VfGH V229/2021

VfGHV229/202115.12.2021

Aufhebung der Wortfolge einer COVID-19-Maßnahmenverordnung betreffend die Untersagung des Betretens von Kinderspielplätzen in Graz mangels Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen; keine Heilung der mangelhaften Dokumentation durch Einbringung von Begründungen nach Verordnungserlassung

Normen

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z1
COVID-19-MaßnahmenG §2
COVID-19-MaßnahmenV des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 03.04.2020 §1
VfGG §7 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2021:V229.2021

 

Spruch:

I. Die Wortfolge "Kinderspielplätze und" in §1 Abs1 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 3. April 2020 betreffend die Untersagung des Betretens von Kinderspielplätzen und Sportplätzen in Graz zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, Z Präs. 027888/2020/0002, kundgemacht im Sonder-Amtsblatt Nr 9 vom 3. April 2020, war gesetzwidrig.

II. Die als gesetzwidrig festgestellte Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.

III. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit seinem auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Steiermark, der Verfassungsgerichtshof möge feststellen,

"dass die Wortfolge 'Kinderspielplätze und' in §1 Abs1 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 03.04.2020, GZ.: Präs. 027888/2020/0002, gesetzwidrig war;

 

in eventu,

 

dass §1 Abs1 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 03.04.2020, GZ.: Präs. 027888/2020/0002, gesetzwidrig war;

 

in eventu,

 

dass §1 Abs1 und Abs2 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 03.04.2020, GZ.: Präs. 027888/2020/0002, gesetzwidrig waren;

 

in eventu,

 

dass §1 und §2 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 03.04.2020, GZ.: Präs. 027888/2020/0002, gesetzwidrig waren."

II. Rechtslage

1. §2 Bundesgesetz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 (COVID‑19-Maßnahmengesetz – COVID‑19‑MG) lautete in der Stammfassung BGBl I 12/2020 wie folgt:

"Betreten von bestimmten Orten

 

§2. Beim Auftreten von COVID‑19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist. Die Verordnung ist

1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,

2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder

3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.

Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken."

2. §2 Bundesgesetz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 (COVID‑19-Maßnahmengesetz – COVID‑19‑MG), BGBl I 12/2020 lautete in der Fassung BGBl I 23/2020 wie folgt:

"Betreten von bestimmten Orten

 

§2. Beim Auftreten von COVID‑19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist. Die Verordnung ist

1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,

2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder

3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.

Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen."

3. Die Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 3. April 2020 betreffend die Untersagung des Betretens von Kinderspielplätzen und Sportplätzen in Graz zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, Z Präs. 027888/2020/0002, kundgemacht im Sonder-Amtsblatt Nr 9 vom 3. April 2020, lautete wie folgt (ohne die Hervorhebungen im Original; die im Hauptantrag angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):

"Auf Grund von §2 Z3 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, BGBl I Nr 12/2020 idF BGBl I Nr 16/2020 (COVID‑19-Maßnahmengesetz), wird verordnet:

 

§1

 

Betretungsverbot

 

(1) Zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 wird das Betreten aller Kinderspielplätze und Sportplätze im Stadtgebiet der Landeshauptstadt Graz untersagt.

(2) Unter Kinderspielplätzen sind sowohl private Kinderspielplätze im Sinn des §10 Steiermärkisches Baugesetz 1995 LGBl Nr 59/1995 idF LGBl Nr 11/2020, als auch öffentliche Kinderspielplätze zu verstehen.

 

§2

 

Ausnahmen vom Betretungsverbot

 

Ausgenommen vom Betretungsverbot sind Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, des Bundesheers, von Rettungsorganisationen und der Feuerwehr.

 

§3

 

Zeitlicher Geltungsbereich

 

Die Verordnung wurde durch Anschlag an der Amtstafel am 03.04.2020 kundgemacht und tritt am selben Tag in Kraft.

 

Für den Bürgermeister:

Die Abteilungsvorständin der Präsidialabteilung

 

Mag.a Verena Ennemoser

elektronisch unterschrieben"

III. Anlassverfahren, Antrag und Vorverfahren

1. Beim Landesverwaltungsgericht Steiermark ist zur Zahl LVwG 30.18‑1308/2021 eine Beschwerde gegen ein Straferkenntnis des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 24. März 2021 anhängig, mit welchem über den Beschwerdeführer gemäß §3 Abs3 COVID‑19‑MG eine Geldstrafe in Höhe von € 600,– und für den Fall, dass diese uneinbringlich ist, eine Ersatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von zwei Tagen und acht Stunden verhängt wurde, weil er am 4. April 2020 um 11.03 Uhr im "******** – Spielplatz", *****************, **** ****, entgegen §2 Z3 COVID‑19‑MG iVm §1 Abs1 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 3. April 2020 betreffend die Untersagung des Betretens von Kinderspielplätzen und Sportplätzen in Graz zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, Z Präs. 027888/2020/0002, einen Kinderspielplatz betreten habe, obwohl zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 das Betreten aller Kinderspielplätze im Stadtgebiet der Landeshauptstadt Graz durch Verordnung des Bürgermeisters vom 3. April 2020 untersagt gewesen sei. Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Steiermark den zu V229/2021 protokollierten Antrag gemäß §139 Abs1 Z1 B‑VG an den Verfassungsgerichtshof.

2. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark führt zur Zulässigkeit seines Antrages aus, es habe die angefochtenen Bestimmungen auf Grund der im Straferkenntnis zugrunde gelegten Tatzeit (4. April 2020) anzuwenden, auch wenn die Verordnung mit 29. April 2020 außer Kraft getreten sei.

3. Seine Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, legt das Landesverwaltungsgericht Steiermark auf das Wesentliche zusammengefasst wie folgt dar:

3.1. Der Verfassungsgerichtshof habe bereits mehrfach ausgesprochen, der Verordnungsgeber habe im Verordnungserlassungsverfahren festzuhalten, auf welcher Informationsbasis die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verordnung sei der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen und die diesen zugrunde liegende aktenmäßige Dokumentation maßgeblich (vgl VfGH 10.3.2021, V573/2020, V574/2020 und V584/2020).

3.2. Dem vom Bürgermeister der Stadt Graz vorgelegten Verordnungsakt würden eine Reihe von Schriftstücke betreffend die vor der angefochtenen Verordnung in Geltung stehende Verordnung, die am 3. April 2020 außer Kraft getreten sei, einliegen. Ermittlungsergebnisse, wie sie vom Verfassungsgerichtshof gefordert würden, seien insbesondere zur angefochtenen Verordnung nicht enthalten. Der Aktenvermerk vom 23. Juli 2021 sei ebenso wie die Datengrundlage betreffend das Infektionsgeschehen vom 28. Juli 2021 und das Schreiben vom 29. Juli 2021 erst nach Anforderung des Verordnungsaktes durch das Landesverwaltungsgericht Steiermark erstellt worden. Das versäumte Ermittlungsverfahren könne jedoch nicht nach der Verordnungserlassung nachgeholt werden (VfGH 21.9.2020, V77/2019), ferner werde der aktenmäßigen Dokumentation nicht durch die Sammlung und Übermittlung von jeglichen zur Verfügung stehenden Daten und Studien zu den Auswirkungen und zur Verbreitung von COVID‑19 entsprochen (VfGH 10.3.2021, V573/2021).

3.3. Mangels Hinweisen auf Entscheidungsgrundlagen sei für das Landesverwaltungsgericht Steiermark sohin nicht nachvollziehbar, auf Grund welcher konkreten Umstände der Verordnungsgeber die getroffenen Regelungen betreffend die Sperre der Kinderspielplätze auch nach dem 3. April 2020 aufrechterhalten habe.

4. Die Partei des Verfahrens vor dem antragstellenden Gericht hat sich diesen Ausführungen vollinhaltlich angeschlossen.

5. Der Bürgermeister der Landeshauptstadt Graz hat als verordnungserlassende Behörde ergänzend Aktenbestandteile betreffend die angefochtene Verordnung vom 3. April 2020 vorgelegt. Daraus sei ersichtlich, dass die Verlängerung der Geltungsdauer der Verordnung auf dem Umstand beruhe, dass auch die Städte Wien und Innsbruck ein entsprechendes Betretungsverbot aufrechterhalten hätten und der Bundesminister für Gesundheit, Soziales, Pflege und Konsumentenschutz (im Folgenden: BMSGPK) eine Verlängerung befürwortet habe. Auch in den Medien sei über die Gefährlichkeit der Pandemie berichtet worden. Wegen des Lockdowns sei ein Ausweichen auf Kinderspielplätze befürchtet worden. Angesichts des angeordneten Notbetriebes des Magistrates in Form von Homeoffice seien Aktenbestandteile nicht wie sonst üblich in elektronischen Akten protokolliert, sondern vorübergehend in "Fileordnern" abgelegt worden. In den Beratungen des Krisenstabes der Stadt Graz sei die Sachverständigenmeinung näher bezeichneter Personen, die wiederum mit dem Landeskrisenstab in Verbindung gestanden seien, zur Entwicklung des Infektionsgeschehens eingeholt worden, dazu gebe es aber keine "formellen Schriftprotokolle". Das Ergebnis der Beratung sei lediglich fernmündlich bzw per E‑Mail dem juristischen Team zur Erstellung eines Verordnungsentwurfes mitgeteilt worden. Diese Vorgehensweise sei mit Aktenvermerk vom 23. und 28. Juli 2021 bestätigt worden. Aus diesen Gründen werde der Antrag gestellt, dem Antrag auf Aufhebung der angefochtenen Verordnung vom 3. April 2020, Z Präs. 027888/2020/0002, keine Folge zu geben.

6. Der BMSGPK hat von der Erstattung einer Äußerung abgesehen.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit

1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

1.2. §1 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 3. April 2020 betreffend die Untersagung des Betretens von Kinderspielplätzen und Sportplätzen in Graz zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, Z Präs. 027888/2020/0002, untersagt das Betreten aller Kinderspielplätze und Sportplätze im Stadtgebiet der Landeshauptstadt Graz. Dem Landesverwaltungsgericht Steiermark ist nicht entgegenzutreten, wenn es davon ausgeht, dass es im Anlassverfahren die – inzwischen aufgehobene – Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz hinsichtlich des Verbotes des Betretens von Kinderspielplätzen anzuwenden hat (vgl VfGH 10.3.2021, V583/2020 ua mwN). Da das Landesverwaltungsgericht Steiermark mit Blick auf das dem Straferkenntnis zugrunde liegende Verfahren denkmöglich bloß das Verbot, Kinderspielplätze zu betreten, anzuwenden hat, ist der Hauptantrag, der Verfassungsgerichtshof möge feststellen, dass die Wortfolge "Kinderspielplätze und" in §1 Abs1 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 3. April 2020 betreffend die Untersagung des Betretens von Kinderspielplätzen und Sportplätzen in Graz zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, Z Präs. 027888/2020/0002, gesetzwidrig war, zulässig.

1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, ist der Antrag zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Der Antrag ist auch begründet:

2.2.1. Das antragstellende Landesverwaltungsgericht hegt – auf das Wesentliche zusammengefasst – das Bedenken, das angefochtene Verbot würde nicht den Vorgaben des §2 COVID‑19‑MG genügen; insbesondere seien im Verordnungsakt keine Entscheidungsgrundlagen dokumentiert, die einliegenden Schriftstücke entsprächen nicht der vom Verfassungsgerichtshof geforderten Dokumentationspflicht und seien zudem teilweise erst nach Erlassung der Verordnung angefertigt worden.

2.2.2. Der Bürgermeister der Landeshauptstadt Graz verweist demgegenüber auf die dem Verordnungsakt einliegenden Dokumente, aus denen hervorgehe, dass auch andere Städte das Betreten von Kinderspielplätzen untersagt hätten. Die Entscheidung sei in Abstimmung mit medizinischen Sachverständigen im Krisenstab der Landeshauptstadt Graz getroffen worden, zu einer schriftlichen Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen sei es auf Grund der pandemiebedingten Ausnahmesituation nicht gekommen.

2.2.3. Die angefochtene Verordnung findet ihre gesetzliche Grundlage in §2 COVID‑19‑MG in der Stammfassung BGBl I 12/2020 (bis 4. April 2020) bzw idF BGBl I 23/2020 (ab 5. April 2020).

2.2.4. Der Verfassungsgerichtshof hat zu den Verordnungsermächtigungen des COVID‑19‑MG idF vor BGBl I 104/2020 bereits mehrfach ausgesprochen (grundlegend VfSlg 20.399/2020; vgl weiters VfGH 10.3.2021, V583/2020 ua mwN), dass sie dem Verordnungsgeber einen Einschätzungs- und Prognosespielraum übertragen haben, ob und wieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 auch erhebliche Grundrechtseinschränkungen für erforderlich hält, weshalb der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der Betroffenen zu treffen hat. Der Verordnungsgeber ist nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes angesichts der inhaltlich weitreichenden Ermächtigung verpflichtet, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraumes im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festzuhalten hat, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie haben sich maßgeblich danach zu bestimmen, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu.

2.2.5. All dies hat der Verfassungsgerichtshof bei seiner Prüfung, ob die Verwaltungsbehörde den gesetzlichen Vorgaben bei Erlassung der angefochtenen Verordnung entsprochen hat, zu berücksichtigen. Damit ist für die Beurteilung des Verfassungsgerichtshofes insoweit der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen und die diesen zugrunde liegende aktenmäßige Dokumentation maßgeblich (vgl erneut VfGH 10.3.2021, V583/2020 ua).

2.2.6. Im Verordnungsakt zur Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 3. April 2020 betreffend die Untersagung des Betretens von Kinderspielplätzen und Sportplätzen in Graz zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, Z Präs. 027888/2020/0002, liegen ein Erlass des BMSGPK vom 13. März 2020 betreffend Maßnahmen in Bezug auf Kindergärten, der jedoch keine Aussage zu Kinderspielplätzen im öffentlichen Raum trifft, mehrere Verordnungsentwürfe samt "Erläuterungen", die ihrerseits auf die durch das COVID‑19‑MG geschaffene Möglichkeit verweisen, auch das Betreten von Kinderspielplätzen zu verbieten, sowie die elektronisch gefertigte Verordnung vom 16. März 2020 samt der Dokumentation ihrer Kundmachung ein. Auch finden sich Medienberichte vom 19. März 2020 und vom 28. April 2020 sowie Newsletter des Österreichischen Städtebundes vom 20. und vom 23. März 2020, denen auf das Wesentliche zusammengefasst zu entnehmen ist, dass auch andere Städte das Betreten von Kinderspielplätzen untersagt hätten.

Aktenvermerke vom 23. und 28. Juli 2021 – also von mehr als ein Jahr nach der Erlassung der Verordnung liegenden Zeitpunkten – legen jene Überlegungen dar, die die Entscheidungsträger zur Erlassung des Verbotes, Kinderspielplätze zu betreten, geleitet hätten.

2.2.7. Betrachtet man die Dokumentation zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung, ergibt sich, dass die verordnungserlassende Behörde nicht hinreichend dokumentiert hat, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände, nämlich das Auftreten von COVID‑19 und die Erforderlichkeit von Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung dieser Krankheit, ihre Verordnungsentscheidung fußte. Der Umstand, dass durch §2 COVID‑19‑MG ausdrücklich eine gesetzliche Grundlage geschaffen wurde, durch Verordnung das Betreten bestimmter Orte – so auch von Kinderspielplätzen – zu verbieten, ersetzt eine Dokumentation mit dem Ziel der Nachvollziehbarkeit der Erforderlichkeit des Verbotes gerade nicht; auch der Hinweis, dass auch andere Städte das Betreten von Kinderspielplätzen untersagt hätten, gibt noch keinen Aufschluss über die Verbreitung der Krankheit zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung in der Landeshauptstadt Graz. In diesem Zusammenhang ist weiters darauf zu verweisen, dass der aktenmäßigen Dokumentation nicht durch die Sammlung und Übermittlung von jeglichen zur Verfügung stehenden Informationen entsprochen wird (vgl etwa VfGH 23.9.2021, V155/2021 mwN). Auch kann der Versuch einer nachträglichen Begründung – wie durch die Aktenvermerke vom 23. und 28. Juli 2021 (!) – den Mangel der Dokumentation zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung nicht heilen, ist doch für die Beurteilung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung durch den Verfassungsgerichtshof nur die im Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung am 3. April 2020 aktenmäßige Dokumentation maßgeblich (vgl VfGH 10.3.2021, V573/2020).

2.2.8. Die Wortfolge "Kinderspielplätze und" in §1 Abs1 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 3. April 2020 betreffend die Untersagung des Betretens von Kinderspielplätzen und Sportplätzen in Graz zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, Z Präs. 027888/2020/0002, kundgemacht im Sonder-Amtsblatt Nr 9 vom 3. April 2020, war gesetzwidrig, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, im oben dargelegten Sinne zu dokumentieren.

V. Ergebnis

1. Es ist daher festzustellen, dass die Wortfolge "Kinderspielplätze und" in §1 Abs1 der Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz vom 3. April 2020 betreffend die Untersagung des Betretens von Kinderspielplätzen und Sportplätzen in Graz zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, Z Präs. 027888/2020/0002, kundgemacht im Sonder-Amtsblatt Nr 9 vom 3. April 2020, gesetzwidrig war.

2. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich veranlasst, von der ihm durch Art139 Abs6 zweiter Satz B‑VG eingeräumten Ermächtigung Gebrauch zu machen und auszusprechen, dass die aufgehobene Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist.

3. Die Verpflichtung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der Feststellung der Gesetzwidrigkeit und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B‑VG und §59 Abs2 VfGG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte