OGH 6Ob37/06v

OGH6Ob37/06v6.4.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Sailer, Dr. Schramm und Dr. Gitschthaler als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. Mabroka A*****, 2. mj Mohamed R*****, 3. mj Oum-Alhanah R*****, und 4. mj Rajaa R*****, alle *****, Libyen, vertreten durch Dr. Karl Bollmann, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Dr. Ewa L*****, vertreten durch Schuppich Sporn & Winischhofer Rechtsanwälte in Wien, und den auf Seiten der beklagten Partei beigetretenen Nebenintervenienten Dr. Ingomar K*****, vertreten durch Dr. Irene Pfeifer, Rechtsanwältin in Wien, wegen 159.588,30 EUR und Feststellung (Streitwert 25.435,48 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 5. Dezember 2005, GZ 16 R 247/05v, 16 R 248/05s, 16 R 249/05p-118, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Text

Begründung

Rafallah E***** unterzog sich am 19. 8. 1988 einer Zahnbehandlung durch den Nebenintervenienten in dessen Ordination. Über seinen ausdrücklichen Wunsch sollte sie in Vollnarkose durchgeführt werden. Die Beklagte wurde dabei als Anästhesistin tätig.

Der Patient litt an gravierender chronischer Hypertonie, die medikamentös behandelt wurde. Er wäre daher für eine Anästhesie in die Risikogruppe V einzustufen gewesen. Allerdings wussten davon weder die Beklagte noch der Nebenintervenient. Der Patient hatte (unter anderem) die Frage, ob er Medikamente nehme, ausdrücklich verneint.

Während der Behandlung des Patienten unter Vollnarkose kam es zu einem rapiden Blutdruckabfall bis zum Kreislaufstillstand. Die extreme Bradykardie war Reaktion auf das vom Patienten eingenommene Medikament gegen seine Hypertonie in Verbindung mit der Anästhesieeinleitung. Der Patient wurde zwar reanimiert, litt in weiterer Folge aber an einem apallischen Syndrom. Am 21. 12. 1996 starb er in einem Pflegeheim an den Folgen einer Lungenentzündung. Die Vorinstanzen wiesen das auf § 1327 ABGB gestützte Schadenersatzbegehren der Witwe und der Kinder des Patienten ab. Die von der Beklagten vorgenommene Narkosevorbereitung, die von ihr angewandte Narkosetechnik und die durchgeführten Reanimationsmaßnahmen seien fehlerfrei und den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend gewesen. Das Narkosegerät habe einwandfrei funktioniert. Der Routineeinsatz eines EKG-Geräts sei 1988 nicht Stand der ärztlichen Kunst in Österreich gewesen; im Übrigen sei die Beklagte auf Grund ihrer Erfahrung und ihrer ständigen Praxis fachlich derart qualifiziert gewesen, dass sie für kurze Anästhesien an gesunden Patienten ein Gerätemonitoring nicht benötigt habe.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision ist nicht zulässig.

1. Die Kläger werfen dem Berufungsgericht vor verkannt zu haben, dass die Beklagte gegen ihre Dokumentationspflicht verstoßen habe. Die fehlende Dokumentation begründe die Vermutung, dass die nicht dokumentierte Maßnahme vom behandelnden Arzt nicht getroffen wurde bzw der nicht dokumentierte Umstand nicht vorlag. Die Widerlegung der Vermutung durch den Arzt müsse sich auf Beweise stützen; liege ausschließlich die Erklärung des Arztes vor, reiche dies nicht aus. Das Argument des Berufungsgerichts, der Beklagten sei der Entlastungsbeweis gelungen, sei daher „zirkelhaft", andernfalls wäre die Vorschrift, ein Narkoseprotokoll führen zu müssen, „sinnentleert". Das Vorbringen der Kläger, die Komplikationen anlässlich der Behandlung des Patienten seien auf Fehler des eingesetzten Inhalationsnarkosegeräts, auf dessen falsche Einstellung, auf die Zuführung von Lachgas anstelle von Sauerstoff, auf die Verwendung unrichtiger oder eine zu hohe Dosierung allenfalls richtiger Narkosemittel, auf die Unterlassung eines Monitorings während der Narkose sowie auf eine verspätet bzw unter Einsatz ungeeigneter Medikamente erfolgte Reanimation zurückzuführen, seien somit unwiderlegt. Es sei nicht einmal ersichtlich, welches Narkosegerät die Beklagte überhaupt verwendet hat und welche Art des Kreislaufversagens beim Patienten eintrat (Bradykardie oder Asystolie).

Bereits im Jahr 1988 ergab sich die Verpflichtung zur Führung ärztlicher Aufzeichnungen nicht nur aus Vorschriften des öffentlichen Rechts bzw Standesrechts; sie war vielmehr auch Bestandteil des zwischen dem Patienten und dem Arzt abgeschlossenen Behandlungsvertrags (1 Ob 554/84 = SZ 57/98). Die ärztliche Dokumentation in Form von Operationsberichten und dergleichen wurde dabei bereits damals nicht nur als eine Gedächtnisstütze des Arztes, die er führen konnte oder auch nicht, angesehen; sie war vielmehr im Rahmen der ordnungsgemäßen Erfüllung des abgeschlossenen Behandlungsvertrags geschuldet (1 Ob 532/94 = SZ 67/9). Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshof hat die Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht im Prozess lediglich beweisrechtliche Konsequenzen. Sie führt dazu, dass dem Patienten zum Ausgleich der durch die Verletzung der Dokumentationspflicht eingetretenen größeren Schwierigkeiten, einen ärztlichen Behandlungsfehler nachzuweisen, eine der Schwere der Dokumentationspflichtverletzung entsprechende Beweiserleichterung zugute kommt, um auch für die Prozessführung eine gerechte Rollenverteilung im Arzt-Patienten-Verhältnis zu schaffen (4 Ob 554/95 = SZ 68/207; RIS-Justiz RS0026236). Diese Beweiserleichterung hilft dem Patienten allerdings lediglich insoweit, als sie die Vermutung begründet, dass eine nicht dokumentierte Maßnahme vom Arzt nicht getroffen wurde; sie begründet hingegen nicht die Vermutung objektiver Sorgfaltsverstöße (7 Ob 337/98d = RdM 1999/12; 9 Ob 6/02a). Die Frage nach der Verteilung der Beweislast bei Unterlassung einer Dokumentation kann somit erst dann bedeutsam werden, wenn die für den Verfahrensausgang als wesentlich erachteten Tatsachen nicht festgestellt werden können (1 Ob 139/04d = RdM 2004/124). Auf diese Grundsätze hat der Oberste Gerichtshof auch in mehreren Entscheidungen hingewiesen, die den verfahrensgegenständlichen Sachverhaltskomplex betrafen (2 Ob 235/97s; 6 Ob 258/00k = RdM 2001/29). So wurde in der zuletzt genannten Entscheidung - bei nahezu gleichlautenden Sachverhaltsfeststellungen wie im vorliegenden Verfahren - ausgeführt, es gehe nicht um die Frage des Kausalitätsbeweises oder um jene der Umkehr der Beweislast hinsichtlich des Verschuldens. Entscheidend sei lediglich, dass es dem (dort klagenden) Patienten nicht gelungen sei, der (hier beklagten) Narkoseärztin oder dem (dort beklagten) Nebenintervenienten einen objektiven Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst oder gegen die Anwendung der üblichen Sorgfalt anzulasten. Den Beweis des Vorliegens eines Behandlungsfehlers habe aber der Patient zu führen.

Weder gesetzlichen Anordnungen noch Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann in diesem Zusammenhang entnommen werden, dass es im Beweisverfahren zur Widerlegung einer aus einer Dokumentationspflichtverletzung resultierenden Vermutung auf die Aussage des behandelnden Arztes nicht ankommen könnte. Die gegenteilige, in der außerordentlichen Revision vertretende Auffassung käme einem - durch nichts begründeten - Beweismittelverbot gleich. Im Übrigen bliebe selbst die Übertretung eines Beweismittelverbots sanktionslos (vgl G. Kodek, Die Verwertung rechtswidriger Tonbandaufnahmen und Abhörergebnisse im Zivilverfahren. Zugleich ein Beitrag zur Verwertung rechtswidrig erlangter Beweismittel, ÖJZ 2001, 345; Rechberger in Fasching/Konecny² [2004] Vor § 266 ZPO Rz 72 mwN).

Damit stellen die Ausführungen der Kläger in Wahrheit eine im Revisionsverfahren unzulässige Beweisrüge dar.

2. Die Kläger meinen weiters, das von der Beklagten verwendete Narkosegerät habe nicht den damals geltenden ÖNORMEN entsprochen. Sie berufen sich auf die Ausführungen des vom Erstgericht beigezogenen Sachverständigen. In der außerordentlichen Revision führen sie aus, es gehe „um die Tabelle 1, Beschreibung der Typen von Inhalationsgeräten, und Tabelle 2, Betriebsarten und Dosiersysteme" der ÖNORM K 2003.

Dass das von der Beklagten verwendete Narkosegerät tatsächlich nicht der erwähnten ÖNORM (= Beilage ./D) entsprochen hätte, ist den Feststellungen der Vorinstanzen allerdings nicht zu entnehmen. Auch die bezogenen Ausführungen des Sachverständigen (vgl Band II, AS 213) und (insbesondere) die Darlegungen in der außerordentlichen Revision lassen nicht einmal ansatzweise erkennen, worin eine derartige Abweichung bestanden haben sollte. Schließlich wendet sich die ÖNORM K 2003 ganz offensichtlich (mit Ausnahme des Punktes 5 [Prüfung], auf den sich die Kläger aber weder ausdrücklich noch inhaltlich berufen), an die Gerätehersteller und nicht an die Anwender.

Dem gegenüber haben die Vorinstanzen festgestellt, das von der Beklagten verwendete Narkosegerät sei „ordnungsgemäß funktionstüchtig und zu einer fachgerechten Narkose" geeignet gewesen; es sei auch regelmäßig von der Herstellerin überprüft worden.

3. Die Kläger werfen der Beklagten außerdem vor, sie habe auf ein Gerätemonitoring (EKG-Gerät) verzichtet; dies habe dem damaligen Stand der Kunst widersprochen.

Auch damit entfernen sie sich aber von den Feststellungen der Vorinstanzen. Danach war zum damaligen Zeitpunkt in Österreich der Routineeinsatz eines EKG-Monitors bei jeder Narkose nicht Stand der ärztlichen Kunst; daher war auch nicht jeder Anästhesiearbeitsplatz mit einem solchen Gerät ausgerüstet. Entsprechende Empfehlungen hiezu veröffentlichte die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivtherapie erst 1992. Warum diese Feststellungen den „zwingenden Denkgesetzen und (sonstigen) Erfahrungssätzen widersprechen" sollten, wie die Kläger meinen, ist nicht nachvollziehbar.

4. Unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens nach § 503 Z 2 ZPO bekämpfen die Kläger (wiederum) Feststellungen zur Frage, welche Medikamente der Patient vor der Behandlung eingenommen hatte und ob eine Bradykardie vorlag, sowie zur Funktionstüchtigkeit des eingesetzten Narkosegeräts. Sie rügen außerdem, dass kein weiterer Sachverständiger beigezogen wurde. Damit übersehen sie aber neuerlich, dass der Oberste Gerichtshof keine Tatsacheninstanz ist.

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