OGH 6Ob82/07p

OGH6Ob82/07p25.5.2007

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Pimmer als Vorsitzenden und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler und Univ. Doz. Dr. Kodek als weitere Richter in der Rechtssache des Erstantragstellers Peter Christian W*****, vertreten durch Dr. Josef Peißl, Rechtsanwalt in Köflach, und der Zweitantragstellerin Josefa Ida M*****(geschiedene W*****), *****, vertreten durch Mag. Herbert Ortner, Rechtsanwalt in Voitsberg, als Verfahrenshelfer, wegen Ehescheidung, über den Revisionsrekurs der Zweitantragstellerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 4. Dezember 2001, GZ 1 R 349/01b-10, womit der Rekurs der Zweitantragstellerin gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Voitsberg vom 24. September 1998, GZ 11 C 103/98-5, zurückgewiesen wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

1. Das mit Beschluss vom 14. März 2002, AZ 6 Ob 43/02w, unterbrochene Revisionsrekursverfahren wird von Amts wegen aufgenommen.

2. Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben; dem Rekursgericht wird die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Zweitantragstellerin aufgetragen.

Text

Begründung

Die Antragsteller beantragten am 4. 9. 1998 vor dem Bezirksgericht Voitsberg die Scheidung ihrer Ehe gemäß § 55a EheG und gaben für den Fall der Scheidung einen Vergleich zu Protokoll.

Mit Beschluss des Bezirksgerichts Voitsberg vom 24. 9. 1998 wurde die Ehe antragsgemäß nach § 55a EheG geschieden. Nach Verkündung des Beschlusses und nach Rechtsbelehrung erklärten beide Parteien, auf Rechtsmittel zu verzichten. Ausfertigungen des Scheidungsbeschlusses und des Vergleichs wurden den Parteien jeweils am 13. 10. 1998 zugestellt. Die Parteien waren im erstinstanzlichen Scheidungsverfahren anwaltlich nicht vertreten.

Am 30. 10. 2001 stellte die durch eine Verfahrenshelferin vertretene Zweitantragstellerin den Antrag, den Scheidungsbeschluss samt Scheidungsvergleich ihrer Verfahrenshelferin zuzustellen. Sie sei zum Zeitpunkt der Scheidung am 24. 9. 1998 und schon lange davor und auch lange Zeit danach aufgrund schwerer Depressionen geschäftsunfähig gewesen. Ihr Rechtsmittelverzicht sei unwirksam. Nunmehr sei sie aufgrund ihrer derzeitigen guten psychischen Verfassung geschäftsfähig.

Der Verfahrenshelferin wurde der Scheidungsbeschluss am 14. 11. 2001 zugestellt. Mit ihrem am 22. 11. 2001 beim Erstgericht eingelangten Rekurs beantragte die Zweitantragstellerin unter Wiederholung der Behauptungen über ihre Geschäftsunfähigkeit und Prozessunfähigkeit, den Scheidungsbeschluss vom 24. 9. 1998 samt Scheidungsvereinbarung als nichtig aufzuheben. Der Rechtsmittelverzicht und die Zustellung des Scheidungsbeschlusses seien unwirksam. Der Beschluss sei nicht in Rechtskraft erwachsen. Die Rekurswerberin leide seit Jahren an schweren Depressionen und befinde sich deswegen seit 25 Jahren in psychiatrischer Behandlung. In den letzten Monaten habe sich ihr Zustand aber so weit gebessert, dass sie nunmehr prozessfähig sei. Vorsichtshalber werde die Scheidungsvereinbarung widerrufen. Das Rekursgericht wies den Rekurs als unzulässig zurück. Die Antragstellerin stütze sich auf eine Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 5 ZPO, die nur bis zum Eintritt der formellen Rechtskraft der Entscheidung, danach aber nur mehr mit Nichtigkeitsklage geltend gemacht werden könne. Die formelle Rechtskraft trete ein, wenn eine Entscheidung unanfechtbar geworden sei, es also dagegen keine Rechtsmittel mehr gebe, sei es, dass die Rechtsmittelfrist ungenützt abgelaufen sei, ein Rechtsmittel zurückgenommen worden oder - wie hier - ein Rechtsmittelverzicht abgegebenen worden sei. Da nach ständiger Rechtsprechung eine analoge Anwendung der Bestimmungen über die Nichtigkeitsklage (§§ 529 ff ZPO) im Verfahren außer Streitsachen unzulässig sei, könne die Nichtigkeit auch nicht mit einem Nichtigkeitsantrag geltend gemacht werden. Der Scheidungsvergleich könne nur im Rechtsweg angefochten werden.

Das Rekursgericht sprach zunächst aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, änderte diesen Ausspruch aber über Antrag der Rekurswerberin dahin ab, dass der ordentliche Revisionsrekurs doch zulässig sei, weil die Entscheidung des Rekursgerichts zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 4 Ob 543/92 in Widerspruch stehe.

Mit ihrem ordentlichen Revisionsrekurs beantragt die Zweitantragstellerin die Abänderung dahin, dass der Scheidungsbeschluss und das vorangegangene Scheidungsverfahren für nichtig erklärt werden, hilfsweise die Aufhebung zur Verfahrensergänzung.

Der Erstantragsteller beantragt mit seiner Rechtsmittelbeantwortung, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

Mit Beschluss vom 14. März 2002, AZ 6 Ob 43/02w, übermittelte der Oberste Gerichtshof die Akten dem Bezirksgericht Voitsberg als Pflegschaftsgericht mit der Verständigung, dass sich bei der Revisionsrekurswerberin mit Beziehung auf den vorliegenden Rechtsstreit Anzeichen für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 273 ABGB ergeben haben. Das Verfahren wurde bis zur Entscheidung des Pflegschaftsgerichts unterbrochen.

Das Pflegschaftsgericht stellte mit dem in Rechtskraft erwachsenen Beschluss vom 12. Juli 2002, GZ 1 P 131/02k-5, das Verfahren zur Bestellung eines Sachwalters für die Revisionsrekurswerberin ein, weil bei der Betroffenen keine Anzeichen einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung erkennbar seien.

Der Oberste Gerichtshof wurde von dem Einstellungsbeschluss nicht verständigt. Er erfuhr davon erst aus Anlass einer im März 2007 eingelangten Eingabe der Revisionsrekurswerberin.

Rechtliche Beurteilung

1. Nach Vorliegen der rechtskräftigen Entscheidung des Pflegschaftsgerichts war das Revisionsrekursverfahren von Amts wegen aufzunehmen (3 Ob 2322/96h; RIS-Justiz RS0037720).

2. Der Revisionsrekurs, auf den noch die Bestimmungen des Außerstreitgesetzes 1854 anzuwenden sind (§ 203 Abs 7 AußStrG, BGBl I 2003/111), ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt, weil die Frage, ob der Rekurs wegen des Rechtsmittelverzichts unzulässig ist, mangels der erforderlichen Feststellungen noch nicht abschließend beurteilt werden kann.

a) Gemäß § 73 Abs 1 AußStrG 2003 kann nach dem Eintritt der (formellen) Rechtskraft eines Beschlusses, mit dem über die Sache entschieden wurde, seine Abänderung beantragt werden, wenn die Partei in dem vorangegangenen Verfahren nicht vertreten war (Z 1) oder die Partei eines gesetzlichen Vertreters bedarf und nicht durch einen solchen vertreten war und die Verfahrensführung nicht nachträglich genehmigt wurde (Z 2). Diese Gründe eines Abänderungsantrags entsprechen dem Nichtigkeitsklagegrund nach § 529 Abs 1 Z 2 ZPO. Die Bestimmungen über das Abänderungsverfahren (§§ 72 bis 77 AußStrG neu) sind jedoch im vorliegenden Verfahren nicht anwendbar (§ 203 Abs 8 AußStrG 2003).

b) Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Entscheidung 8 Ob 699/86 (= JBl 1989, 186) zur Rechtslage nach dem Außerstreitgesetz 1854 ausgesprochen, dass im Verfahren über die einvernehmliche Scheidung (§§ 220 ff AußStrG 1854) eine Nichtigkeitsklage aus dem Grund des § 529 Abs 1 Z 2 ZPO unzulässig ist. Er hält auch in seiner jüngsten Rechtsprechung zum Außerstreitgesetz 1854 daran fest, dass die Vorschriften über die Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage der Zivilprozessordnung im Außerstreitverfahren nicht analog angewendet werden können (1 Ob 80/05d; 9 Ob 11/05s; 6 Ob 86/03w; RIS-Justiz RS0007194).

c) Sollte die Revisionsrekurswerberin am 24. 9. 1998 prozessunfähig gewesen sein, so war der von ihr damals erklärte Rechtsmittelverzicht unwirksam. Ihr stand für die Anfechtung des Scheidungsbeschlusses die 14-tägige Rekursfrist ab Zustellung des Scheidungsbeschlusses (§ 11 Abs 3 AußStrG 1854) offen, weil dieser mangels Verzichts auf die Zustellung einer Beschlussausfertigung jedenfalls noch nicht mit der mündlichen Verkündung wirksam geworden war (4 Ob 543/92). Die zur Beurteilung der Frage, ob die Revisionsrekurswerberin am 24. 9. 1998 prozessunfähig war, erforderlichen Feststellungen wird das Rekursgericht nach entsprechender Beweisaufnahme zu treffen haben. Sollte es die Prozessunfähigkeit der geschiedenen Ehefrau an diesem Tag annehmen, wird es auch zu prüfen haben, ob dieser Mangel nicht bereits bei der Zustellung der Entscheidung oder später weggefallen ist und dadurch die Rekursfrist in Lauf gesetzt wurde.

d) In der Entscheidung des verstärkten Senats 1 Ob 6/01s (= SZ 74/200) sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass unter Rechtskraft im Sinn des § 529 Abs 1 Z 2 und Abs 2 ZPO sowie des § 534 Abs 2 Z 2 und Abs 3 ZPO die formelle Rechtskraft zu verstehen sei, die auch dann eintritt, wenn die Prozessunfähigkeit der Partei nicht erkannt wurde. Die Partei, die ihre Prozessunfähigkeit behauptet, könne mit dem ihr zu Gebote stehenden ordentlichen Rechtsmittel den Nichtigkeitsgrund geltend machen. Sei die Rechtsmittelfrist verstrichen, daher die formelle Rechtskraft eingetreten, könne sie bis spätestens vier Wochen nach der - jedoch keine Zulässigkeitsvoraussetzung bildenden - Zustellung an ihren gesetzlichen Vertreter durch diesen eine Nichtigkeitsklage aus dem Grund des § 529 Abs 1 Z 2 ZPO erheben. Der Partei stehe demnach kein Wahlrecht zwischen Nichtigkeitsklage und dem Antrag auf Zustellung samt hierauf folgender Berufung zu. Gegen die Zustellung allein könne freilich nicht die Nichtigkeitsklage erhoben werden. Sei die Prozessunfähigkeit nur zur Zeit der Urteilszustellung vorgelegen, dann könne die neuerliche Zustellung entweder an die nun wieder prozessfähig gewordene Partei oder an ihren gesetzlichen Vertreter begehrt werden (zur E 1 Ob 6/01s s E. Kodek in Rechberger³, ZPO § 529 Rz 6 f mwN). Diese Entscheidung (und

ihr folgend die oberstgerichtlichen Entscheidungen 5 Ob 261/05a =

EvBl 2006/124; 7 Ob 5/06w; 4 Ob 182/06b = EvBl 2007/29) geht von dem

in Rechtsprechung und Lehre bislang vertretenen Grundsatz ab, dass die Zustellung an eine prozessunfähige Partei unwirksam ist (s dazu Stummvoll in Fasching/Konecny² § 87 ZPO [§ 13 ZustG Rz 7, 8 mwN]), wenn die Zustellung der Entscheidung an eine schon während des Verfahrens prozessunfähig gewesene Partei die Rechtsmittelfrist in Gang setzt, mit deren Ablauf die formelle Rechtskraft eintritt. Diese Rechtsprechung ist vor dem Hintergrund der im Verstärkungsbeschluss dargestellten divergierenden Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit einer aus dem Grund des § 529 Abs 1 Z 2 Fall 2 ZPO (dem der Abänderungsgrund nach § 73 Abs 1 Z 2 AußStrG entspricht) erhobenen Nichtigkeitsklage zu sehen. In Verfahren - wie dem vorliegenden -, in denen eine Nichtigkeitsklage oder analog ein Nichtigkeitsantrag aus dem angeführten Nichtigkeitsgrund nicht zulässig ist, ist an dem Grundsatz, dass die Zustellung an eine prozessunfähige Partei unwirksam ist, festzuhalten (vgl 3 Ob 204/00x für Beschlüsse in Exekutionsverfahren, in denen die Nichtigkeitsklage nicht zulässig ist). Sonst käme es nämlich zu einem nicht hinnehmbaren Rechtsschutzdefizit. Vielfach wäre eine durch die Zustellung an eine prozessunfähige Partei ausgelöste Rechtsmittelfrist nämlich schon abgelaufen, bevor der Mangel der Prozessfähigkeit entdeckt wird.

Im vorliegenden Verfahren ist demnach davon auszugehen, dass die Zustellung nicht wirksam war und die Rechtsmittelfrist nicht auslöste, wenn die Revisionsrekurswerberin zum Zeitpunkt der Zustellung tatsächlich prozessunfähig war. Diesfalls wird aber das Gericht zweiter Instanz zu prüfen haben, ob eine Heilung der Unwirksamkeit im Sinn des § 7 ZustG eingetreten und der Rekurs verspätet ist. Wie der Oberste Gerichtshof im Besonderen im Verfahren zur einvernehmlichen Scheidung nach §§ 220 ff AußStrG 1854 für den Fall der Zustellung des Scheidungsbeschlusses an einen Prozessunfähigen bereits ausgesprochen hat, besteht beim Empfänger, dem das Schriftstück (Dokument) durch die Zustellung „tatsächlich zugekommen" ist, mit dem Wegfall der Prozessunfähigkeit wieder die Möglichkeit der Kenntnisnahme. Sie setzt jedoch das Bewusstsein voraus, dass ihm die betreffende Sendung bereits zugekommen ist. An das Wiedererlangen der Prozessfähigkeit wird daher nicht ohne weiteres die Rechtsfolge des Beginns des Laufes der Rechtsmittelfrist zu knüpfen sein. Vielmehr ist zu prüfen, ob der im Zustellzeitpunkt prozessunfähige Empfänger im Zeitpunkt des Wegfalls der Prozessunfähigkeit das Bewusstsein hatte, dass ihm die Sendung bereits zugekommen ist.

Auch zu diesen Voraussetzungen der Sanierung einer allenfalls unwirksamen Zustellung wurden weder Erhebungen durchgeführt noch Feststellungen getroffen. Aus dem Umstand allein, dass die Rekurswerberin vertreten durch eine als Verfahrenshelferin beigegebene Rechtsanwältin am 25. 9. 2001 beim Bezirksgericht Voitsberg zum AZ 11 C 124/01f eine - schließlich wegen sachlicher Unzuständigkeit rechtskräftig zurückgewiesene - Klage auf Anfechtung des Scheidungsfolgenvergleichs einbrachte, lässt sich nicht gesichert ableiten, dass die Revisionsrekurswerberin damals tatsächlich prozessfähig war und das Bewusstsein hatte, dass ihr die Sendung bereits zugekommen war, wenngleich für Letzteres ein Indiz darin liegen mag.

In Stattgebung des Revisionsrekurses war daher der Beschluss des Rekursgerichtes aufzuheben und die Rechtssache an das Gericht zweiter Instanz zurückzuverweisen, das nach Durchführung geeigneter Erhebungen sämtliche Feststellungen zu treffen haben wird, die im Sinn der dargestellten Rechtslage zur Beurteilung der Zulässigkeit bzw Rechtzeitigkeit des Rekurses der Zweitantragstellerin gegen den Scheidungsbeschluss erforderlich sind.

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