European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:008OBA00004.20A.0424.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO
zurückgewiesen.
Begründung:
Der Kläger war bei der beklagten Partei, einem Gemeindeverband in Tirol, vom 10. 2. 1997 bis zu seiner Pensionierung am 31. 7. 2018 als Klärwärter beschäftigt. Für seine reguläre Arbeitszeit von 40 Stunden (Montag bis Donnerstag 8:00 bis 17:00 Uhr und Freitag 8:00 bis 12:00 Uhr) erhielt er einen Grundbezug von zuletzt rund 2.000 EUR. Zusätzlich leistete er von Montag bis Donnerstag Nachtbereitschaftsdienste, und zwar von jeweils 17:00 Uhr bis 8:00 Uhr des Folgetages, und in einem dreiwöchigen Rhythmus den Wochenendrufbereitschaftsdienst von Freitag 12:00 Uhr bis Montag 8:00 Uhr. Diese Dienste beruhten auf einem Beschluss der Verbandsversammlung der Beklagten vom 5. 3. 1998. Darin wurde für die Rufbereitschaftsdienste eine pauschale Bereitschaftsdienstzulage in Höhe von damals monatlich 1.000 ATS brutto vorgesehen. In einem dem Beschluss als Beilage angefügten Protokoll über ein Gespräch vom 3. 3. 1998, an dem der damalige Obmann und der damalige Geschäftsführer der Beklagten, der Kläger und zwei weitere Klärwärter teilnahmen, war (auch) die Vereinbarung festgehalten worden, dass die Rufbereitschaft von der Beklagten zu bezahlen ist. Die dem Kläger monatlich bezahlte pauschale Rufbereitschaftsdienstzulage wurde über die Jahre erhöht; sie betrug zuletzt (2018) 99,74 EUR. Die Bereitschaftsdienste waren so geregelt, dass der Kläger seinen Aufenthaltsbereich so wählen musste, dass er innerhalb einer Zeitspanne von 30 Minuten in einem Störungsfall, der ein sofortiges Einschreiten erforderte, bei den Kläranlagen sein konnte. Zudem hatte der Kläger während dieser Dienste darauf zu achten, einen Alkoholisierungsgrad von 0,5 Promille nicht zu überschreiten. In der Zeit zwischen März 2014 und Juni 2018 traten während der Nacht- und Wochenendbereitschaftsdienste des Klägers insgesamt zwölf Störungen an den Kläranlagen auf, die eine Störungsbehebung durch diesen erforderten. Musste der Kläger während seiner Bereitschaftsdienste arbeiten, wurde ihm dies zusätzlich entlohnt.
Mit seiner Klage begehrte der Kläger nach Klagsausdehnung für den Zeitraum März 2014 bis Juni 2018 (auch) den sich aus der Differenz zwischen den ihm bezahlten Rufbereitschaftsdienstzulagen und dem sich unter Zugrundelegung von 3 EUR brutto pro Bereitschaftsstunde ergebenden Betrag.
Das Berufungsgericht bestätigte das insofern klagsabweisende Ersturteil und ließ die ordentliche Revision nicht zu.
In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage der von § 502 Abs 1 ZPO
geforderten Qualität auf.
Rechtliche Beurteilung
1. Der Kläger begründet die Zulässigkeit seines Rechtsmittels iSd § 502 Abs 1 ZPO damit, dass das Berufungsurteil mit der Entscheidung 8 ObA 61/18f nicht im Einklang zu bringen sei. Aus dieser Entscheidung ist für ihn nichts zu gewinnen, weil sie zu einem Fall erging, in welchem die Arbeitsvertragsparteien zwar die ständige Rufbereitschaft vereinbart, über deren Entlohnung aber gerade keine Vereinbarung getroffen hatten, weshalb dem Arbeitnehmer nach § 1052 ABGB ein angemessenes ortsübliches Entgelt gebührte (siehe Pkt 1.3 und 2.3 jener Entscheidung). Hier schloss der Kläger hingegen – auch nach der von ihm insofern nicht beanstandeten Beurteilung der Vorinstanzen – über seine Rufbereitschaft sowohl hinsichtlich ihrer Leistung in dem bestimmten, sodann über viele Jahre auch gelebten Ausmaß, als auch – insofern zumindest schlüssig – über die Höhe ihrer (pauschalen) Abgeltung eine Vereinbarung.
2. Nach § 30 Abs 3 Satz 1 des unstrittig auf das Dienstverhältnis des Klägers zur Beklagten anzuwendenden (Tiroler) Gemeinde-Vertragsbedienstetengesetzes 2012 (G‑VBG 2012) kann der Vertragsbedienstete, soweit es dienstliche Rücksichten zwingend erfordern, verpflichtet werden, in seiner dienstfreien Zeit seinen Aufenthalt so zu wählen, dass er jederzeit erreichbar und binnen kürzester Zeit zum Antritt seines Dienstes bereit ist (Rufbereitschaft). Rufbereitschaft gilt nicht als Dienstzeit (Satz 2 leg cit). Der Kläger releviert, dass diese Bestimmung, indem sie anders als die – hier unstrittig nicht anzuwendende – Bestimmung des § 20a AZG keinerlei „mengenmäßige“ Begrenzungen der Rufbereitschaft kennt, jedenfalls in seinem Fall einer durchgehenden Rufbereitschaft unter der Woche der Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88/EG zuwiderlaufe. Er schließt daraus, dass es sich bei seiner Rufbereitschaft in Wahrheit um Vollarbeitszeit gehandelt habe, und leitet daraus ab, dass ihm das Entgelt für Vollarbeitszeit und damit zumindest der begehrte, ohnehin niedrigere Betrag zustehe. Weiters verweist der Kläger auf Rz 58 des Urteils des EuGH C‑518/15 in der Rechtssache Matzak. Darin führte der EuGH aus, dass es das Ziel der Richtlinie 2003/88/EG , die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten, gefährden würde, wenn der Bereitschaftsdienst in Form von persönlicher Anwesenheit am Arbeitsplatz nicht unter den Begriff „Arbeitszeit“ fiele.
2.1. Rufbereitschaft besteht darin, dass der Arbeitnehmer für den Arbeitgeber lediglich erreichbar sein muss, wobei er seinen Aufenthaltsort selbst wählen und über die Verwendung solcher Zeiten im Wesentlichen frei entscheiden kann (RIS‑Justiz RS0051403 [T1]). Für die
Rufbereitschaft ist damit ein Mischverhältnis zwischen Arbeit und Freizeit charakteristisch (9 ObA 71/04p = DRdA 2006/16 [B. Schwarz]; Schnittler, Glosse zu 8 ObA 61/18f in DRdA 2019, 538 [540]; Heilegger in Gasteiger/Heilegger/Klein, Arbeitszeitgesetz5 § 20a Rz 12). Bei der – in vollem Ausmaß als Arbeitszeit zu qualifizierenden – Arbeitsbereitschaft hat sich der Arbeitnehmer demgegenüber an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort mit der Bereitschaft zur jederzeitigen Aufnahme der Arbeitsleistung im Bedarfsfall aufzuhalten (RS0051403 [T6]; 9 ObA 77/19t). Aber auch bei Fehlen der Pflicht, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, können die durch die Rufbereitschaft verbundenen Einschränkungen, wie persönliche – etwa ein Alkoholverbot – oder örtliche– insbesondere die Notwendigkeit, nach Erhalt eines Rufes in einer bestimmten Zeit den Arbeitsort zu erreichen –, in Verbindung mit der Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit des Einsatzes ein derartiges Ausmaß erreichen, dass sich die Rufbereitschaft der Arbeitsbereitschaft annähert (Darstellung der sich aus der Rechtsprechung ergebenden Kriterien jüngst bei Schnittler aaO 539). Insbesondere ausgehend davon, dass der Kläger immerhin eine halbe Stunde Zeit hatte, die Kläranlagen zu erreichen, ihm nur eine Alkoholisierung von über 0,5 Promille verboten war und vor allem aufgrund des vom Berufungsgericht hervorgehobenen Umstandes, dass grob berechnet nur an 1 bis 2 % der Bereitschaftstage eine Störungsbehebung durch den Kläger während der Rufbereitschaftszeiten notwendig war, hält sich die Beurteilung der Vorinstanzen, hier habe (noch) Rufbereitschaft bestanden, im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums. Die bloße
Rufbereitschaft ist nach ständiger Rechtsprechung aber gerade nicht als Arbeitszeit im engeren Sinn zu werten (RS0021691 [T1]; Heilegger aaO § 20a Rz 9).
2.2. Die vom Kläger aufgeworfene Frage der Unionsrechtskonformität des § 30 Abs 3 G‑VBG 2012 bedarf hier keiner Erörterung. Der Kläger vermag nicht darzustellen, inwieweit sich daraus das von ihm begehrte Entgelt ergebe.
3. Der Kläger beanstandet, dass die Vorinstanzen die Sittenwidrigkeit der Höhe der Entschädigung für die Rufbereitschaft zu Unrecht verneint hätten.
3.1. Wird – wie dies bei der Rufbereitschaft der Fall ist – die Zeit des Dienstnehmers nicht so weit in Anspruch genommen, dass von einer eigentlichen Dienstleistung oder einer gleichwertigen Tätigkeit gesprochen werden könnte, kann für die betreffende Zeit ein geringeres Entgelt als für die eigentliche Arbeitsleistung und sogar Unentgeltlichkeit vereinbart werden (vgl RS0021656; RS0021667). Mangels Vereinbarung gebührt gemäß § 1152 ABGB für die
Rufbereitschaft ein ortsübliches bzw angemessenes Entgelt. In der Regel ist die
Rufbereitschaft dabei geringer zu entlohnen als die Leistung selbst (RS0027969).
3.2. Ein Anspruch des Dienstnehmers auf ein bestimmtes Mindestentgelt lässt sich aus § 1152 ABGB nicht ableiten (RS0016702 [T1]). Ist im Vertrag (auch schlüssig) ein Entgelt (dem Grunde und der Höhe nach) bestimmt, kommt daher § 1152 ABGB selbst dann, wenn das vereinbarte Entgelt unangemessen niedrig ist, grundsätzlich nicht zur Anwendung. Eine unangemessene niedrige Entgeltvereinbarung bleibt vielmehr gültig, soweit nicht eine Regelung durch kollektive Rechtsgestaltung bzw eine lohngestaltende Vorschrift vorliegt, die ein höheres Mindestentgelt zwingend vorschreibt, oder sittenwidriger „Lohnwucher“ iSd § 879 ABGB gegeben ist (9 ObA 2267/96i = ZAS 1997/21 [E. Steininger]; 8 ObA 17/12a [Pkt 4.2]; RS0016668; Spenling in KBB5 § 1152 Rz 3).
Lohnwucher wird von der Rechtsprechung bei „Schuld- und Hungerlöhnen“ angenommen, deren Höhe in auffallendem Missverhältnis zum Wert der Leistung des Dienstnehmers steht, wenn ihre Vereinbarung durch Ausbeutung des Leichtsinns, einer Zwangslage, der Unerfahrenheit oder der Verstandesschwäche des Dienstnehmers zustande gekommen ist (8 ObA 63/18z [Pkt 2] = DRdA 2019/43 [Th. Dullinger]). Nur wenn die Entgeltabrede iSd § 879 ABGB sittenwidrig ist, tritt an die Stelle des vereinbarten das angemessene Entgelt iSd § 1152 ABGB (Spenling in KBB5 § 1152 Rz 3; Kietaibl/Rebhahn in ZellKomm3 § 879 Rz 24 f; Pfeil in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 1152 Rz 16; jüngst eingehend zur Thematik Dorer, Sittenwidrige Entgeltvereinbarungen in Arbeitsverträgen – Die Grenzen der Sittenwidrigkeit iSd § 879 ABGB [2019] 41 f; 49 ff mzwN).
3.3. Ob Sittenwidrigkeit vorliegt, ist eine Frage des Einzelfalls, die nicht aufzugreifen ist, wenn das Berufungsgericht bei dieser Entscheidung die Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens nicht überschritten hat (RS0042881 [insb T8]). Tatbestandsmerkmal des Lohnwuchers und der Sittenwidrigkeit der Entgeltabrede nach der Generalklausel des § 879 Abs 1 ABGB ist jedenfalls das objektive Missverhältnis der Hauptleistungspflichten (Rebhahn in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.03 § 1152 Rz 12; allgemein Bollenberger in KBB5 § 879 Rz 18). Es kann hinsichtlich des objektiven Missverhältnisses – der Abweichung zwischen dem vereinbarten und dem angemessenen Lohn – eine genaue Grenze, ab der insofern grundsätzlich eine „sittenwidrige Entgelthöhe“ vorliegen würde, nicht gefunden werden, sodass es insofern auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls ankommt (vgl Dorer, Entgeltvereinbarungen 58). Nähere Anhaltspunkte für ein solches Missverhältnis und die Sittenwidrigkeit der Entgeltabrede nach der Generalklausel des § 879 Abs 1 ABGB stellt die Revision auch nicht dar (vgl zum Lohnwucher RS0016702).
Die Sittenwidrigkeitsklausel ist – wie bereits vom Berufungsgericht zutreffend erkannt – ein restriktiv einzusetzendes Regulativ, das nur in jenen krassen Fällen, in denen dem Rechtsgefühl aller
billig und gerecht Denkenden zuwider gehandelt wird, die grundsätzlich zu gewährende Vertragsfreiheit einschränkt (RS0113654).
4. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Zurückweisungsbeschluss nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)