Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Arbeitsrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der Kläger war ab 1. 3. 2005 bei der Beklagten im Rahmen des Studiengangs „D*****“ als Assistenz-Professor beschäftigt. Hinsichtlich dieses Studiengangs kam ihm die Funktion eines Fachbereichsleiters zu. Zudem war er mit der Leitung der Abteilung „A*****“ betraut. Sein Bruttogehalt belief sich auf monatlich 3.905,50 EUR; weiters erhielt er Zulagen für die Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten sowie für zusätzliche Lehrveranstaltungen. Der Kläger lebt mit seiner Gattin in einer Wohnung in S*****; die Mietkosten belaufen sich auf 1.300 EUR pro Monat. Das Einkommen seiner Gattin beträgt monatlich 2.820,50 EUR brutto.
Das Dienstverhältnis wurde von der Beklagten zum 31. 8. 2009 aufgekündigt. Der Betriebsrat sprach sich gegen die Kündigung des Klägers aus, überließ ihm jedoch die Anfechtung. Seit 1. 9. 2009 ist der Kläger als Dozent an der Fachhochschule S***** tätig. Die Lehrinhalte sind mit seiner bisherigen Lehrtätigkeit vergleichbar, er verfügt aber weder über eine Fachbereichsleitung noch über eine Assistenzprofessur. Er hat auch keinen Einfluss auf die technische Ausstattung und keine Budget- und Mitarbeiterverantwortung. Sein Einkommen in S***** beläuft sich auf monatlich 3.890 EUR brutto. Die monatlichen Kosten für die Bahnfahrt zwischen S***** und S***** betragen 149 EUR.
Der Kläger begehrte, die ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung wegen Sozialwidrigkeit für unwirksam zu erklären. Die Kündigung beeinträchtige seine Interessen, weil er eine vergleichbare Stelle nicht mehr erlangen könne. Mit seiner Tätigkeit als Fachhochschul-Dozent in S***** seien erhebliche finanzielle Nachteile verbunden, weil er beträchtliche Fahrtkosten und Kosten für eine Kleinwohnung aufwenden müsse. Die Einkommenseinbuße betrage zumindest 25 %. Ein Umzug nach S***** komme aus familiären Gründen nicht in Betracht. Die Kündigung sei weder durch in seiner Person gelegene Umstände noch durch betriebliche Erfordernisse der Beklagten begründet.
Die Beklagte entgegnete, dass der Kläger in sämtlichen Medienbereichen einsatzfähig sei und daher auch etwa bei einem Fernsehsender arbeiten könne. Das Nichtvorliegen einer Sozialwidrigkeit ergebe sich schon daraus, dass er übergangslos ein adäquates Dienstverhältnis an der Fachhochschule S***** angetreten habe.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger sei nahtlos in ein neues Beschäftigungsverhältnis im Hochschulwesen eingetreten. Auch wenn er geringe Gehaltseinbußen und zufolge des Zweitwohnsitzes zusätzliche Lebenshaltungskosten auf sich nehmen müsse, sei ihm der Nachweis der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen nicht gelungen. In der heutigen Zeit sei von den Arbeitnehmern eine größere Flexibilität und Mobilität zu fordern.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Da der Kläger nahtlos eine vergleichbare Lehrtätigkeit mit praktisch gleich hohem Einkommen an einer gleichwertigen Studieneinrichtung angetreten habe, könne er seine bisherige Lebensführung im Wesentlichen aufrecht erhalten. Umstände, die ihn an einer Übersiedlung nach S***** hinderten, habe er nicht geltend gemacht. Seine Mobilität auf dem Arbeitsmarkt (und auch jene seiner Gattin) seien nicht eingeschränkt. Außerdem erschienen die in der Entscheidung 8 ObA 153/97a angestellten Überlegungen teilweise überzogen, weshalb diese auf das berufliche und soziale Umfeld des Klägers nicht uneingeschränkt zu übertragen seien. Die Revision sei nicht zulässig, weil die Beurteilung der konkreten Interessenbeeinträchtigung des Klägers von keiner erheblichen Rechtsfrage abhänge.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers, mit der er die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen anstrebt.
Mit ihrer - durch den Obersten Gerichtshof freigestellten - Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, das Rechtsmittel des Klägers zurückzuweisen, in eventu diesem den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist entgegen dem - den Obersten Gerichtshof nicht bindenden - Ausspruch des Berufungsgerichts zulässig, weil sich die Beurteilung der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen des Klägers durch die Vorinstanzen als ergänzungsbedürftig erweist. Die Revision ist im Sinn des vom Kläger gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
1. Die in der Revision behaupteten Verfahrensmängel liegen, wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat, nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Bei den im gegebenen Zusammenhang kritisierten Ausführungen des Berufungsgerichts zur Übersiedlungsmöglichkeit des Klägers und auch seiner Gattin handelt es sich in Wirklichkeit um rechtliche Schlussfolgerungen.
2. Bei einer Kündigungsanfechtung nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG ist im ersten Schritt zu prüfen, ob dem Arbeitnehmer durch die Kündigung erhebliche soziale Nachteile entstehen, die über die normale Interessenbeeinträchtigung bei einer Kündigung hinausgehen (RIS-Justiz RS0051727 [T11]; RS0051746 [T7]; Gahleitner in Cerny/Gahleitner/Preiss/Schneller, Arbeitsverfassungs-recht III4 405). In die Untersuchung, ob durch die Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt werden, ist nicht nur die Möglichkeit der Erlangung eines neuen, einigermaßen gleichwertigen Arbeitsplatzes, sondern vielmehr die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage des Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen einzubeziehen (RIS-Justiz RS0051806; RS0051741). Es sind alle wirtschaftlichen und sozialen Umstände zueinander in Beziehung zu setzen und nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu gewichten (RIS-Justiz RS0110944; vgl auch 9 ObA 153/05y).
3.1 Die Beurteilung der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen ist in der Regel maßgeblich von den Arbeitsmarktchancen des gekündigten Arbeitnehmers abhängig. Allgemein muss zu diesem Zweck eine Prognose über die nach dem Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses aller Voraussicht nach wirksam werdenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Kündigung für den Arbeitnehmer erstellt werden (RIS-Justiz RS0051772; 8 ObA 12/07h; Gahleitner aaO 404 und 407; Wolligger in Neumayr/Reissner, ZellKomm § 105 Rz 149). Dabei ist die Arbeitsmarktlage für den Gekündigten möglichst konkret zu ermitteln (Wolliger aaO Rz 169).
Ereignisse, die nach Ende des Arbeitsverhältnisses eintreten, oder Entwicklungen, die in diesem Zeitraum stattfinden, sind dann zu berücksichtigen, wenn sie die Richtigkeit der im Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitsverhältnisses abgegebenen Prognose betreffen (vgl Gahleitner aaO 404). Der Umstand, dass der Arbeitnehmer tatsächlich einen gleichwertigen neuen Arbeitsplatz erlangt, ist somit bei der Beurteilung zu berücksichtigen.
3.2 Der Kläger hat übergangslos eine neue Beschäftigung an der Fachhochschule S***** gefunden. Auch wenn die Zulagen für gewisse Sonderleistungen weggefallen sind und er auch keine Leitungsaufgaben mit entsprechenden Verantwortlichkeiten mehr verrichtet, lässt sich die neue Tätigkeit angesichts der ähnlichen Lehrinhalte und der nur unwesentlich veränderten Einkommenssituation als vergleichbar beurteilen. Kann der Arbeitnehmer aufgrund der im Auflösungszeitpunkt herrschenden Arbeitsmarktlage ohne weiteres einen gleichwertigen Arbeitsplatz mit annähernd gleichen Verdienstmöglichkeiten erlangen, so werden wesentliche Interessen grundsätzlich nicht beeinträchtigt (Wolligger aaO Rz 155). Im vorliegenden Fall fällt allerdings ins Gewicht, dass sich der neue Arbeitsplatz des Klägers in S***** befindet. Demgegenüber lebt er mit seiner Gattin in S*****. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe keine Umstände geltend gemacht, die ihn an einer Übersiedlung nach S***** hinderten, kann demnach nicht aufrecht erhalten werden. Ebenso findet die rechtliche Schlussfolgerung, der Kläger und auch seine Gattin seien in ihrer Mobilität auf dem Arbeitsmarkt nicht eingeschränkt, in der Tatsachengrundlage keine Deckung. Die Ehegattin des Klägers ist als Akademikerin ganztägig in der Referatsleitung „F*****“ der U***** beschäftigt. Dafür, dass auch sie einen vergleichbaren Arbeitsplatz in S***** finden könnte, bestehen keine Anhaltspunkte. Da dem Kläger mit Rücksicht auf seine familiären Verhältnisse eine Übersiedlung nach S***** nicht zumutbar ist, kann auch nicht von seiner uneingeschränkten Mobilität ausgegangen werden. Vielmehr ist dem Kläger das Pendeln zwischen S***** und S***** zuzubilligen. Die Vorinstanzen gehen in dieser Hinsicht - im Einklang mit dem Vorbringen des Klägers - von einer Zweitwohnung in S***** aus, was angesichts der Entfernung auch naheliegend ist. Die Fahrtstrecke beträgt (in eine Richtung) rund 260 km, wofür eine Fahrzeit von zumindest rund zwei Stunden aufgewendet werden muss.
3.3 Bei Beurteilung der wesentlichen Interessenbeeinträchtigung sind im Fall eines gerechtfertigten Pendelns sowohl der finanzielle Mehraufwand als auch der Zeitaufwand und die Beeinträchtigung der Lebensqualität zu berücksichtigen (8 ObA 153/97a). Die Einschätzung des Berufungsgerichts, dass sich der Kläger nicht auf rücksichtswürdige soziale oder wirtschaftliche Aspekte stützen könne, erweist sich als unzutreffend. Es besteht kein Anlass, von den in der Entscheidung 8 ObA 153/97a zum Ausdruck gelangenden Grundsätzen und Wertungen abzugehen.
Im Fall des zu unterstellenden Wochenpendelns kann sich der Kläger außer auf die Fahrtkosten vor allem auf den zusätzlichen Aufwand für eine angemessene Zweitwohnung in S***** berufen. Die - über die steuerliche Pauschalierung hinausgehenden - Mehr-aufwendungen können nicht etwa mit dem Verkehrsabsetzbetrag („Pendlerpauschale“) abgetan werden (8 ObA 153/97a). Im Fall des Tagespendelns würde die erheblich verlängerte Fahrtzeit zum neuen Arbeitsplatz trotz nur geringer Entgelteinbuße zu einer wesentlichen Interessenbeeinträchtigung des Klägers führen (RIS-Justiz RS0107822).
4.1 Hat der Arbeitnehmer tatsächlich eine nach den dargestellten Grundsätzen allerdings nachteilige Stelle angenommen, so sind nach den allgemeinen Regeln seine Arbeitsmarktchancen zu beurteilen, weil er ansonsten die Beurteilung der Sozialwidrigkeit willkürlich beeinflussen könnte. In diesem Sinn ist grundsätzlich anhand eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens zu klären, ob der gekündigte Arbeitnehmer innerhalb welchen Zeitraums im angemessenen Nahbereich seines Wohnorts unter Einschluss des benachbarten Auslands, sodass ihm eine tägliche An- und Rückreise zumutbar ist, einen neuen Arbeitsplatz erlangen könnte, der seiner Ausbildung oder seiner ausgeübten Beschäftigung entspricht (vgl Gahleitner aaO 408 f).
4.2 Bei Beurteilung der Frage, welche Verweisungsposten dem Kläger zumutbar sind, ist die primäre Funktion des Tatbestandsmerkmals der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen zu berücksichtigen. Diese besteht darin, den Kündigungsschutz jenen Arbeitnehmern zu gewähren, die auf ihren Arbeitsplatz zur Deckung ihrer wesentlichen Lebenshaltungskosten angewiesen sind (vgl Gahleitner aaO 408; Wolligger aaO Rz 156; Schrank in Tomandl, Arbeitsverfassungsgesetz Rz 140). Die berufliche Situation des Klägers betrifft nicht den typischen Fall, der nach der Zielrichtung des § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG der Beschränkung der Kündigungsmöglichkeit zugrunde liegt. Bei besonders qualifizierten Tätigkeiten wie im Hochschulbereich, für die erfahrungsgemäß nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl an Stellen zur Verfügung stehen, erscheint daher die Anwendung großzügigerer Verweisungskriterien gerechtfertigt. Beim Kläger wird demnach in erster Linie auf eine seiner Ausbildung und seinen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit abzustellen sein. Die Prüfung kann daher nicht etwa auf eine Tätigkeit im Hochschul- oder Fachhochschulbereich oder überhaupt auf Lehr- und Vortragstätigkeiten beschränkt bleiben. Ebenso wenig kann er sich auf eine Leitungsfunktion mit Budget- und Mitarbeiterverantwortung berufen. In diesem Sinn hat er - in Erfüllung seiner Behauptungs- und Beweislast (Gahleitner aaO 407) - auch allgemein bestritten, in Österreich und Deutschland einen vergleichbaren (zumutbaren) Arbeitsplatz in der Medienbranche bzw in der Wirtschaft zu erhalten.
Mit der Bezugnahme auf das befristete Arbeitsverhältnis des Klägers in S***** kann die Beklagte - entgegen den Ausführungen in der Revisionsbeantwortung - nicht dokumentieren, dass das wiederholte (jährliche) Wechseln des Arbeitsplatzes und des Arbeitsorts zur typischen Form der Lebensführung im Bereich der Lehre und Wissenschaft gehöre. Vielmehr führt das Vorhandensein nur eines befristeten Arbeitsverhältnisses grundsätzlich zur Interessenbeeinträchtigung, wenn das bisherige Arbeitsverhältnis zeitlich nicht begrenzt war (Wolligger aaO Rz 159).
5. Da noch nicht abschließend beurteilt werden kann, ob durch die in Rede stehende Kündigung wesentliche Interessen des Klägers beeinträchtigt wurden, muss eine Auseinandersetzung mit einer allfälligen - erst im zweiten Schritt zu prüfenden - Rechtfertigung durch hier in der Person des Arbeitnehmers liegende Umstände, die betriebliche Interessen nachteilig berühren, sowie mit der im Anschluss daran vorzunehmenden Interessenabwägung (vgl RIS-Justiz RS0051818; RS0051970) derzeit nicht stattfinden.
Zusammenfassend ergibt sich, dass bei der Beurteilung der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG im Fall eines gerechtfertigten Wochenpendelns jedenfalls der dafür aufzuwendende finanzielle Mehraufwand zu berücksichtigen ist. Hat der Arbeitnehmer tatsächlich eine allerdings nachteilige neue Arbeitsstelle angenommen, so sind unabhängig davon seine Arbeitsmarktchancen zum Konkretisierungszeitpunkt zu beurteilen. Bei besonders qualifizierten Tätigkeiten erscheint es dabei gerechtfertigt, die Prüfung allgemein auf solche Tätigkeiten zu beziehen, die der Ausbildung und den Fähigkeiten des Arbeitnehmers entsprechen, und nicht auf die tatsächlich ausgeübte Beschäftigung und die damit verbundene berufliche Stellung zu beschränken.
Im fortgesetzten Verfahren wird somit vorerst ein berufskundliches Sachverständigengutachten zu den Arbeitsmarktchancen des Klägers im Konkretisierungszeitpunkt einzuholen und das Vorliegen einer wesentlichen Interessenbeeinträchtigung zu beurteilen sein.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO iVm § 58 Abs 1 ASGG.
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