European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:E133218
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 833,88 EUR (darin enthalten 138,98 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin ist Eigentümerin einer Liegenschaft in Wien 14, auf der sie ein Einkaufszentrum betreibt. Die Beklagte ist Mieterin eines Geschäftslokals in diesem Einkaufszentrum und betreibt darin ein Nagel- und Kosmetikstudio. Das Einkaufszentrum, in dem sich ca 150 Geschäftslokale befinden, war während der drei behördlich angeordneten Lockdowns zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 geöffnet, weil dort auch Geschäfte der Grundversorgung im Bereich Apotheken, Lebensmittelhandel und Drogerien etabliert sind.
Der zugrunde liegende Bestandvertrag zwischen den Streitteilen enthält auszugsweise folgende Bestimmungen:
„3. Bestandzweck:
Der Bestandgegenstand dient zum Betreiben eines Nagelstudios mit Kosmetik und Fußpflege in der im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses üblichen Sortimentszusammensetzung bzw Betriebsform. Wesentliche Änderungen oder Erweiterungen der Sortimentszusammensetzung oder der Betriebsausübungsform bedürfen der vorigen schriftlichen Zustimmung des Bestandgebers …
Dem Bestandnehmer ist es untersagt, sein Sortiment ausschließlich oder zum überwiegenden Teil über das Internet zu verkaufen und den Bestandgegenstand bloß für die Ausgabe der über das Internet bestellten Waren an die Kunden zu nutzen. …
…
8. Aufrechnung, §§ 1096 und 1104 ABGB, Pönale:
…
8.2 Der Bestandnehmer verzichtet auf eine Minderung oder Zurückhaltung des Bestandentgelts, insbesondere gemäß §§ 1096 und 1104 ABGB, sofern die Nutzung und Benutzbarkeit des Bestandobjekts nicht durch Umstände, die der Bestandgeber (die Vorinstanzen sprechen hier irrtümlich vom Bestandnehmer) zumindest grob fahrlässig zu verantworten hat, wesentlich (sowohl betreffend Umfang und Dauer) eingeschränkt wird oder dem Bestandnehmer hieraus ein erheblicher, nachweislicher Nachteil entsteht.
…“
[2] Die Bestimmungen des Mietvertrags wurden zwischen den Parteien nicht weiter besprochen.
[3] Auf der Grundlage des § 1 COVID‑19-Maßnahmengesetzes (BGBl I 2020/12) wurden vom Gesundheitsminister diverse Verordnungen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erlassen, die bisher auch zu drei Lockdowns führten, und zwar
‑ vom 16. 3. bis 30. 4. 2020 (Verordnung über vorläufige Maßnahmen BGBl II 2020/96, verlängert durch die Änderungsverordnungen BGBl II 2020/110 und BGBl II 2020/151),
‑ vom 17. 11. bis 6. 12. 2020 (COVID‑19-Notmaßnahmenverordnung BGBl II 2020/479) und
‑ vom 26. 12. 2020 bis 7. 2. 2021 (zweite bis vierte COVID‑19-Notmaßnahmenverordnungen BGBl II 2020/598, BGBl II 2021/27 und BGBl II 2021/49). Während dieser Lockdowns war das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen untersagt. Ausgenommen davon waren lediglich Bereiche der Grundversorgung wie Apotheken, Lebensmittelhandel, Drogeriemärkte, Gesundheits- und Pflegedienstleistungen, Tankstellen, Banken, Postdiensteanbieter, Lieferdienste, öffentlicher Verkehr, Abfallentsorgungsbetriebe und KFZ‑Werkstätten, später auch Bau- und Gartenmärkte sowie Pfandleihanstalten. Das Nagel- und Kosmetikstudio der Beklagten betrifft die Erbringung körpernaher Dienstleistungen und fiel daher zur Gänze unter die verordneten Betretungsverbote.
[4] Der Beklagten wurde beginnend ab Jänner 2019 gleichbleibend bis zum März 2021 monatlich ein Gesamtmietzins von 2.599,20 EUR vorgeschrieben. Für März 2020 zahlte sie die Hälfte des vorgeschriebenen Mietzinses, den Mietzins für April 2020 zahlte sie nicht. Im November 2020 zahlte sie neuerlich die Hälfte (1.299,60 EUR), für Dezember 2020 zahlte sie 1.593,15 EUR. Den Mietzins für Jänner 2021 zahlte sie nicht. Für Februar 2021 zahlte sie 1.949,40 EUR. Der Mietzins für März 2021 blieb offen. Ebenso zahlte sie die Betriebskostennachforderung für das Jahr 2020 in Höhe von 951,18 EUR nicht. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beklagte wegen der im Verfahren gerichtlich geltend gemachten Mietzinse außergerichtlich gemahnt wurde.
[5] Die Beklagte beantragte für die Monate März bis Mai 2020 den sogenannten „Fixkostenzuschuss“ und erhielt für diesen Zeitraum einen Betrag von ca 3.000 EUR. Im zweiten Lockdown erhielt die Beklagte einen Umsatzersatz von rund 1.000 EUR.
[6] Die Klägerin begehrte zuletzt die Zahlung von 13.003,83 EUR sA an Mietzinsen für März und April 2020, für November und Dezember 2020 sowie für Jänner und März 2021 und an offenen Betriebskosten aus dem Jahr 2020. Zudem erhob sie ein Räumungsbegehren. Das Geschäftslokal der Beklagten sei während der Lockdowns nicht behördlich gesperrt gewesen, sondern es habe lediglich ein Betretungsverbot für das Publikum bestanden. Außerdem sei im Bestandvertrag die Anwendung des § 1104 ABGB abbedungen worden, sodass sich die Beklagte nicht auf eine Reduktion des Mietzinses stützen könne. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass der Betrieb im Einkaufszentrum stets aufrecht erhalten worden sei.
[7] Die Beklagte entgegnete, dass die offenen Mietzinse und Betriebskosten ausschließlich Zeiträume beträfen, in denen ihr Geschäftslokal zum vertragsgemäßen Gebrauch nicht geeignet gewesen sei. Öffentliche Zuwendungen hätten auf das bestandrechtliche Äquivalenzverhältnis keinen Einfluss.
[8] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 3.363,60 EUR sA (offener Mietzins für März 2021 und offene Betriebskosten); das Mehrbegehren und das Räumungsbegehren wies es ab. Die COVID‑19-Pandemie stelle eine „Seuche“ im Sinn des § 1104 ABGB dar. Bewirke ein solcher außerordentlicher Zufall die Unbenutzbarkeit des Bestandobjekts, so trete ex lege eine Zinsbefreiung ein, von der auch sämtliche Betriebs- und Nebenkosten umfasst seien. Die Beklagte habe auf das pandemiebedingte Zinsminderungsrecht nicht verzichtet, weil nach Pkt 8.2 des Bestandvertrags eine Ausnahme auch für den Fall vorgesehen sei, dass dem Bestandnehmer durch die Unbenutzbarkeit des Bestandobjekts ein erheblicher, nachweislicher Nachteil entstehe. Diese Voraussetzung sei gegeben. Im Übrigen führe auch die Auslegungsregel des § 1106 ABGB zum selben Ergebnis. Aufgrund der verordneten Lockdowns sei zu Gunsten der Beklagten von einer gänzlichen Unbrauchbarkeit ihres Bestandobjekts auszugehen, weshalb sie in den fraglichen Zeiträumen von der Zahlung des Mietzinses gänzlich befreit sei. Sie sei auch nicht verpflichtet, den bezogenen Fixkostenzuschuss an die Klägerin herauszugeben, weil dafür keine Rechtsgrundlage bestehe. Die Beklagte schulde daher lediglich den Mietzins für März 2021, was sie auch selbst zugestanden habe. Betriebskosten habe die Beklagte im Jahr 2020 nur an 294 Tagen geschuldet, was einen aliquoten Betrag von 764,40 EUR ergebe. Die darüber hinausgehende Nachforderung sei ebenfalls nicht berechtigt. Das Räumungsbegehren sei abzuweisen, weil aufgrund der Negativfeststellung zur Mahnung der Beklagten kein qualifizierter Zinsrückstand bestehe.
[9] Das Berufungsgericht bestätigte – unter Hinweis auf § 500a ZPO – diese Entscheidung. Die Beurteilung des Erstgerichts, dass Pkt 8.2 des Bestandvertrags über den Verzicht auf die Mietzinsminderung zwei gesonderte Ausnahmefälle enthalte, sei nicht zu beanstanden. Die Klägerin könne sich auf einen solchen Verzicht daher nicht berufen. Davon abgesehen erscheine der gänzliche Ausschluss des § 1104 ABGB – ohne besonderes Entgegenkommen des Bestandgebers, wie zB einen besonders niedrigen Mietzins – unbillig und sittenwidrig. Dem Erstgericht sei auch darin zuzustimmen, dass die COVID‑19-Pandemie als „Seuche“ im Sinn des § 1104 ABGB anzusehen sei. Werde der Bestandgegenstand ohne Schuld des Bestandnehmers derart mangelhaft, dass er zum bedungenen Gebrauch nicht tauge, so sei der Bestandnehmer im Ausmaß der Unbrauchbarkeit von der Entrichtung des Bestandzinses befreit. Die Zielrichtung des Fixkostenzuschusses als staatliche Hilfsmaßnahme liege nicht darin, den aufgrund der geltenden Rechtslage eintretenden Mietzinsentfall der Geschäftsraummieter wettzumachen. Die Revision sei zulässig, weil zu den Auswirkungen der COVID‑19-Pandemie auf Geschäftsraummietverhältnisse noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe.
[10] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin, die auf eine Stattgebung des Klagebegehrens abzielt.
[11] Mit ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, dem Rechtsmittel der Gegenseite den Erfolg zu versagen.
[12] Die Revision ist zulässig, weil zur Zulassungsfrage noch keine gesicherte Rechtsprechung des Höchstgerichts besteht; die Revision ist aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[13] 1.1 Vorauszuschicken ist, dass die Klägerin das Räumungsbegehren in der Revision nicht mehr anspricht und die Beurteilung, dass (jedenfalls) kein qualifizierter Mietzinsrückstand bestehe, nicht angreift. Sie nimmt auch zu den Aliquotierungen, die sich aus dem zeitlichen Inkraft- und Außerkrafttreten der pandemiebedingt verordneten Betretungsverbote ergeben, und damit zum konkreten Umfang des Mietzinsentfalls nicht Stellung und akzeptiert damit die von den Vorinstanzen dazu angestellte Beurteilung. Dies gilt auch für die Ausführungen der Vorinstanzen, wonach die Betriebskosten wie der Mietzins zu behandeln seien.
[14] Im Revisionsverfahren ist demnach zu klären, ob die Beklagte trotz der behördlichen Betretungsverbote für ihr Geschäftslokal zum Betrieb eines Nagel- und Kosmetikstudios auch für die Zeiträume der Lockdowns den gesamten Mietzins schuldet, ob sich aus dem Umstand, dass sich ihr Geschäftslokal in einem Einkaufszentrum befindet, eine Zinszahlungspflicht ergibt, und ob sie verpflichtet ist, den bezogenen Fixkostenzuschuss an die Klägerin herauszugeben.
Alle diese Fragen sind zu verneinen:
[15] 1.2 Wenn die in Bestand genommene Sache wegen „außerordentlicher Zufälle“, namentlich (unter anderem) wegen „Feuer, Krieg oder Seuche, großer Überschwemmungen oder Wetterschläge“, gar nicht gebraucht oder benutzt werden kann, ist gemäß § 1104 ABGB der Bestandgeber zur Wiederherstellung nicht verpflichtet und auch kein Miet- oder Pachtzins zu entrichten. Unter den Voraussetzungen des § 1104 ABGB, der keine abschließende Aufzählung der außerordentlichen Zufälle enthält, kommt es demnach zu einem Entfall des Mietzinses; gleichzeitig entfällt die (verschuldensunabhängige) Erhaltungspflicht des Bestandgebers nach § 1096 ABGB (vgl RS0020783).
[16] Der erkennende Senat hat in der Entscheidung zu 3 Ob 78/21y – im Einklang mit den dort zitierten überwiegenden Literaturstimmen – bereits entschieden, dass die COVID‑19-Pandemie als „Seuche“ im Sinn des § 1104 ABGB zu werten ist und aufgrund dieser Pandemie durch Gesetz oder Verordnung angeordnete Betretungsverbote für Geschäftsräume in Bestandobjekten zu deren Unbenutzbarkeit führen.
[17] Dies ergibt sich daraus, dass schon nach der bisherigen Rechtsprechung als „außerordentliche Zufälle“ im Sinn des § 1104 ABGB elementare Ereignisse zu verstehen sind, die von Menschen nicht beherrschbar sind, sodass für deren Folgen im Allgemeinen von niemandem Ersatz erwartet werden kann. Diese Elementarereignisse treffen stets einen größeren Personenkreis auf eine Weise, die durch eine gesetzliche Regelung über Ersatzansprüche nicht ausgeglichen werden kann (vgl 7 Ob 520/87; 1 Ob 306/02k; Lovrek in Rummel/Lukas 4 § 1108 ABGB Rz 8 mwN; Höllwerth in GeKo Wohnrecht I § 1104 ABGB Rz 13; Pesek in Schwimann/Kodek 5 § 1104 Rz 5 und 6 mwN; Riss in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.02 § 1105 Rz 3). Diese Kriterien treffen auch auf die COVID‑19-Pandemie zu.
[18] Für die Frage der Unbenutzbarkeit des Bestandgegenstands kommt es auf die Erfüllung des vertraglichen Geschäftszwecks an. Wenn der Kundenbereich eines gemieteten Geschäftslokals von den Kunden nicht betreten werden darf, so kann der bestimmungsgemäße Geschäftszweck nicht erfüllt werden. Das Gesetz verlangt zwar einen Zusammenhang zwischen Unbenutzbarkeit und „Seuche“ (arg: „wegen“), besagt aber nicht, dass dieser Zusammenhang, wie etwa bei einem Schädlingsbefall, „objektbezogen“ sein muss. Er ist daher auch dann gegeben, wenn die Unbenutzbarkeit auf hoheitliche (gesetzliche oder behördliche) Maßnahmen zurückzuführen ist. Eine Einschränkung dahin, dass die Gebrauchsbeeinträchtigung unmittelbar aus der Pandemie selbst resultieren muss, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen (vgl Pelinka/Pukel, Mietzinsminderung wegen COVID‑19 bei Gewerbeimmobilien, ecolex 2021, 32 mwN). Dies entspricht im Übrigen dem von der Rechtsprechung schon bisher vertretenen Verständnis zu § 1104 ABGB, demzufolge auch aus Elementarereignissen resultierende hoheitliche Eingriffe einschlägig sein können (vgl RS0038602; RS0024896 [Beschlagnahme]; 8 Ob 610/90 [Durchführung von Personenkontrollen zur Verhinderung terroristischer Anschläge]).
[19] Entgegen der Ansicht der Klägerin stellt das Gesetz somit nicht auf eine Unbrauchbarkeit des Bestandobjekts durch eine Einwirkung auf dieses selbst (zB Verseuchung mit Krankheitserregern), sondern auf eine (hier) pandemiebedingte, gemessen am Vertragszweck objektive Unbenutzbarkeit ab (vgl RS0020926; RS0021054).
[20] 1.3 Ist der bedungene Gebrauch des Bestandobjekts durch Kundenverkehr gekennzeichnet, so führt ein Betretungsverbot aus Anlass der COVID‑19-Pandemie zur gänzlichen Unbenutzbarkeit des Bestandobjekts im Sinn des § 1104 ABGB (vgl Lovrek, COVID‑19: Auswirkungen auf Bestandverträge, ZIK 2020/60, 3.2). Ist die vertragsgemäße charakteristische Nutzung hingegen nur eingeschränkt, so kommt es gemäß § 1105 ABGB zu einer Mietzinsminderung im Umfang der Gebrauchsbeeinträchtigung nach der relativen Berechnungsmethode (vgl 8 Ob 78/16b; 3 Ob 109/21g; Lovrek in Rummel/Lukas 4 § 1096 ABGB Rz 111; Riss in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.02 § 1096 Rz 31 und § 1105 Rz 1).
[21] 1.4 Für die Beurteilung der vertragsgemäßen Nutzungsmöglichkeit kommt es auf das konkrete Bestandobjekt und nicht auf das übrige geschäftliche Umfeld an. Der Umstand, dass ein Einkaufszentrum für bestimmte Geschäftszwecke (zB Apotheken, Lebensmittelhandel und Drogerien) auch während eines Lockdowns betreten werden darf, ändert daher nichts an der Unbenutzbarkeit eines Geschäftslokals, das für andere, vom Betretungsverbot erfasste Geschäftszwecke genutzt wird. Auch die weiterhin bestehenden Parkmöglichkeiten, die Versorgung des Einkaufszentrums mit Energie oder die Bewachung und Reinigung der Allgemeinflächen bilden keinen geschäftlichen Nutzen für einen Mieter, dessen Bestandobjekt pandemiebedingt zum bedungenen Gebrauch nicht verwendbar ist. Der Umstand, dass das Mietobjekt in einem Einkaufszentrum liegt, begründet für einen Mieter, dessen Geschäftslokal nicht betreten werden darf, somit grundsätzlich keinen gesonderten Gebrauchswert. Auf einen relevanten Restnutzen aus einer für den Geschäftszweck typischen Lagerung von Waren oder dem Belassen von Einrichtungsgegenständen (siehe dazu bereits 3 Ob 78/21y; differenzierend Laimer/Schickmair in Resch, Corona‑HB 1.06 Kap 11; Brauneis, Unternehmenspacht und außerordentlicher Zufall unter besonderer Berücksichtigung von Einkaufszentren, RdW 2020/475) beruft sich die Klägerin nicht.
[22] 1.5 Zu einer Änderung des Geschäftszwecks, etwa zur Bereitstellung von Online-Angeboten oder zum Online-Vertrieb von Nahrungsergänzungsmitteln war die Beklagte nach den Bestimmungen des Bestandvertrags ohnedies nicht berechtigt.
[23] 1.6 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die Beklagte während der pandemiebedingten verordneten Lockdowns, die zu einem Betretungsverbot für ihr Geschäftslokal führten, nach der gesetzlichen Bestimmung des § 1104 ABGB von der Pflicht zur Mietzinszahlung befreit war.
[24] 2.1 Die Preisminderungs- und Gefahrtragungsregelung des § 1104 ABGB ist, was sich aus der Formulierung des § 1106 ABGB ergibt, dispositiv (Lovrek in Rummel/Lukas 4 § 1108 ABGB Rz 10). Die gesetzliche Regelung über den Entfall oder die Minderung des Mietzinses kann somit von den Vertragsparteien abbedungen werden. Im Anlassfall haben die Streitteile in Pkt 8.2 des Bestandvertrags dazu auch eine vertragliche Regelung vorgesehen, deren Reichweite durch Vertragsauslegung zu bestimmen ist.
[25] Nach § 914 ABGB ist bei der Auslegung von Verträgen zunächst vom Wortlaut des schriftlichen Vertragstextes oder vom Wortsinn der mündlichen Vertragserklärungen auszugehen, aber nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der Wille der Parteien zu erforschen. Wird kein – vom Vertragstext oder Wortsinn abweichender oder diesen präzisierender oder ergänzender – übereinstimmender Parteiwille behauptet oder festgestellt, so ist für die Auslegung der objektive Erklärungswert des Vertragstextes bzw der Erklärungen mit Rücksicht auf den Geschäftszweck maßgebend. Der Vertrag ist so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht (RS0017915; RS0017797; 4 Ob 122/20z).
[26] 2.2 Pkt 8.2 des Bestandvertrags enthält einen Verzicht des Mieters auf das Mietzinsminderungsrecht nach §§ 1104, 1096 ABGB, von dem – aufgrund der Wendung „sofern nicht“ – ausdrücklich Ausnahmen statuiert werden. Die Ausnahmen betreffen die wesentliche Einschränkung der Nutzung des Bestandobjekts, wobei die Vertragsbestimmung die Ausnahmefälle näher beschreibt und dadurch konkretisiert. Zunächst geht es um eine wesentliche Einschränkung der Nutzung durch Umstände, die der Bestandgeber zumindest grob fahrlässig zu verantworten hat. Der weitere Ausnahmefall bezieht sich darauf, dass dem Bestandnehmer „hieraus“ ein erheblicher nachweislicher Nachteil entsteht.
[27] Beide Ausnahmefälle sind mit dem Wort „oder“ verknüpft; dies spricht für zwei gesonderte, nebeneinander bestehende Ausnahmefälle. Bei logischem, systematischem Verständnis bezieht sich das Wort „hieraus“ auf den Grund-Ausnahmetatbestand, also auf die wesentliche Einschränkung der Nutzung, und nicht auch auf die erste Konkretisierung der vom Bestandgeber grob fahrlässig zu verantwortenden Umstände. Im gegenteiligen Fall hätte die zweite Ausnahme keinen Anwendungsbereich, weil die grob fahrlässige Herbeiführung einer wesentlichen Nutzungseinschränkung nach der ersten Ausnahme ausreicht und ein erheblicher Nachteil daraus gar nicht erforderlich ist, weshalb die grob fahrlässige Herbeiführung und der erhebliche Nachteil nicht im Alternativverhältnis stehen. Das von den Vorinstanzen erzielte Auslegungsergebnis, die von zwei gesonderten Ausnahmetatbeständen ausgehen, ist damit zutreffend. Dies gilt auch für die Beurteilung, dass wiederholte Betretungsverbote, die mit einem erheblichen Kunden- und Umsatzausfall verbunden sind, als erhebliche Nachteile anzusehen sind.
[28] Der gegenteiligen Ansicht der Klägerin, wonach Pkt 8.2 des Bestandvertrags nur eine Ausnahme, nämlich ein grob fahrlässiges Verhalten des Bestandgebers vorsehe und dazu lediglich zwei Unterfälle (wesentliche Einschränkung der Nutzung oder erheblicher, nachweislicher Nachteil) bestünden, ist nicht beizutreten.
[29] 2.3 Auf die Auslegungsregel des § 1106 ABGB (nicht spezifizierte, pauschale Übernahme aller Gefahren durch den Bestandnehmer) kommt es im Anlassfall nicht an. Ebenso wenig ist die Bestimmung des § 1107 ABGB – die im Sinne einer Sphärentheorie die Preisgefahr (Mietzinszahlung trotz Unbenutzbarkeit) dem Mieter zuordnet, sofern die Gebrauchshindernisse aus seiner Sphäre stammen – nicht einschlägig, weil die COVID‑19-Pandemie nicht Teil des allgemeinen Unternehmerrisikos ist und nicht in die alleinige Risikosphäre des Bestandnehmers fällt. Für die Abgrenzung der Risikosphäre des konkreten Mieters kommt es nämlich darauf an, ob das jeweilige Ereignis (Hindernis oder Unglücksfall) das Mietobjekt nur für diesen Mieter oder in gleicher Weise auch für jeden anderen Mieter unbrauchbar macht.
[30] Auch auf die vom Berufungsgericht zusätzlich erörterte Frage, ob ein Verzicht auf das Mietzinsminderungsrecht ohne besonderes Entgegenkommen des Vermieters sittenwidrig ist, kommt es nicht an.
[31] 2.4 Als weiteres Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass sich die Klägerin nicht auf einen vertraglichen Verzicht der Beklagten auf ihr gesetzliches Mietzinsminderungsrecht berufen kann.
[32] 3. Wie bereits erwähnt, fiel das von der Beklagten im Bestandgegenstand betriebene Nagel- und Kosmetikstudio zur Gänze unter die verordneten Betretungsverbote für den Kundenbereich während der drei erwähnten Lockdowns. Sie konnte das von ihr gemietete Geschäftslokal daher in den Zeiträumen vom 16. 3. bis 30. 4. 2020, vom 17. 11. bis 6. 12. 2020 und vom 26. 12. 2020 bis 7. 2. 2021 nicht zum bedungenen Geschäftszweck nutzen. Aus diesem Grund war sie während der genannten Zeiträume von der Zahlung des Mietzinses zur Gänze befreit. Entgegen der Ansicht der Klägerin bestand für die Beklagte auch kein bewertbarer Nutzen aus dem Offenhalten des Einkaufszentrums zum Betrieb anderer Geschäftslokale.
[33] 4.1 Die Beklagte ist schließlich auch nicht verpflichtet, den von ihr bezogenen Fixkostenzuschuss an die Klägerin herauszugeben.
[34] 4.2 Der sogenannte „Fixkostenzuschuss I“ beruht auf der Verordnung des Bundesministers für Finanzen betreffend Richtlinien über die Gewährung von Zuschüssen zur Deckung von Fixkosten durch die COVID‑19-Finanzierungsagentur des Bundes GmbH (COFAG), BGBl II 2020/225, die am 26. 5. 2020 in Kraft getreten ist. Die inhaltlichen Regelungen finden sich in den Richtlinien im Anhang zu dieser Verordnung, die auch Inhalt des jeweiligen Fördervertrags mit der COFAG sind.
[35] Nach Pkt 1.1 der Richtlinien („Präambel“) sollen die Zuschüsse zur Erhaltung der Zahlungsfähigkeit und Überbrückung von Liquiditätsschwierigkeiten (von Unternehmen im Zusammenhang mit der Ausbreitung von COVID‑19) und der dadurch verursachten wirtschaftlichen Auswirkungen dienen. Nach Pkt 3.1.6 der Richtlinien („Begünstigte Unternehmen“) müssen Unternehmen zumutbare Maßnahmen gesetzt haben, um die durch den Fixkostenzuschuss zu deckenden Fixkosten (siehe dazu Pkt 4.1 der Richtlinien) zu reduzieren „(Schadensminderungspflicht mittels ex‑ante-Betrachtung)“. Nach Pkt 8.1 der Richtlinien (Prüfung der Fixkostenzuschüsse, Rückzahlung von Fixkostenzuschüssen) hat eine nachträgliche Überprüfung der Zuschüsse im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen jedenfalls auf Basis von Stichproben stattzufinden. Nach Pkt 8.3 der Richtlinien hat die COFAG Fixkostenzuschüsse insoweit zurückzufordern, als sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellt, dass die dem Zuschuss zugrunde liegenden Verhältnisse nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen.
[36] 4.3 Nach der Zielrichtung der Zuschussgewährung handelte es sich bei den finanziellen Zuwendungen somit um eine Förderung („Beihilfe gemäß Art 107 Abs 2 lit b AEUV“; vgl Pkt 1.2 der Richtlinien) der betroffenen Unternehmen, um deren Liquidität sicherzustellen. Ist der betroffene Unternehmensträger Bestandnehmer, so ist dieser das Förderungssubjekt. Die in Rede stehende Verordnung einschließlich der Richtlinien statuiert in einem solchen Fall keine Verpflichtung für den Bestandnehmer, die staatlichen Unterstützungen an den Bestandgeber herauszugeben. Es handelt sich damit nicht um eine Zuwendung, die dazu gedacht ist, den gesetzlichen Mietzinsentfall der Geschäftsraumvermieter wettzumachen (in diesem Sinn auch Flume/Laimer, Periculum est locatoris, ImmoZak 2020/14; Nemetschke/Koloseus, Umsatzersatz und stellvertretendes Commodum, immolex 2021, 202; Stabentheiner, Die mietrechtlichen und mietrechtsrelevanten Teile des 2. COVID‑19-Justiz-Begleitgesetzes, wobl 2020, 121 [134]). Den gegenteiligen Ansichten von Oberhammer (Pandemie und Geschäftsraummiete, JBl 2021, 417 und 493 [506]) und von Hochleitner (Die Auswirkungen von COVID‑19 auf Geschäftsraummieter und Pächter, ÖJZ 2020/72) kann nicht beigetreten werden.
[37] Bekräftigt wird die vom Senat vertretene Ansicht durch den Umstand, dass den Bestandnehmer nach Pkt 3.1.6 der Richtlinien eine Schadensminderungsobliegenheit gegenüber der COFAG trifft. Dies bedeutet, dass der Bestandnehmer gehalten ist, die ihm zustehenden Mietzinsminderungen geltend zu machen (vgl dazu Fröhlich/Fuhrmann/Gstaltner, Der Fixkostenzuschuss als bürokratische Hilfe in der Not, immolex 2020, 258; Kraml/Eggenberger, Die Schadensminderungspflicht beim Fixkostenzuschuss, immolex 2021, 205). In dieser Hinsicht kann ex post eine Kontrolle durch die COFAG erfolgen und eine Rückzahlungspflicht bestehen. Diese Rechtslage schließt ein Verständnis dahin, den Fixkostenzuschuss zur Deckung des Mietzinsausfalls dem Bestandgeber zu überlassen, aus.
[38] 5. Insgesamt erweisen sich die Ausführungen in der Revision der Klägerin als nicht stichhaltig, weshalb dem Rechtsmittel der Erfolg zu versagen war.
[39] Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41 und 50 ZPO.
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