OGH 3Ob47/18k

OGH3Ob47/18k21.3.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hoch als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Roch und Dr. Rassi und die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen M*, geboren am * 2011, *, vertreten durch die Mutter M*, diese vertreten durch Dr. Stefan Rieder, Rechtsanwalt in Salzburg, Vater K*, vertreten durch Dr. Sylvia Bleierer, Dr. Johannes Wiener, Rechtsanwälte in Mattighofen, wegen Unterhalts, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis als Rekursgericht vom 22. November 2017, GZ 14 R 86/17y‑34, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Mattighofen vom 12. Oktober 2017, GZ 9 Pu 134/16g‑27, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E121334

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die hinsichtlich der Festsetzung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags in Höhe von 200 EUR ab 1. Februar 2017 als unbekämpft in Rechtskraft erwachsen unberührt bleiben, werden im Umfang der Abweisung des Unterhaltsmehrbegehrens aufgehoben und die Pflegschaftssache wird insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Die im Frühjahr 2011 außerehelich geborene Minderjährige befindet sich in Pflege und Erziehung der Mutter, der auch die alleinige Obsorge zukommt. Der Vater leistete ab der Geburt des Kindes einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 100 EUR; beginnend mit Februar 2017 erhöhte er diesen auf 200 EUR monatlich.

Der 1987 geborene, in Deutschland lebende Vater belegte von Oktober 2009 bis Ende September 2014 an einer deutschen Universität das (Bachelor-)Studium Statistik (Hauptfach) und Informatik (Nebenfach), scheiterte jedoch bei einer der letzten Prüfungen endgültig und wurde deshalb am 4. Dezember 2014 per 30. September 2014 exmatrikuliert. Am 1. Oktober 2015 nahm er an einer anderen deutschen Universität das Bachelor-Studium Mathematik auf, das er voraussichtlich Ende des Jahres 2018 abgeschlossen haben wird. Neben seinem Studium ging und geht er – abgesehen von unentgeltlichen Aushilfstätigkeiten im Restaurant seiner Eltern, in deren Haushalt er nach wie vor lebt – keiner Beschäftigung nach. Er verfügt bisher über keine abgeschlossene Berufsausbildung und ist einkommens- und vermögenslos.

Die Minderjährige, die bisher über keinen Unterhaltstitel verfügte, begehrte mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2016, den Vater zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 320 EUR rückwirkend ab Dezember 2013 zu verpflichten. Der Vater habe (erst) im 21. Lebensjahr die Hochschulreife erlangt, danach im Herbst 2008 das Studium der Fachrichtung Elektro-Informationstechnik begonnen, dieses in der Folge abgebrochen und im Wintersemester 2009/2010 das Studium Statistik und Informatik begonnen, das er per 30. September 2014, also nach fünf Jahren erfolglos beendet habe. Derzeit studiere er seit 2015 Mathematik. Daraus ergebe sich, dass er seine Studien nicht ernsthaft betrieben habe und daher jedenfalls auf ein erzielbares Einkommen von 2.000 EUR monatlich anzuspannen sei. Davon stünden der Minderjährigen 16 % zu. Aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Studienerfahrung wäre der Vater in der Lage, ein wesentlich höheres Einkommen als das eines Hilfsarbeiters zu erzielen.

Der Vater wendete ein, er habe stets fleißig und abschlussorientiert studiert. Von 1. Oktober 2008 bis 12. Mai 2009 habe er im Wartesemester, das ihm für das angestrebte Statistik-Studium angerechnet worden sei, Elektroinformationstechnik studiert und sich danach sofort mit einem Ferienlehrgang für das Statistik-Studium vorbereitet, das er am 1. Oktober 2009 begonnen habe. Wegen nach der Geburt der Minderjährigen aufgetretener psychischer Probleme und entsprechenden Leistungsdrucks habe er eine Prüfung zweimal (und damit endgültig) nicht bestanden und deshalb die Universität mit dem Sommersemester 2014 verlassen müssen. Nach diesem Misserfolg habe er versucht, sich aus seiner psychischen Schieflage zu befreien und sich bemüht, durch Berufsberatungen und Praktika eine neue Ausbildung zu beginnen. Nunmehr habe er mit 1. Oktober 2015 ein Magisterstudium der Mathematik an einer anderen Universität aufgenommen. Er habe Freude daran und weise entsprechende Studienerfolge auf, auch seine psychische Erkrankung sei besser geworden. Eine Anspannung scheide deshalb jedenfalls aus. Er könnte derzeit mangels abgeschlossener Berufsausbildung auch keinesfalls ein Nettoeinkommen von 2.000 EUR monatlich erzielen, sondern als ungelernte Kraft nur rund 1.000 EUR pro Monat. Außerdem sei seine psychische Gesundheit gerade erst wiederhergestellt, sodass ein erzwungener Studienabbruch mit dem hohen Risiko eines erneuten Zusammenbruchs verbunden wäre.

Das Erstgericht verpflichtete den Vater zur Leistung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 200 EUR beginnend mit 1. Februar 2017 und wies das Mehrbegehren ab. Nach der Rechtsprechung scheide eine Anspannung des Unterhaltspflichtigen aus, wenn er bei Entstehen der Unterhaltspflicht bereits studiere und dieses Studium zielstrebig und erfolgreich vorantreibe; um dies zu beurteilen seien jene Grundsätze heranzuziehen, die für Unterhaltsberechtigte entwickelt worden seien. Dass bei einem Unterhaltsberechtigten ein Studienwechsel auch nach mehreren Jahren noch als entschuldbare Fehleinschätzung gewertet werden könne, müsse auch für einen studierenden Unterhaltspflichtigen gelten. Der Antragsgegner habe sein Erststudium Statistik mit einem Notendurchschnitt von 2,88 grundsätzlich erfolgreich und zielstrebig betrieben. Nur durch das Nichtbestehen einer einzigen Prüfung sei es zur Exmatrikulation und zur Aufnahme des nunmehrigen Mathematik-Studiums gekommen, das er mit einem Notendurchschnitt von 2,8 wiederum zielstrebig und erfolgreich betreibe und voraussichtlich bis Ende des Jahres 2018 abschließen werde. Im Hinblick darauf komme eine Anspannung nicht in Betracht.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Minderjährigen nicht Folge. Im Gegensatz zum Sachverhalt, welcher der Entscheidung 5 Ob 161/09a zugrunde gelegen sei, habe der Vater hier Unterlagen für die Beurteilung seines Studienerfolgs vorgelegt. Er habe auch die Umstände, die letztlich zum Scheitern seines ersten Studiums führten, nachvollziehbar dargelegt, nämlich dass letztlich eine endgültig nicht bestandene Prüfung für seine Exmatrikulation maßgebend gewesen sei. Bei Einbringung des Unterhaltsantrags, den die Minderjährige erstmals auf den Anspannungsgrundsatz stützte, habe der Vater in seinem neuen Studienfach bereits erhebliche Fortschritte erzielt; bei Zugrundelegung von 36 Prüfungsergebnissen habe er einen Notendurchschnitt von 2,8 erreicht und der Abschluss des Bachelor-Studiums sei derzeit mit Ende 2018 zumindest mittelfristig absehbar. Auch ein ordnungsgemäßer und pflichtbewusster Familienvater würde unter diesen Umständen sein Studium zum Abschluss bringen, um auf diese Weise einen solchen Ausbildungsstand zu erreichen, der ihm in Hinkunft zumindest Unterhaltszahlungen in Höhe des Regelbedarfs erlaube. Aufgrund der besonderen Verhältnisse des vorliegenden Falls komme eine Anspannung des Vaters auf ein unselbständiges Erwerbseinkommen nicht in Betracht.

Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nachträglich mit der Begründung zu, dass der Frage, inwieweit eine objektiv überlange Studiendauer die in der Rekursentscheidung als entscheidend gewerteten subjektiven Kriterien in den Hintergrund treten lassen könne, zur Wahrung der Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukomme.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Minderjährigen ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Der Unterhaltsschuldner hat alle Kräfte anzuspannen, um seiner Verpflichtung zur Leistung des Unterhalts nachkommen zu können; er muss alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines Könnens so gut wie möglich einsetzen und zumutbare Bemühungen zur Erlangung öffentlich-rechtlicher Unterhaltsleistungen anstellen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit bzw Antragstellung hätte erzielen können (RIS‑Justiz RS0047686), sofern ihn ein Verschulden daran trifft, dass er keine Erwerbstätigkeit ausübt (RIS‑Justiz RS0047495). Eine Anspannungsbeurteilung darf sich allerdings nicht in bloßen Fiktionen erschöpfen, sondern muss immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolgt, unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage zu erzielen in der Lage wäre (RIS‑Justiz RS0047579 [T1]). Beurteilungsmaßstab für die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen ist das Verhalten eines pflichtgetreuen Elternteils. Es ist zu prüfen, wie sich ein solcher in der Situation des Unterhaltspflichtigen verhalten würde (RIS‑Justiz RS0047421; RS0113751 [T1]).

2. Betreibt der Unterhaltspflichtige bereits bei Entstehen der Unterhaltspflicht ein Studium, so ist der Studienabschluss abzuwarten, solange er zielstrebig und erfolgreich studiert (Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht8 79; 5 Ob 161/09a = RIS-Justiz RS0113751 [T10] = RS0047495 [T22] = RS0047550 [T3] = RS0047566 [T3]).

3. Zur Beurteilung, ob der Unterhaltspflichtige zielstrebig und erfolgreich studiert, kann auf die zu studierenden Unterhaltsberechtigten entwickelte Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Danach erlischt die Unterhaltspflicht nicht, wenn die durchschnittliche Studiendauer pro Abschnitt und eine gewisse Prüfungsfrequenz eingehalten werden (Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht8 172 und Stabentheiner/Reiter in Rummel/Lukas, ABGB4 § 231 Rz 54 jeweils mwN).

4. Da die Unterhaltspflicht des Vaters erst mit der Geburt der Minderjährigen im Frühjahr 2011 entstand, spielt es keine Rolle, aus welchen Gründen er die Hochschulreife (Abitur) erst im Alter von 21 Jahren erlangte und das Studium der Statistik erst nach einem „Wartesemester“ begann.

5. Bei der Geburt der Minderjährigen stand der Vater am Beginn des vierten Semesters seines im Herbst 2009 begonnenen Statistik-Studiums. Dass er in diesem Studium letztlich scheitern würde, war damals offenbar noch nicht absehbar, sodass er es trotz seiner nunmehrigen Unterhaltspflicht nicht aufgeben musste, sofern er es (weiterhin) ernsthaft und zielstrebig betrieb. Für diese Beurteilung kommt es nicht etwa darauf an, welchen Notendurchschnitt der Vater insgesamt erzielte; vielmehr ist darauf abzustellen, ob er zumindest die durchschnittliche Studiendauer einhielt und ausreichend viele Prüfungen absolvierte.

6. Aus dem vom Vater mit dem Schriftsatz ON 26 vorgelegten „Kontoauszug“ der Universität, an der er Statistik studierte, ergibt sich, dass er im Wintersemester 2012/2013 keinen einzigen ECTS-Punkt erzielte und im Sommersemester 2012, im Sommersemester 2013 und im Wintersemester 2013/2014 jeweils nur 9. Im Sommersemester 2014 erreichte er 6 ECTS‑Punkte für den Besuch einer Vorlesung, wobei er jedoch bei der dazugehörigen Prüfung letztlich zweimal (und damit endgültig) scheiterte.

7. Aus welchen Gründen der Studienerfolg des Vaters ab dem Sommersemester 2012 deutlich nachließ sowie ob und wenn ja, ab wann, er die durchschnittliche Studiendauer überschritt, ob er sich also – wie von der Minderjährigen begehrt – bereits beginnend mit Dezember 2013 auf ein erzielbares Erwerbseinkommen anspannen lassen muss, oder ob berücksichtigungswürdige Umstände (etwa die vom Vater ins Treffen geführten, bisher noch nicht näher spezifizierten „psychischen Probleme“) vorlagen, aufgrund derer ihm eine allfällige Überschreitung der durchschnittlichen Studiendauer nicht vorwerfbar war, kann derzeit noch nicht beurteilt werden. Spätestens ab dem Zeitpunkt zu dem er in diesem Studium endgültig scheiterte, also im Herbst 2014, hätte ein pflichtbewusster Vater sich aber jedenfalls unverzüglich um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemüht, statt nach einer knapp einjährigen Pause ein neues Universitätsstudium zu beginnen. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen ist ein Unterhaltspflichtiger insofern nämlich strenger zu behandeln als ein Unterhaltsberechtigter, der seinen Unterhaltsanspruch auch bei einem (einmaligen) Studienwechsel grundsätzlich nicht verliert (RIS-Justiz RS0107722 [T3]; vgl aber RS0047679 zur Anrechnung zur Dauer des ersten Studiums auf die Zeit des Unterhaltsanspruchs). Ob der Vater dieses zweite Studium nun (bisher) zielstrebig und erfolgreich betreibt, ist deshalb ohne Relevanz.

8. Das Erstgericht wird also im fortgesetzten Verfahren zu klären haben, wie lang die durchschnittliche Studiendauer des Statistik-Studiums an der vom Vater zunächst besuchten Universität ist, aus welchen Gründen er im Wintersemester 2012/2013 keinen einzigen ECTS-Punkt erreichte, ob das Nachlassen seines Studienerfolgs (im ersten Studium) auf seine psychischen Probleme zurückzuführen war, und welches Erwerbseinkommen er – unter Berücksichtigung seiner allfälligen psychischen Erkrankung – ab Herbst 2014 (oder auch schon ab einem früheren Zeitpunkt, sofern er das erste Studium vorwerfbar nicht mehr ernsthaft und zielstrebig betrieb) tatsächlich erzielen hätte können.

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