Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
EURallg
FrPolG 2005 §52 Abs1 Z1
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 lita
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 litb
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210343.L00
Spruch:
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 und die Zurückweisung des Antrags auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung richtet.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Dem Revisionswerber, einem im September 2007 im Alter von fünfzehn Jahren erstmals in Österreich eingereisten Staatsangehörigen der Russischen Föderation mit tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, wurde mit im Beschwerdeweg ergangenem Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 1. Februar 2011 der (infolge seines ersten Antrags auf internationalen Schutz im Jahr 2009 im Wege des Familienverfahrens zuerkannte) Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 aberkannt und die Aufenthaltsberechtigung entzogen, weil er straffällig geworden war. Unter einem war schon vom Bundesasylamt festgestellt worden, dass die (insbesondere) Abschiebung des Revisionswerbers in den Herkunftsstaat Russische Föderation unzulässig sei, womit sein weiterer Aufenthalt in Österreich gemäß § 46a Abs. 1 Z 2 FPG geduldet war. Der Revisionswerber war zwar schon davor, nämlich am 25. Jänner 2011, freiwillig nach Tschetschenien ausgereist, er kehrte aber via Polen, wo er am 16. August 2011 einen Asylantrag stellte, Anfang September 2011 wieder nach Österreich zurück.
2 Von Mitte 2013 bis Februar 2015 hielt sich der Revisionswerber ‑ nachdem er in Österreich zwei weitere, gemäß § 5 AsylG 2005 bzw. § 68 AVG, jeweils in Verbindung mit Ausweisungen nach Polen, zurückgewiesene Anträge auf internationalen Schutz gestellt hatte - nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts in Polen auf, wo er am 16. Jänner 2015 eine österreichische Staatsbürgerin heiratete und wo ihm am 19. Februar 2015 ein für zwei Jahre gültiger Aufenthaltstitel ausgestellt wurde.
3 Mit in Rechtskraft erwachsenem Bescheid vom 2. November 2015 wies die Bezirkshauptmannschaft Dornbirn den nach seiner Rückkehr in Österreich gestellten Antrag des Revisionswerbers vom 24. März 2015 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehöriger (einer Österreicherin) gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 und Abs. 4 Z 1 NAG ab, weil der Aufenthalt des Revisionswerbers öffentlichen Interessen widerstreite. So sei der Revisionswerber zwischen 2009 und 2015 mehrfach wegen Diebstahlsdelikten sowie wegen Raubes und Betrugs zu näher genannten Geld- bzw. Freiheitsstrafen rechtskräftig verurteilt worden.
4 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) leitete am 29. August 2016 ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung ein. Im Zuge des in diesem Verfahren gewährten Parteiengehörs stellte der Revisionswerber mit Schriftsatz vom 6. September 2016 seinen vierten Antrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag wies das BFA mit Bescheid vom 13. Februar 2017 gemäß § 5 AsylG 2005 als unzulässig zurück und sprach aus, dass Polen zur Prüfung des Antrags zuständig sei. Weiters wurde gemäß § 61 FPG die Außerlandesbringung des Revisionswerbers (nach Polen) angeordnet und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Polen zulässig sei. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 30. März 2017 als unbegründet ab. Die dagegen eingebrachte außerordentliche Revision wies der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 19. September 2017, Ra 2017/01/0281, als unzulässig zurück. Die Frist für die Überstellung nach Polen lief ungenutzt ab.
5 Am 8. Jänner 2019 leitete das BFA neuerlich ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung ein. Das Verfahren über den mittlerweile vom Revisionswerber am 11. Juli 2018 gestellten zweiten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehöriger wurde daraufhin gemäß § 38 AVG von der Niederlassungsbehörde ausgesetzt.
6 Mit Bescheid vom 25. September 2019 erließ das BFA gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG samt Nebenaussprüchen. In Erledigung der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde wurde der Bescheid mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. November 2019 behoben und die Angelegenheit an das BFA zurückverwiesen, weil zum einen nicht nachvollziehbar sei, warum das BFA von der Anwendbarkeit des § 52 Abs. 4 FPG ausgegangen sei, und zum anderen Feststellungen insbesondere zu der Frage fehlten, ob der Revisionswerber begünstigter Drittstaatsangehöriger sei.
7 Mit Bescheid des BFA vom 4. Februar 2020 wurde dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (von Amts wegen) nicht erteilt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen; gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA unter einem fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Russland zulässig sei. Einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG die aufschiebende Wirkung aberkannt, und es wurde gemäß § 55 Abs. 4 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt.
8 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit dem angefochtenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. März 2020 als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A.I.); der in der Beschwerde gestellte Antrag des Revisionswerbers auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wurde zurückgewiesen (Spruchpunkt A.II.).
9 In der Begründung gab das Bundesverwaltungsgericht zunächst den eingangs geschilderten Verfahrensgang weitgehend wieder und stellte anschließend die strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers, auszugsweise die Strafregisterauskunft wiedergebend, wie folgt fest:
„1. Landesgericht Feldkirch vom 09.07.2009, Zahl xxx
§[§] 15, 127, 129 Abs. 1 StGB
Geldstrafe von 220 Tagsätzen zu je 2,00 EUR (440,00 EUR), im NEF 110 Tage Ersatzfreiheitstrafe, Probezeit 3 Jahre, Anordnung der Bewährungshilfe, Jugendstraftat
2. Landesgericht Feldkirch vom 20.07.2009, Zahl xxx
§§ 12 (3. Fall), 15, 127, 129 Abs. 1 StGB
Geldstrafe von 50 Tagsätzen zu je 2,00 EUR (100,00 EUR), im NEF 25 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, bedingt, Probezeit 3 Jahre, Zusatzstrafe, Jugendstraftat
3. Landesgericht Feldkirch vom 01.09.2009, Zahl xxx
§§ 15, 127, 128 Abs. 1 Z 4, 129 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4, 130 (2. Satz 2. Fall), § 135 Abs. 1 StGB, Freiheitsstrafe 2 Monate, Zusatzstrafe, Jugendstraftat
4. Landesgericht Feldkirch vom 19.02.2013, Zahl xxx
Geldstrafe von 220 Tagsätzen zu je 4,00 EUR (880,00 EUR), im NEF 110 Tage Ersatzfreiheitsstrafe
5. Landesgericht Feldkirch vom 15.03.2013, Zahl xxx
Freiheitsstrafe 12 Monate, Zusatzstrafe
6. Bezirksgericht Bregenz vom 28.07.2015, Zahl xxx
Geldstrafe von 150 Tagsätzen zu je 4,00 EUR (600,00 EUR), im NEF 75 Tage Ersatzfreiheitsstrafe
7. Bezirksgericht Bregenz vom 29.06.2016, Zahl xxx
Geldstrafe von 200 Tagsätzen zu je 4,00 EUR (800,00 EUR), im NEF 100 Tage Ersatzfreiheitsstrafe.“
10 Sodann führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass der Revisionswerber seit März 2015 mit seiner österreichischen Ehefrau im gemeinsamen Haushalt lebe. Seinen Lebensunterhalt bestreite er durch Unterstützung seiner Ehefrau und seiner Schwiegereltern. Dem Revisionswerber stehe für den Fall der Einräumung eines Zugangs zum österreichischen Arbeitsmarkt eine Vollzeitbeschäftigung als Hilfsarbeiter im Unternehmen seines Schwiegervaters in Aussicht. Seit dem Jahr 2015 befinde er sich in einem Substitutionsprogramm und in psychosozialer Beratung durch eine Drogenberatungsstelle.
11 In rechtlicher Hinsicht ging das Bundesverwaltungsgericht zunächst davon aus, dass die Ehefrau des Revisionswerbers, die sich zwar zusammengerechnet 159 Tage, jedoch nie für einen durchgehenden dreimonatigen Zeitraum beim Revisionswerber in Polen aufgehalten habe, nicht von ihrem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht habe und der Revisionswerber daher ‑ entgegen der Meinung in der Beschwerde ‑ nicht als begünstigter Drittstaatsangehöriger anzusehen sei.
12 Im Rahmen der nach § 9 BFA‑VG durchgeführten Interessenabwägung nahm das Bundesverwaltungsgericht insbesondere auf die vom Revisionswerber ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit Bezug. Da der Revisionswerber in der Vergangenheit über einen Zeitraum von fünf Jahren trotz der Kenntnis über die Unsicherheit seines Aufenthaltes und der im Bundesgebiet bestehenden familiären und privaten Bindungen kontinuierlich strafrechtliche Delikte begangenen habe, wobei es sich nicht um lediglich geringfügige Straftaten, sondern zum Teil um mehrfach qualifizierte Eigentumsdelikte sowie das Verbrechen des Raubes gehandelt habe, habe sich seine Gefährlichkeit im vorliegenden Fall nachhaltig manifestiert, und es sei vor dem Hintergrund der öffentlichen Interessen an der Verhinderung weiterer gleichgelagerter Straftaten jedenfalls ein längerer Zeitraum des Wohlverhaltens von Nöten, um einen Wegfall der von ihm ausgehenden Gefährdung feststellen zu können. Die letzte Verurteilung des Revisionswerbers (wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz) stamme aber aus dem Juni 2016. Der Wohlverhaltenszeitraum betrage sohin zum Entscheidungszeitpunkt weniger als vier Jahre und könne angesichts der insgesamt sieben rechtskräftigen Verurteilungen nicht als hinreichend nachhaltig erachtet werden. Angesichts der kontinuierlichen Begehung strafrechtlicher Delikte, der Kenntnis über die Unsicherheit eines weiteren Aufenthalts sowie der nicht vorliegenden beruflichen Eingliederung könnten auch die im Bundesgebiet bestehenden familiären und sozialen Bindungen sowie die Deutschkenntnisse auf dem Niveau B2 ein Überwiegen seiner Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet nicht begründen. Da sich der Revisionswerber und seine Ehefrau im Zeitpunkt der Eheschließung bewusst gewesen seien, dass der Revisionswerber zu einem Aufenthalt in Österreich nicht berechtigt sei, habe das Paar auch nicht auf die Möglichkeit, künftig ein gemeinsames Familienleben in Österreich führen zu können, vertrauen dürfen. Die Schutzwürdigkeit der Beziehung sei vor diesem Hintergrund als maßgeblich gemindert zu erachten. Demnach überwögen bei der gemäß § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Interessensabwägung die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung des Revisionswerbers gegenüber seinen privaten und familiären Interessen.
13 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe abgesehen werden können, da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen gewesen sei. Auch bei Zugrundelegung aller für den Revisionswerber sprechenden Aspekte sei ein Überwiegen seiner privaten und familiären Interessen gegenüber den öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesens und der Verhinderung weiterer Straftaten nicht zu erkennen gewesen, weshalb die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks sowie die beantragte Befragung seiner Ehefrau und seines Schwiegervaters als Zeugen zu seinem Familien- und Privatleben im Rahmen einer mündlichen Beschwerdeverhandlung unterbleiben hätten können.
14 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
15 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ‑ nach Ablehnung der Behandlung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde und ihrer Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof (VfGH 26.6.2020, E 1731/2020‑5) fristgerecht ausgeführte ‑ außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
16 Hat das Verwaltungsgericht ‑ so wie hier ‑ in seinem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
17 In Bezug auf die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 und die Zurückweisung des Antrags auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung fehlt es gänzlich an einem entsprechenden Vorbringen in der vorliegenden Revision. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat ‑ als unzulässig zurückzuweisen.
18 Im Übrigen ‑ die Rückkehrentscheidung und die damit in Zusammenhang stehenden Aussprüche betreffend ‑ zeigt die Revision in ihren Zulässigkeitsausführungen zutreffend auf, dass das Bundesverwaltungsgericht die gebotene Interessenabwägung nicht ordnungsgemäß vorgenommen und in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung abgesehen hat.
19 Bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA‑VG zu prüfen. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0062, Rn. 11, mwN).
20 Im vorliegenden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht bei der Interessenabwägung vor allem der Straffälligkeit des Revisionswerbers Bedeutung zugemessen. Bei der Begründung der deshalb von ihm ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit beschränkte sich das Bundesverwaltungsgericht allerdings auf eine auszugsweise Wiedergabe der Strafregisterauskunft, der weder die Tatzeitpunkte noch die konkreten Tathandlungen zu entnehmen sind. Das ist nicht ausreichend (vgl. dazu etwa VwGH 25.3.2021, Ra 2020/21/0533, Rn. 8, mwN). Überdies wäre zu berücksichtigen gewesen, dass die gewichtigste strafgerichtliche Verurteilung des Revisionswerbers wegen des Verbrechens des bereits am 14. März 2012 begangenen Raubes zu einer einjährigen Freiheitsstrafe im Entscheidungszeitpunkt bereits sieben Jahre zurücklag und es sich bei den zwischen 2009 und 2013 begangenen Diebstahlsdelikten um Jugendstraftaten bzw. eine Verurteilung als junger Erwachsener handelte, die nur mit Geldstrafen und einer bedingt nachgesehenen zweimonatigen Freiheitsstrafe sanktioniert wurden. Außerdem ließ das BVwG außer Acht, dass in drei Fällen nur Zusatzstrafen verhängt wurden, sodass insgesamt von lediglich vier Verurteilungen auszugehen gewesen wäre (vgl. VwGH 5.2.2021, Ra 2020/21/0412, Rn. 6, mwN). Zudem hätte auch das Beschwerdevorbringen, wonach die begangenen Straftaten in Zusammenhang mit seiner damaligen Suchterkrankung zu sehen gewesen seien, die er jedoch mittlerweile überwunden habe, einer näheren Auseinandersetzung bedurft. Das BFA hat sich auf Grund der begangenen Straftaten ‑ wie noch anzumerken ist ‑ auch nicht veranlasst gesehen, gegen den Revisionswerber ein Einreiseverbot zu erlassen.
21 Zu Gunsten des Revisionswerbers wären demgegenüber vor allem seine Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin seit Jänner 2015, wobei die Beziehung den Angaben des Revisionswerbers zufolge schon seit etwa 2009/2010 besteht, seine Deutschkenntnisse auf dem Niveau B2, der vorgelegte Arbeitsvorvertrag (mit einer monatlichen Entlohnung von netto € 1.500,‑‑) und zahlreiche Unterstützungserklärungen zu berücksichtigen gewesen. Überdies wäre darauf Bedacht zu nehmen gewesen, dass sich der Revisionswerber seit September 2007 ‑ unterbrochen durch Auslandsaufenthalte von insgesamt weniger als drei Jahren ‑ bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses etwa zehn Jahre (teilweise rechtmäßig, teilweise geduldet) in Österreich aufhielt.
22 Insgesamt konnte somit jedenfalls nicht vom Vorliegen eines eindeutigen Falles ausgegangen werden, der es dem Bundesverwaltungsgericht ausnahmsweise erlaubt hätte, ohne Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von der Durchführung der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung abzusehen (vgl. nochmals VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0062, nunmehr Rn. 13, mwN).
23 Auch die substantiierten Beschwerdebehauptungen, wonach die Ehefrau des Revisionswerbers durch ihre mehrfachen Aufenthalte in Polen ihr unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht ausgeübt habe, sodass der Revisionswerber als begünstigter Drittstaatsangehöriger anzusehen sei, wären in einer Verhandlung zu erörtern gewesen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zwar eine gewisse Nachhaltigkeit voraussetzt (vgl. dazu schon VwGH 29.9.2011, 2009/21/0386), dass aber dann, wenn die Freizügigkeit auf die Arbeitnehmereigenschaft iSd Art. 7 Abs. 1 lit. a der Freizügigkeitsrichtlinie (2004/38/EG ) gestützt wird, keine Mindestaufenthaltsdauer von drei Monaten zu fordern ist (vgl. VwGH 18.10.2012, 2011/22/0007, und darauf verweisend etwa VwGH 17.10.2016, Ra 2016/22/0051, Rn. 7); weiters begründet auch schon eine ‑ in der Beschwerde auch angesprochene ‑ ernsthafte, objektiv nicht aussichtslose Arbeitssuche die Arbeitnehmereigenschaft (vgl. etwa VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0130, Rn. 12, mwN). Eine mehr als dreimonatige Aufenthaltsdauer ist nur dann für die Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Freizügigkeit erforderlich, wenn das Aufenthaltsrecht nicht auf die Arbeitnehmereigenschaft, sondern auf Art. 7 Abs. 1 lit. b der Freizügigkeitsrichtlinie gestützt wird (vgl. etwa VwGH 26.2.2013, 2010/22/0129).
24 Im Hinblick auf die dargestellten Begründungs- und Verfahrensmängel war das angefochtene Erkenntnis somit im Umfang der Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
25 Bei diesem Ergebnis muss nicht auf die in der Beschwerde ‑ aber nicht mehr in der Revision ‑ aufgeworfene Frage eingegangen werden, wie nach dem ungenutzten Ablauf der Frist für die Überstellung nach Polen mit dem Antrag auf internationalen Schutz vom 6. September 2016 zu verfahren gewesen wäre.
26 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
27 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die § 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 21. Dezember 2021
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