OGH 9ObA19/17k

OGH9ObA19/17k24.3.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Dehn und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Paul Kunsky und Horst Nurschinger als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei J***** D*****, vertreten durch Vogl Rechtsanwalt GmbH in Feldkirch, gegen die beklagte Partei A*****AG, *****, vertreten durch Dr. Michael Nocker, Rechtsanwalt in Wien, wegen 35.000 EUR brutto sA, über die Revision der klagenden Partei (Streitwert des Eventualbegehrens: 35.000 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 8. November 2016, GZ 10 Ra 54/16h‑69, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 18. September 2015, GZ 36 Cga 5/11k‑65, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:009OBA00019.17K.0324.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Berufungsurteil wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil einschließlich seines mangels Anfechtung bereits in Rechtskraft erwachsenen Teils insgesamt wiederhergestellt wird.

Die Kostenentscheidung wird dem Erstgericht vorbehalten.

 

Entscheidungsgründe:

Der Kläger war bei der beklagten Versicherungsgesellschaft zunächst bis 31. 12. 2005 als angestellter Außendienstmitarbeiter und danach ab 1. 1. 2006 als selbstständiger Versicherungsagent tätig. In dem zwischen den Parteien anlässlich des Wechsels des Klägers vom Angestellten zum selbstständigen Versicherungsagenten abgeschlossenen Agenturvertrag vereinbarten die Parteien unter anderem Folgendes:

§ 6 Provisionen (Vergütung)

Der Agent erhält für seine Tätigkeit von den Prämien, die auf Grund der von ihm vermittelten oder ihm zur Betreuung übertragenen Versicherungsverträge gezahlt werden, Provisionen, solange diese Verträge sich in dem von ihm verwalteten Bestand befinden oder für ihn noch provisionspflichtig sind, gemäß den Allgemeinen Provisionsbestimmungen, Provisionstabellen und Richtlinien. Eine über die Provision hinausgehende Vergütung erhält der Agent für seine Tätigkeit und seine Aufwendungen grundsätzlich nicht. Dies gilt auch, wenn der Agent bei der Regulierung von Schadensfällen mitwirkt.

[…]

§ 8 Dauer und Beendigung des Vertrages

8.1. Allgemeines

8.1.1. Der Agenturvertrag beginnt mit 1. 1. 2006 und ist auf unbestimmte Zeit geschlossen. Er endet mit Ablauf des Kalendervierteljahres, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird oder mit dem Tod des Agenten.

8.1.2. Sowohl der Agent als auch die Gesellschaft sind berechtigt, diesen Vertrag mit einer Frist von sechs Monaten zum Ende jedes Kalendermonats zu kündigen. Beide Vertragsparteien verzichten jedoch für zweieinhalb Jahre auf die Ausübung dieses Kündigungsrechts, sodass erstmals per Ende des dritten Jahres unter Einhaltung der oa Fristen und Termine eine Kündigung erfolgen kann.

8.1.3. Ist der Vertrag gekündigt, so kann die Gesellschaft den Agenten von der Führung der Geschäfte seiner Vertretung entbinden. Bis zur Beendigung des Vertrages erhält der Agent die ihm zustehenden Betreuungsprovisionen. Die Betreuungsprovisionen bemessen sich aus dem Bestand im Zeitpunkt der Freistellung.

8.1.4. Ohne Einhaltung einer Frist kann der Vertrag von beiden Seiten gekündigt werden, wenn ein wichtiger Grund (§ 22 HVertrG 1993) vorliegt. Ein wichtiger Grund für die Gesellschaft ist jedenfalls auch gegeben, wenn der Agent gegen das Konkurrenzverbot (§ 5 dieses Vertrages) verstößt.

8.2. Folgen der Beendigung des Vertrages

Mit der Beendigung dieses Vertrages erlischt jeder weitere Betreuungsprovisions- oder sonstiger Anspruch gegen die Gesellschaft. (Hervorhebung durch den Senat) Ein Anspruch auf die erstjährige oder einmalige Provision für die Versicherungen, die der Agent während der Dauer dieses Vertrages vermittelt hat, besteht auch dann, wenn die Dokumente erst nach Vertragsbeendigung ausgestellt und eingelöst werden; das Gleiche gilt für die Erst- oder Einmalzahlung vermittelter Investmentzertifikate, sofern diese Zahlungen innerhalb eines halben Jahres nach Ausscheiden eingegangen sind. Bei Versicherungen, deren Versicherungssumme oder Beitragsaufkommen sich aus einer Reihe von Einzelaufträgen, Anmeldungen oder Anpassungen ergibt (z.B. Gruppen- und Sammel-, Zuwachs- und Befreiungs-, Lebensversicherungen, Transport-Generalpolizzen), entsteht ein Anspruch auf die erstjährige oder einmalige Provision nur aus den Summen oder Beträge, die auf die bis zu diesem Zeitpunkt vorgenommene Anpassung entfallen: das Gleiche gilt für Folgezahlungen im Zusammenhang mit Investmentzertifikaten.

Hinsichtlich eines allfälligen Ausgleichsanspruches gilt die Zusatzvereinbarung zum Agenturvertrag betreffend die Regelung des Ausgleichsanspruches.

[…]

Der Kläger kündigte den Agenturvertrag mit Schreiben vom 27. 10. 2010 ohne nähere Begründung unter Einhaltung der Kündigungsfrist zum 30. 4. 2011 auf. Die Beklagte sperrte daraufhin am 2. 11. 2010 den EDV‑Zugang des Klägers.

Mit Schreiben vom 3. 11. 2010 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie von ihrem Recht gemäß § 8.1.3. des Agenturvertrags Gebrauch mache, ihn ab sofort von der Führung seiner Geschäfte entbinde und er bis zur Beendigung des Vertrags die Betreuungsprovision, die sich am Kundenbestand mit Stichtag der Zustellung dieses Schreibens bemesse, sowie einen finanziellen Ausgleich für entgangene Abschlussprovisionen erhalte.

Daraufhin erklärte der Kläger mit Schreiben vom 4. 11. 2010 unter Berufung auf die Dienstfreistellung und seinen dadurch verursachten Verdienstentgang den sofortigen Austritt.

Mit seinem – vom Erstgericht rechtskräftig abgewiesenen – Hauptbegehren begehrte der Kläger die Zahlung von 35.000 EUR brutto sA als Teilbetrag eines Ausgleichsanspruchs von 107.870,21 EUR. Außerdem stellte er zwei Eventualbegehren. Mit dem mit Schriftsatz vom 16. 9. 2015 (ON 60) geänderten und nunmehr ausschließlich revisionsgegenständlichen Eventualbegehren begehrt der Kläger von der Beklagten die (im Spruch des Ersturteils näher aufgeschlüsselte) Rechnungslegung über jene Versicherungsverträge aus seinem Bestand im Zeitpunkt der Vertragsbeendigung, die nicht durch seine Stornierung aufgelöst worden seien, sowie die Vorlage einer sich aus diesem Buchauszug ergebenden Provisionsabrechnung über die von der Beklagten bislang noch nicht abgerechneten Provisionen. Ohne Rechnungslegung durch die Beklagte könne er seinen Anspruch auf Folgeprovisionen nicht errechnen. Die im Agenturvertrag vereinbarte Provisionsverzichtsklausel sei sittenwidrig und daher unwirksam. Die vorzeitige Beendigung des Agenturvertrags sei berechtigt gewesen.

Die Beklagte sprach sich gegen die Klagsänderung aus, bestritt im Übrigen auch das geänderte Eventualbegehren und beantragte dessen Abweisung. Die Provisionsverzichtsklausel sei nicht sittenwidrig. Zum einen habe der Kläger den Vertrag unberechtigt vorzeitig aufgelöst, zum anderen sei der Verzicht des Klägers auf Folgeprovisionen nach Vertragsbeendigung durch vertragliche Besserstellungen ausgeglichen. Das Rechnungslegungsbegehren sei zudem unschlüssig und verjährt.

Das Erstgericht wies das Hauptbegehren ab und gab dem Eventualbegehren des Klägers statt. Ein Ausgleichsanspruch bestehe nicht, weil kein begründeter Anlass für die Auflösung des Agenturvertrags iSd § 24 HVertrG 1993 vorgelegen habe. Den Rechnungslegungsanspruch bejahte das Erstgericht, weil eine Vereinbarung, wonach der Anspruch des arbeitnehmerähnlichen Versicherungsvertreters auf Folgeprovisionen bei Beendigung des Agenturvertrags erlösche, sittenwidrig iSd § 879 Abs 1 ABGB sei. Zur Berechnung der Folgeprovisionen sei die Rechnungslegung aber erforderlich.

Das Berufungsgericht gab der gegen die Stattgabe des Eventualbegehrens gerichteten Berufung der Beklagten Folge und wies auch das Eventualbegehren des Klägers ab. Die implizite Zulassung der Klagsänderung durch das Erstgericht sei nicht zu beanstanden. Da der Kläger das Agenturverhältnis durch unberechtigten vorzeitigen Austritt beendet und während der fiktiven Kündigungsfrist eine Konkurrenztätigkeit entfaltet habe, sei die Provisionsverzichtsklausel nicht als sittenwidrig anzusehen. Selbst im Rahmen eines (beendeten) Dienstverhältnisses würde in dieser Konstellation nach dem Kollektivvertrag kein Anspruch auch nur auf Teile der Folgeprovisionen bestehen.

Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil die Beurteilung der Sittenwidrigkeit einer Provisionsverzichtsklausel bei der Beendigung eines Agenturverhältnisses durch unberechtigten vorzeitigen Austritt des Versicherungsvertreters in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgehe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Darin beantragt er die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils in seinem klagestattgebenden Teil; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig; sie ist auch berechtigt.

1. Nach der Rechtsprechung bedarf die Zulassung einer Klageänderung nicht notwendig eines gesondert ausgefertigten Beschlusses, sondern kann auch implizit, durch eine Sachentscheidung über das geänderte Begehren, bewilligt werden. Dies ist hier der Fall. Wurde sie bekämpft und behandelte auch die zweite Instanz das strittige Vorbringen inhaltlich (auch dies ist hier – entgegen der Behauptung der Beklagten – erfolgt [Berufungsurteil Punkt IV.B.2.1.]), ist von zwei konformen, die Zulässigkeit der Erweiterung implizit bejahenden Instanzentscheidungen auszugehen, deren Anfechtung schon nach § 528 Abs 2 Z 2 ZPO jedenfalls ausgeschlossen ist (RIS‑Justiz RS0102058 [T4]).

2. Zutreffend gingen die Vorinstanzen davon aus, dass die vorzeitige Vertragsbeendigung des Klägers unberechtigt erfolgte. Nach dem Agenturvertrag war die Beklagte dazu berechtigt, den Kläger von der Führung der Geschäfte zu entbinden (Punkt 8.1.3.). Die Beklagte war daher nicht verpflichtet, dem Kläger eine weitere Tätigkeit auch nach Kündigung des Agenturverhältnisses zu ermöglichen. Diese Vereinbarung – deren Unwirksamkeit der Kläger auch gar nicht behauptet – steht somit seiner Ansicht entgegen, dass ihn die Entbindung von der Führung der Geschäfte durch die Beklagte zur vorzeitigen Beendigung des – von ihm selbst gekündigten – Agenturvertrags berechtigt hätte.

3.1. Zwischen den Parteien ist nicht strittig, dass die dem Rechnungslegungsanspruch zugrunde liegenden „Folgeprovisionen“ (zumindest aliquot) auch Provisionen für die Vermittlungstätigkeit des Klägers beinhalten und der Kläger als arbeitnehmerähnlich (§ 51 Abs 3 Z 2 ASGG) anzusehen ist. Jedenfalls bei unberechtigter Eigenkündigung eines arbeitnehmerähnlichen Versicherungsvertreters sah der Oberste Gerichtshof einen Vorwegverzicht auf solche mit dem Abschluss des Versicherungsvertrags (vorbehaltlich dessen Ausführung) bereits verdienten Folgeprovisionen nach der Beendigung des Vertragsverhältnisses als sittenwidrig an, weil ein solcher mit Existenzgefährdung einhergehender Verzicht den Versicherungsvertreter krass einseitig benachteiligt, während der Unternehmer von dieser Regelung stets profitiert, was aber einer sachlichen Rechtfertigung entbehrt (3 Ob 138/14m = SZ 2014/98 = ecolex 2015, 26 [Melicharek/Haberler] = EvBl 2015/52 [Brenn]).

3.2. Die in dieser Entscheidung angestellten Überlegungen zur Sittenwidrigkeit des Vorwegverzichts eines arbeitnehmerähnlichen Versicherungsvertreters auf Folgeprovisionen bei unberechtigter Eigenkündigung gelten auch für den vorliegenden Fall des unberechtigten vorzeitigen Austritts eines arbeitnehmerähnlichen Versicherungs-vertreters. Das Sittenwidrigkeitsurteil der Provisionsverzichtsklausel gründet im Wesentlichen auf den nachträglichen Entfall eines vom arbeitnehmerähnlichen Versicherungsvertreters während aufrechten Vertrags bereits verdienten Entgelts, das dem arbeitnehmerähnlichen Versicherungsvertreter auch nach Beendigung des Vertrags seine Existenzgrundlage sichern soll. Ein arbeitnehmerähnlicher Versicherungsvertreter ist aufgrund des spezifischen Abhängigkeitsverhältnisses zu seinem Vertragspartner zur Bestreitung seines Lebensunterhalts (jedenfalls auch) auf diese Entlohnung besonders angewiesen (vgl RIS‑Justiz RS0086136). Diesen vom– arbeitnehmerähnlichen – Versicherungsvertreter zu tragenden gravierenden, weil existenzbedrohenden Nachteilen steht auf der Seite der Beklagten der Bonus gegenüber, den ihr aus der Tätigkeit des Klägers zukommenden Vorteil (Prämienzahlungen der Versicherungsnehmer) für sich in Anspruch nehmen zu können, ohne die dafür vorgesehene Vergütung leisten zu müssen (Punkt 5.2. in 3 Ob 138/14m). Die Art der Beendigung des Vertragsverhältnisses ändert an dieser Beurteilung nichts. Eine sachliche Rechtfertigung, weshalb sich der Unternehmer die Folgeprovisionen bei bestimmten Beendigungsarten ersparen können soll, ist nicht ersichtlich. Zudem sichert auch der Gesetzgeber dem Angestellten ein bereits ins Verdienen gebrachtes Entgelt völlig unabhängig von der Art der Beendigung, insbesondere aber auch beim unberechtigten vorzeitigen Austritt des Angestellten, zu (vgl RIS‑Justiz RS0028235).

3.3.  Hohl (Anmerkungen zum höchstgerichtlichen Urteil 3 Ob 138/14m – Folgeprovisionsanspruch des Versicherungsagenten bei [grundloser] Selbstkündigung des Agenturvertrags – Darstellung der praktischen Auswirkungen, ZFR 2015/80, 166) hält dieses Ergebnis („überschießende Lösung“) unter Hinweis auf Körber, (Provisionsverzichtsklauseln in Verträgen mit selbständigen Versicherungsvertretern, wbl 2006, 406 ff) für unbillig. Abgesehen davon, dass die zitierte Fundstelle die Ansicht von Hohl nicht belegt, beurteilt der Autor die Sittenwidrigkeit nach § 879 Abs 3 ABGB und nicht, wie der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 3 Ob 138/14m, nach § 879 Abs 1 ABGB (Punkt 6 der zitierten Entscheidung). Darauf weist auch Breiter in einer Replik zur Anmerkung von Hohl hin (ZFR 2015/246, 460). Er merkt zudem in diesem Zusammenhang an, dass für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit der Provisionsverzichtsklausel der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses maßgeblich ist (RIS‑Justiz RS0017936; Punkt 1 in 3 Ob 138/14m).

3.4. Entgegen der Ansicht der Revisionsgegnerin steht dieses Ergebnis auch nicht in einem unauflösbaren Widerspruch zur Regelung des § 26d HVertrG 1993. Nach dieser Bestimmung gebührt dem Versicherungsvertreter ein Ausgleichsanspruch, wenn und soweit keine Ansprüche nach § 26c Abs 1 HVertrG 1993 bestehen, dh beim Versicherungsvertreter Verluste an Folgeprovisionen entstanden sind. In der bereits mehrfach zitierten Entscheidung 3 Ob 138/14m (Punkt 7.3.) hat der Oberste Gerichtshof diesem Einwand entgegengehalten, dass der von der Revisionsgegnerin gezogene Schluss auf die generelle Zulässigkeit von Provisionsverzichtsklauseln jeden Inhalts unzulässig ist. Zulässig ist nur die Schlussfolgerung, der Gesetzgeber toleriere derartige Verzichte, wenn sie durch einen Ausgleichsanspruch des Versicherungsvertreters egalisiert oder zumindest „abgefedert“ werden, weil damit die sonst zu befürchtende, jedoch zu verhindernde Existenzbedrohung des Versicherungsvertreters vermieden wird. Hier ist aber – wie auch in 3 Ob 138/14m – ein Ausgleichsanspruch ausgeschlossen. Dass es letztlich auch der Wertung des Gesetzgebers entspricht, dem Versicherungsvertreter grundsätzlich und unabhängig von der Art der Beendigung des Vertragsverhältnisses den Anspruch auf Folgeprovisionen auch über das Ende des Agenturverhältnisses hinaus zu erhalten, wurde in der Entscheidung 3 Ob 138/14m (Punkte 7.1. und 7.4.) ausführlich dargelegt. Auch darauf wird verwiesen.

4. Soweit die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung für ihren Rechtsstandpunkt die Entscheidungen 4 Ob 95/65 und 9 ObA 179/89 ins Treffen führt, wurde dazu ebenfalls bereits in der Entscheidung 3 Ob 138/14m (Punkt 7.5.) ausführlich Stellung genommen. Es genügt daher, darauf zu verweisen.

5.1. Da der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 3 Ob 138/14m die Provisionsverzichtsklausel als sittenwidrig iSd § 879 Abs 1 ABGB ansah, erübrigte sich eine Auseinandersetzung mit § 879 Abs 3 ABGB. Letztere Bestimmung war Gegenstand der Entscheidung 9 ObA 179/89. Dazu wurde in 3 Ob 138/14m (Punkt 7.5.) festgehalten, dass in der dort beanstandeten Klausel schon deshalb keine gröbliche Benachteiligung des Klägers zu sehen sei, weil der mit der beanstandeten Klausel verbundene Nachteil durch andere vorteilhafte Vertragsbestimmungen (zu Beginn seines Dienstverhältnisses Bezug von Garantieprovision in erheblichem Ausmaß unabhängig von seinem tatsächlichen Geschäftserfolg; absolute Höhe seines Einkommens) ausgeglichen worden sei. Daraus leitet die Beklagte nun ab, dass auch das Sittenwidrigkeitsurteil nach § 879 Abs 1 ABGB im vorliegenden Fall anders ausfallen hätte müssen, hätte man die von ihr behaupteten – vom Erstgericht jedoch nicht festgestellten – vertraglichen Besserstellungen des Klägers gegenüber den gesetzlichen Regelungen des HVertrG 1993 bzw den kollektivvertraglichen Bestimmungen für Angestellte der Versicherungsunternehmen im Außendienst (KVA) berücksichtigt.

5.2. Inwieweit „ausgleichende Vertrags-bestimmungen“ auch bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit iSd § 879 Abs 1 ABGB zu berücksichtigen sind, bedarf hier keiner näheren Erörterung. Als Pendant für den Verlust der Folgeprovisionen nach Beendigung des Vertragsverhältnisses können nur solche vertraglichen Besserstellungen angesehen werden, die den durch die Provisionsverzichtsklausel entstehenden Einkommensverlust des arbeitnehmerähnlichen Versicherungsvertreters ausgleichen. Die von der Beklagten ins Treffen geführten Besserstellungen (Fortzahlung der Folgeprovisionen nach Wechsel in das Agenturverhältnis auch für zugewiesene und übertragene Bestände; höhere Provisionssätze; Übernahme von Kosten und Auslagen des Klägers in Höhe von 66.103,30 EUR; Berücksichtigung der aus dem Angestelltenverhältnis in das Agenturverhältnis übertragenen Versicherungsbestände bei der Ausgleichsberechnung; Kündigungsverzicht für drei Jahre) stehen aber erkennbar mit dem Umstieg des Klägers vom angestellten zum selbstständigen Versicherungsvertreter im Zusammenhang. Sie bezwecken allesamt nicht, den vom Kläger seit der Vertragsbeendigung erlittenen Einkommensentfall auszugleichen. Die insofern behauptungs- und beweispflichtige Beklagte nimmt auch weder die für eine Beurteilung unerlässliche ziffernmäßige Konkretisierung der durch den Entfall der Folgeprovisionen für den Kläger entstandenen Nachteile noch jener von ihr behaupteten Vorteile vor, sodass die von ihr geforderte Gegenüberstellung dieser Vor‑ und Nachteile nicht vorgenommen werden kann.

5.3. Inwiefern die vom Berufungsgericht für seine Rechtsansicht ins Treffen geführte Konkurrenztätigkeit des Klägers in der „fiktiven“ Kündigungsfrist eine Rolle bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines zu Beginn des Vertragsverhältnisses vereinbarten Provisionsverzichts spielen sollte, ist nicht ersichtlich. Darauf rekurriert auch die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung nicht mehr.

6. Die Sittenwidrigkeit (§ 879 Abs 1 ABGB) und damit Nichtigkeit der hier strittigen Provisionsverzichtsklausel hat zur Folge, dass an ihre Stelle die gesetzliche Regelung des § 8 Abs 2 HVertrG 1993 tritt. Dabei ist auch auf für den Handelsvertreter allenfalls günstigere Vertragsbestimmungen Bedacht zu nehmen. Nach § 8 Abs 2 Satz 1 HVertrG 1993 gebührt dem Handelsvertreter, soweit nichts anderes vereinbart ist, für jedes durch seine Tätigkeit zustande gekommene Geschäft als Vergütung eine Provision. Auch für Geschäfte, die noch während des aufrechten Handelsvertreterverhältnisses zwischen Unternehmer und Drittem abgeschlossen, aber erst nach dessen Ende ausgeführt wurden, steht dem Handelsvertreter solange eine Provision zu, sofern und solange das von ihm vermittelte Geschäft ausgeführt wird (3 Ob 138/14m, Punkt 2.1.; Nocker, HVertrG² § 8 Rz 43 mwN). Derartige so bezeichnete Überhangprovisionen eines Versicherungsvertreters werden vom Gesetz nun als Folgeprovisionen bezeichnet (Nocker, HVertrG² § 26c Rz 8).

7.1. Da die Beklagte unstrittig die dem Kläger auch nach dem Zeitpunkt der Vertragsbeendigung (4. 11. 2010) weiter zustehenden Folgeprovisionen noch nicht abgerechnet hat und es dem Kläger nicht möglich ist, ohne die von ihm mit seinem Rechnungslegungsbegehren geforderten Auskünfte seinen Provisionsanspruch zu berechnen, ist sein Begehren iSd §§ 16 und 14 HVertrG 1993 grundsätzlich berechtigt (vgl Nocker, HVertrG 1993² § 16 Rz 24). Dies wird von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen.

7.2. Der von der Beklagten erhobene Einwand, das Rechnungslegungsbegehren des Klägers sei im Hinblick auf die geltende gesetzliche Regelung des § 26c Abs 1 HVertrG 1993 zu unbestimmt, ist schon deshalb nicht berechtigt, weil auf das gegenständliche, am 1. 1. 2006 abgeschlossene Agenturverhältnis die Sonderregelung des § 26c HVertrG 1993 für Versicherungsvertreter im Hinblick auf die Übergangsbestimmung des § 29 Abs 4 HVertrG 1993 noch nicht anwendbar ist. Nach dessen Satz 2 ist § 26c HVertrG 1993 erst auf nach dem 31. 12. 2006 abgeschlossene Verträge anzuwenden.

8.1. Auch der Verjährungseinwand der Beklagten greift nicht. Nach Ansicht der Beklagten sei das Rechnungslegungsbegehren verjährt, weil die diesem Begehren zugrunde liegenden Ansprüche verjährt seien.

8.2. Die Ansprüche auf Rechnungslegung und auf Buchauszug nach § 16 Abs 1 HVertrG 1993 sind typische Nebenansprüche zur Durchsetzung des Provisionsanspruchs als Hauptanspruch. Da diese Nebenansprüche mit dem Hauptanspruch verjähren, richtet sich der Beginn der dreijährigen Verjährungsfrist iSd § 18 Abs 1 HVertrG auch für sie nach § 18 Abs 2 HVertrG 1993 (8 ObA 22/11k = SZ 2011/53; RIS‑Justiz RS0028102). Dementsprechend kann eine an sich bestehende Rechnungslegungspflicht in Bezug auf bereits verjährte (Haupt-)Leistungen nicht mehr durchgesetzt werden (RIS‑Justiz RS0034930). Auch der Anspruch auf Abrechnung nach § 14 Abs 1 HVertrG 1993 verjährt nach der allgemeinen Verjährungsbestimmung des § 18 Abs 1 HVertrG in drei Jahren (Nocker, HVertrG² § 14 Rz 63).

8.3. Nach § 18 Abs 2 Satz 1 HVertrG 1993 beginnt die Verjährung für Ansprüche, die in die Abrechnung einbezogen werden, mit dem Ende des Jahres, in dem die Abrechnung stattgefunden hat, für Ansprüche dagegen, die in die Abrechnung nicht einbezogen wurden, mit dem Ende des Jahres, in dem das Vertragsverhältnis gelöst worden ist. Für Ansprüche, hinsichtlich derer erst nach Lösung des Vertragsverhältnisses Abrechnung zu legen war, beginnt die Verjährung mit dem Ende des Jahres, in dem die Abrechnung hätte stattfinden sollen (§ 18 Abs 1 Satz 2 HVertrG 1993). Letzteres trifft auch auf Überhangprovisionen zu (Nocker, HVertrG² § 18 Rz 18).

8.4. Nach § 26b Abs 4 Satz 1 HVertrG 1993 hat die Abrechnung der Provisionsansprüche durch den Versicherer längstens einen Monat nach der Entstehung des Provisionsanspruchs zu erfolgen. Der Anspruch auf Provision des Versicherungsvertreters entsteht mit der Rechtswirksamkeit des vermittelten Geschäfts, wenn und soweit der Versicherungsnehmer die geschuldete Prämie gezahlt hat oder zahlen hätte müssen, hätte der Versicherer seine Verpflichtung erfüllt (§ 26b Abs 2 Satz 1 HVertrG 1993). Während beim Warenvertreter der Provisionsanspruch bereits dann entsteht, wenn der Unternehmer (zB durch Lieferung) das Geschäft ausführt (vgl § 9 Abs 1 HVertrG), entsteht für den Versicherungsvertreter der Provisionsanspruch erst dann, wenn der Versicherungsnehmer seinen Teil des Vertrags mit Zahlung der Versicherungsprämie erfüllt hat oder – im Fall der Säumnis des Versicherers – erfüllen hätte müssen (vgl Nocker, HVertrG² § 26b Rz 12).

8.5. Da zum jetzigen Zeitpunkt mangels Rechnungslegung und Abrechnung durch die Beklagte aber noch nicht feststeht, wann die tatsächlichen Prämienzahlungen durch die Kunden erfolgten, kann die Frage der Verjährung allfälliger Folgeprovisionsansprüche im vorliegenden Verfahren wegen Rechnungslegung auch noch nicht abschließend beantwortet werden.

9. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die schon bei Abschluss eines Agenturvertrags mit einem arbeitnehmerähnlichen Versicherungsvertreter getroffene Vereinbarung, die (auch) im Fall der unbegründeten vorzeitigen Beendigung des Agenturvertrags durch den Versicherungsvertreter das Erlöschen der bei der Beendigung bereits verdienten, aber noch durch die Ausführung der vermittelten Versicherungsverträge bedingten Vermittlungsprovisionen in Gestalt von Folgeprovisionen ohne jede Einschränkung vorsieht, sittenwidrig iSd § 879 Abs 1 ABGB ist.

Der Revision des Klägers ist daher Folge zu geben und das Ersturteil unter Einschluss des bereits abgewiesenen und in Rechtskraft erwachsenen Teiles (Hauptbegehren) wiederherzustellen.

Eine Kostenentscheidung hatte im Hinblick auf den Kostenvorbehalt des Erstgerichts nach § 52 Abs 1 ZPO zu unterbleiben (§ 52 Abs 3 ZPO).

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