European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0030OB00083.24P.1028.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen, die im Umfang der Abweisung der Klagebegehren gegen die erstbeklagte Partei sowie der Abweisung des Mehrbegehrens gegen die zweitbeklagte Partei von 4.650 EUR sA in Rechtskraft erwachsen sind, werden im Umfang des Zuspruchs von 4.650 EUR sA gegen die zweitbeklagte Partei aufgehoben. Die Rechtssache wird insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Der Kläger kaufte am 21. März 2017 bei der Erstbeklagten (Händlerin) einen von der Zweitbeklagten hergestellten, am 21. Februar 2017 erstmals zugelassenen Pkw der Marke Opel Zafira Tourer zum Preis von 31.000 EUR. Dieses Fahrzeug ist mit einem 2,0 l Dieselmotor der Motortype „B20DTH opt. LFS“ und der Abgasklasse Euro 6 ausgestattet. Bei diesem Motortyp ist ein sogenanntes „Thermofenster“ implementiert, das zur Folge hat, dass die Abgasrückführung bei einer Außentemperatur zwischen +2 Grad Celsius bis +37 Grad Celsius voll aktiv ist und unter- sowie oberhalb dieser Temperaturen ein schrittweises „Ausrampen“ erfolgt. Unterhalb von -11 Grad Celsius und oberhalb von +50 Grad Celsius wird die Abgasrückführung deaktiviert; sie wird auch bei einem Umgebungsdruck von 91 Kilopascal, wie er bei etwa 900 Höhenmetern herrscht, reduziert. Bei fiktiver Betrachtung könnte die Wertminderung eines solchen Fahrzeugs für den Fall des Vorhandenseins einer unzulässigen Abschalteinrichtung mit 10 % begrenzt werden, sofern es binnen einer Jahresfrist ein verordnungskonformes Software-Update geben sollte.
[2] Hätte der Kläger gewusst, dass sein Fahrzeug nicht den gesetzlichen Rahmenbedingungen entspricht, hätte er es nicht gekauft. Der Kläger wurde zu keinem Zeitpunkt aufgefordert, ein Software‑Update durchführen zu lassen. Im April 2023 verkaufte er das Fahrzeug mit einer Laufleistung von rund 92.000 km für (marktübliche) 9.000 EUR.
[3] Der Kläger begehrt von den Beklagten (nach Einschränkung seiner Klage um das zunächst erhobene Feststellungsbegehren) 9.300 EUR sA als 30%ige Kaufpreisminderung, weil das Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung aufweise. Gegen die Zweitbeklagte begründet er sein Zahlungsbegehren einerseits mit arglistiger Irreführung (und begehrt Vertragsanpassung), andererseits mit einem Schadenersatzanspruch (Minderwert des Fahrzeugs).
[4] Die Beklagten wendeten zusammengefasst ein, das Fahrzeug sei nicht vom „VW‑Dieselskandal“ betroffen und behördlich bis heute nicht beanstandet worden. Das Emissionskontrollsystem des im Jahr 2016 entwickelten, vom Kläger im März 2017 erworbenen Fahrzeugtyps sei von der Typengenehmigungsbehörde im Lichte des VW‑Abgasskandals intensiv in allen Einzelheiten geprüft und genehmigt worden. Es sei zu keinem Zeitpunkt Gegenstand behördlicher Kritik gewesen. Das Fahrzeug sei bereits „ab Werk“ mit der neuesten Software ausgestattet gewesen und es habe niemals einen Rückruf dieses Typs gegeben.
[5] Das Erstgericht wies die Klage ab.
[6] Selbst wenn das im Fahrzeug des Klägers vorhandene Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung sein sollte, scheitere ein Schadenersatzanspruch daran, dass der Kläger keinen Schaden erlitten habe und nach dem Sachverhalt kein Verschulden der Beklagten vorliege. Der Marktwert und die Nutzbarkeit des Fahrzeugs sei zu keiner Zeit gemindert gewesen; außerdem habe der Kläger den Pkw zu marktüblichen Konditionen verkauft. Die Abschalteinrichtung sei der Behörde gegenüber offengelegt und von dieser nach umfangreicher Prüfung genehmigt worden, weshalb die Beklagten jedenfalls kein Verschulden treffe.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise Folge und änderte die Entscheidung insgesamt dahin ab, dass es das Zahlungsbegehren gegen die Erstbeklagte (unbekämpft) abwies, dem Begehren gegen die Zweitbeklagte im Umfang von 15 % des Kaufpreises stattgab und das Mehrbegehren (ebenfalls unbekämpft) abwies.
[8] Das im Motor des Fahrzeugs vorhandene Thermofenster sei als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinn der Rechtsprechung zu qualifizieren. Die Feststellungen zur Gefahr von Schäden am Fahrzeug, die letztlich durch Verschleiß und Verschmutzung entstünden und zum Ausfall bestimmter Bauteile führten, könnten die Abschalteinrichtung nicht im Sinn der in der VO 715/2007/EG vorgesehenen Kriterien rechtfertigen. Der Schaden des Klägers sei hier mit 15 % anzusetzen, weil nach den Feststellungen die Begrenzung der fiktiven Wertminderung mit 10 % ein zugesagtes Software‑Update innerhalb Jahresfrist voraussetze und ein solches nicht angeboten worden sei.
[9] Die Revision sei zuzulassen, weil keine Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob „plötzlich auftretende Schäden aufgrund von Verschleiß und Verschmutzung die Ausnahme iSd Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG begründen“ könnten.
[10] Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts in ihrem stattgebenden Teil richtet sich die Revision der Zweitbeklagten wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidung im klagsabweisenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird die Herabsetzung des Zuspruchs auf 4.650 EUR sA beantragt und „in subeventu“ ein Aufhebungsantrag gestellt.
[11] Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[12] Die Revision ist zulässig und im Sinn ihres Aufhebungsantrags berechtigt.
[13] 1.1 Nach Art 5 Abs 2 Satz 1 VO 715/2007/EG ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig. Eine Abschalteinrichtung ist nach der Definition in Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG ein Konstruktionsteil, der die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
[14] 1.2 Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG normiert ein grundsätzliches, von Ausnahmen (vgl dazu Art 5 Abs 2 Satz 1 lit a VO 715/2007/EG ) durchbrochenes Verbot von Abschalteinrichtungen (vgl 6 Ob 155/22w). Eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist, ist eine unzulässige Abschalteinrichtung (7 Ob 111/24k mwN). Nur wenn dies nicht der Fall ist, kann die Abschalteinrichtung bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art 5 Abs 2 lit a VO 715/2007/EG zulässig sein.
[15] 1.3 Stützt der klagende Käufer eines Kraftfahrzeugs einen Schadenersatzanspruch auf das Vorhandensein einer Abschalteinrichtung nach Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG , hat er den Eintritt eines Schadens infolge des Vorhandenseins einer Abschalteinrichtung zu behaupten und zu beweisen. Soweit sich die Beklagte auf eine Ausnahme vom Verbot einer Abschalteinrichtung stützt, liegt es in weiterer Folge an ihr, die für die Verbotsausnahme erforderlichen Voraussetzungen zu behaupten und zu beweisen (RS0106638 [T20]).
[16] 1.4 Da die Verbotsausnahme des Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG eng auszulegen ist, könnte eine Abschalteinrichtung nur dann ausnahmsweise zulässig sein, wenn nachgewiesen ist, dass diese Einrichtung ausschließlich notwendig ist, um die durch eine Fehlfunktion eines Bauteils des Abgasrückführsystems verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden, Risiken, die so schwer wiegen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des mit dieser Einrichtung ausgestatteten Fahrzeugs darstellen. Dabei ist eine Abschalteinrichtung nur dann „notwendig“ im Sinn des Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG , wenn zum Zeitpunkt der EG‑Typgenehmigung dieser Einrichtung oder des mit ihr ausgestatteten Fahrzeugs keine andere technische Lösung unmittelbare Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall, die beim Fahren eines Fahrzeugs eine konkrete Gefahr hervorrufen, abwenden kann (10 Ob 31/23s [Rz 27]).
[17] 1.5 Der EuGH hat bereits am 14. Juli 2022 zu C‑128/20 (GSMB Invest GmbH & Co KG) ausgeführt, dass es sich beim AGR‑Ventil, dem AGR‑Kühler und dem Dieselpartikelfilter um vom Motor getrennte Bauteile handelt und die Verschmutzung und der Verschleiß des Motors nicht als „Beschädigung“ oder „Unfall“ im Sinne der genannten Bestimmung angesehen werden können (Rn 40, 52, 54). Nur die unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall, die beim Fahren eines Fahrzeugs eine konkrete Gefahr hervorrufen, können daher die Verwendung einer Abschalteinrichtung nach Art 5 Abs 2 lit a der VO 715/2007/EG rechtfertigen (Rn 56). Um unter die in dieser Bestimmung enthaltene Ausnahme zu fallen, muss die Abschalteinrichtung nicht nur notwendig sein, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen, sondern auch, um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten (Rn 61).
[18] 2.1 Nach den Feststellungen dient das Thermofenster sowie die Reduktion der Abgasrückführung ab einem Umgebungsdruck wie er oberhalb von etwa 900 Höhenmetern vorhanden ist, zusammengefasst der Vermeidung von Verschleiß- und Verschmutzungserscheinungen, was aber im Sinn der Rechtsprechung des EuGH gerade nicht als Anwendungsfall der Verbotsausnahme anzusehen ist. Dass das Thermofenster die einzige technische Lösung und dessen Einrichtung ausschließlich notwendig gewesen wäre, um unmittelbare Risiken für den Motor abzuwenden, die so schwer wiegen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb darstellen, steht hingegen nicht fest. Daher liegt – ausgehend von den hier getroffenen Feststellungen – eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinn des Art 3 Z 10 und Art 5 Abs 2 der VO 715/2007/EG vor.
[19] 2.2 Die Zweitbeklagte hat ihre Einwände gegen das Klagebegehren allerdings von Beginn des Verfahrens auch darauf gestützt, dass das vom Kläger erworbene, im Jahr 2017 erstmals zugelassene Fahrzeug „nicht vom Abgasskandal betroffen“ sei, weil es erst nach Bekanntwerden der Manipulationen bei bestimmten Dieselmotoren entwickelt, umfassend getestet und von sämtlichen zuständigen Institutionen genehmigt worden sei. Damit stützt sie sich auf einen nicht vorwerfbaren Rechtsirrtum.
[20] 2.3 Zu diesem Einwand des fehlenden Verschuldens des Herstellers eines Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung hat der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen, dass ein Rechtsirrtum dann nicht vorwerfbar ist, wenn eine Behörde demselben Rechtsirrtum unterlag und die Beteiligten auf Richtigkeit dieser Entscheidung vertrauen durften (10 Ob 27/23b [Rz 34] mit Hinweis auf RS0008651 [T9]; ebenso 6 Ob 175/23p). Für eine Beurteilung dieser Frage ist es daher erforderlich, dass der relevante Sachverhalt (die konkrete Abschalteinrichtung) der Behörde – aus der Sicht der Zweitbeklagten – bekannt war, und zwar ungeachtet allfälliger Offenlegungspflichten vor ihrer Entscheidung, weil nur dann ein schutzwürdiges Vertrauen auf die Richtigkeit ihrer Entscheidung bestehen kann. Zur Beurteilung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, bedarf es somit näherer Feststellungen darüber, zu welchem Zeitpunkt (bis zum Inverkehrbringen des gegenständlichen Fahrzeugs) aufgrund welcher konkreten Prüfschritte und/oder Ereignisse welche der Zweitbeklagten zurechenbare Personen darauf vertrauen durften und auch konkret darauf vertraut haben, dass und warum die verbaute Abschalteinrichtung nach den unionsrechtlichen Normen ausnahmsweise zulässig war (10 Ob 27/23b [Rz 35]; ebenso 6 Ob 175/23p).
[21] 2.4 Zum Vorbringen der Zweitbeklagten, die zuständige Genehmigungsbehörde habe „das Emissionskontrollsystem auf der Grundlage einer umfangreichen Dokumentation (...) umfassend geprüft“, steht bisher nur fest, dass „die Emissionsstrategie (...) samt der Parameter des Thermofensters wie auch Anpassungen des SCR‑Systems“ dem KBA offengelegt und von diesem nach Durchführung von Verifizierungsmessungen auf dem Prüfstand sowie Prüfung der Software der Motorsteuerung und der Dokumentation hinsichtlich der Emissionsstrategie genehmigt worden seien. Nähere Feststellungen zum gesamten Emissionskontrollsystem sowie dazu, aufgrund welcher Prüfschritte welche der Zweitbeklagten zurechenbare Personen darauf vertrauen durften und auch konkret darauf vertraut haben, dass dieses den geltenden Vorschriften entspricht, fehlen jedoch.
[22] 3.1 Im fortzusetzenden Verfahren wird daher das Erstgericht nach einer Erörterung mit den Parteien das Beweisverfahren und die Feststellungen zu den für die Beurteilung der Frage des unverschuldeten Rechtsirrtums der Zweitbeklagten erforderlichen Tatsachen zu ergänzen haben.
[23] 3.2 Zum Einwand der Zweitbeklagten betreffend den Weiterverkauf des Fahrzeugs durch den Kläger ist auf die mittlerweile ständige Rechtsprechung hinzuweisen, nach der ein solcher Weiterverkauf (ebenso wie die Nutzung des Fahrzeugs durch den Käufer) auf den bereits bei Kaufvertragsabschluss eingetretenen Schaden keinen Einfluss hat (5 Ob 33/24z mwN; zuletzt 7 Ob 138/24f mwN).
[24] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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