige Verwaltungsverfahren bzw. verwaltungsgerichtliche Verfahren von Interesse ist (vgl. etwa VwGH 21.10.2020, Ra 2018/11/0205, mwN).
Ergebnis
31 Aus diesen Erwägungen hat das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 26. Februar 2021
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