OGH 2Ob57/22d

OGH2Ob57/22d26.4.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende, den Senatspräsidenten Dr. Musger sowie die Hofräte Dr. Nowotny, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G*, vertreten durch Kinberger‑Schuberth‑Fischer Rechtsanwälte‑GmbH in Zell am See, gegen die beklagte Partei Verband der Versicherungsunternehmen Österreichs, Wien 3, Schwarzenbergplatz 7, vertreten durch Univ.‑Prof. Dr. Friedrich Harrer und Dr. Iris Harrer‑Hörzinger, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen 7.781,95 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 6.145,62 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 29. November 2021, GZ 1 R 116/21s‑21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 7. Juli 2021, GZ 12 Cg 72/20s‑17, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00057.22D.0426.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird teilweise Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird wie folgt abgeändert:

„1. Die Klageforderung besteht mit 5.584 EUR zu Recht.

2. Die eingewendete Gegenforderung besteht nicht zu Recht.

3. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 5.584 EUR samt 4 % Zinsen seit 21. 10. 2020 binnen 14 Tagen zu zahlen.

4. Das Zahlungsmehrbegehren von 2.197,95 EUR samt 4 % Zinsen seit 21. 10. 2020 sowie das Zinsenmehrbegehren von 4 % Zinsen aus 7.781,95 EUR von 7. 10. 2020 bis 20. 10. 2020 wird abgewiesen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 4.301,67 EUR bestimmten anteiligen Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen (darin enthalten 2.306,66 EUR Barauslagen und 332,50 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 14. Juli 2020 ereignete sich gegen 5:30 Uhr auf der B 311 in Zell am See eine Streifkollision, an der ein von der Klägerin gehaltener Sattelzug und ein LKW mit deutschem Kennzeichen (Haftung der Beklagten nach § 62 KFG) beteiligt waren. Der LKW fuhr vor dem Sattelzug durch den Schmittentunnel in Fahrtrichtung Bruck; zu diesem Zeitpunkt nahm der Lenker des LKW den Sattelzug das letzte Mal vor der späteren Kollision wahr. Ein nach der Tunnelausfahrt von rechts über eine Auffahrtsrampe einmündender weiterer Fahrstreifen wird von dem von den Beteiligen nach der Tunnelausfahrt ursprünglich benützten Fahrstreifen durch eine Sperrlinie getrennt, die 10 bis 15 Meter vor der späteren Kollisionsstelle in eine Leitlinie übergeht. Der Lenker des Sattelzugs wechselte unter Überfahren dieser Sperrlinie auf den rechten Fahrstreifen und schloss (ohne feststellbare Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit) zum weiterhin auf dem linken Fahrstreifen fahrenden LKW auf. Das Überfahren der Sperrlinie erfolgte 100 Meter vor der späteren Kollisionsstelle. Nach dem Ende der Sperrlinie begann der Lenker des LKW mit einem Fahrstreifenwechsel nach rechts, ohne sich von dessen Gefahrlosigkeit zu überzeugen. In den letzten vier Sekunden vor der Kollision hätte er den Sattelzug bei einem Blick in den Außenspiegel am rechten Fahrstreifen wahrnehmen und auch dessen Geschwindigkeitsüberhang erkennen können; dem Lenker des Sattelzugs war hingegen (nach dem Überfahren der Sperrlinie) keine unfallvermeidende Reaktion mehr möglich.

[2] Die Klägerin begehrt die Zahlung von 7.781,95 EUR sA an Sachschaden, Verdienstentgang und pauschalen Unkosten. Das Alleinverschulden treffe den Lenker des LKW, der einen unzulässigen Fahrstreifenwechsel vorgenommen habe. Zwischen dem Überfahren der Sperrlinie durch den Lenker des Sattelzugs und dem späteren Unfall gebe es keinen Rechtswidrigkeitszusammenhang. Der Lenker des LKW hätte sich vor einem Fahrstreifenwechsel jedenfalls vergewissern müssen, ob dieser gefahrlos möglich sei, weil sich ja auch ein auf die B 311 auffahrendes Fahrzeug auf dem vom Sattelzug befahrenen Fahrstreifen befinden hätte können.

[3] Der Verdienstentgang entspreche auf Basis der von der Salzburger Wirtschaftskammer empfohlenen Richtsätze dem der Klägerin in acht Werktagen entgangenen Betrag; während dieser Zeit sei der beim Unfall beschädigte Sattelzug repariert worden und daher nicht einsatzbereit gewesen.

[4] Der Beklagtewendet ein, dass den Lenker des Sattelzugs das Alleinverschulden treffe. Er habe einen Fahrstreifenwechsel unter Überschreitung der Sperrlinie durchgeführt. Das Begehren auf Verdienstentgang sei überhöht. Der Beklagte wendet eine Gegenforderung von 2.262 EUR an Reparaturkosten und 50 EUR an pauschalen Unkosten compensando ein.

[5] Das Erstgericht sprach aus, dass die Klageforderung mit 2.792,33 EUR zu Recht und die Gegenforderung mit 1.156 EUR zu Recht bestehe. Es sprach daher (unbekämpft) 1.636,33 EUR sA zu und wies ein Mehrbegehren von 6.145,62 EUR sA ab. Das Erstgericht ging von gleichteiligem Verschulden der Unfallbeteiligten aus. Dem Lenker des Sattelzugs sei ein Verstoß gegen das Verbot des Überfahrens von Sperrlinien (§ 9 Abs 1 StVO) vorzuwerfen. Überholte Fahrzeuge seien vom Schutzzweck der Norm umfasst, wenn der Überholvorgang unter Einhaltung des gebotenen Seitenabstands nur durch Überfahren der Sperrlinie möglich sei. Auch zum unerlaubten Befahren einer Busspur werde judiziert, dass der Schutzzweck alle durch das Befahren der Busspur mit anderen Fahrzeugen verursachten Gefahren umfasse. Es bestehe ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen § 9 Abs 1 StVO und dem späteren Unfall, weil der Lenker des Sattelzugs bei ordnungsgemäßem Verhalten weiter hinter dem LKW herfahren hätte müssen. Die Höhe des Verdienstentgangs sei nach § 273 ZPO mit 3.500 EUR auszumitteln. Dieser Schätzung sei ein festgestellter, mit dem Sattelzug während der Reparatur erzielbarer Nettofuhrlohn von 900 EUR täglich und variable Kosten von 360 EUR bis 480 EUR täglich zu Grunde zu legen.

[6] Das Berufungsgericht gab der gegen die teilweise Abweisung des Zahlungsbegehrens gerichteten Berufung der Klägerin nicht Folge. Die Heranziehung der Rechtsprechung zu Busstreifen durch das Erstgericht sei nicht zu beanstanden. Außerdem habe die jüngere Rechtsprechung den Schutzzweck des § 9 Abs 1 StVO erweitert. Diese Bestimmung diene der Sicherheit aller jenseits der Sperrlinie befindlichen Verkehrsteilnehmer und solle einer Gefährdung anderer Straßenbenützer generell vorbeugen. Die Ausübung des richterlichen Ermessens durch das Erstgericht sei auf Basis konkreter Feststellungen erfolgt; Tarifen der einschlägigen Unternehmensgruppen komme im Hinblick auf Verdienstentgang durch reparaturbedingte Stehzeiten nur eine geringe Hilfsfunktion zu.

[7] Die Revision sei zur Frage des Schutzzwecks des § 9 Abs 1 StVO zuzulassen.

[8] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, das Urteil insoweit im gänzlich klagsstattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

[9] Der Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist zulässig, weil dem Berufungsgericht eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen ist; sie ist im Sinn des Abänderungsantrags teilweise berechtigt.

[11] Die Klägerin argumentiert, dass ihr kein Mitverschulden am Verkehrsunfall anzulasten sei, weil das Verbot des Überfahrens einer Sperrlinie einzig der „Vermeidung eines Direktkontakts“ diene. Der Fahrstreifenwechsel des Lenkers des LKW sei erst 100 Meter nach dem Überfahren der Sperrlinie durch den Lenker des Sattelzugs erfolgt. Außerdem hätten die Vorinstanzen zur Ausmittlung des Verdienstentgangs zu Unrecht § 273 ZPO angewendet. Maßgeblich für den Umfang des Verdienstentgangs sei der „Verdienstentgangskatalog der Salzburger Wirtschaft“.

Dazu hat der erkennende Fachsenat erwogen:

[12] 1. Nach Art 3 HStVÜ ist der Verkehrsunfall nach österreichischem Recht zu beurteilen.

[13] 2. Dass den Lenker des LKW ein Verschulden am Verkehrsunfall trifft, ist nicht strittig.

[14] 3. Strittig ist jedoch, ob dem Lenker des Sattelzugs ein Mitverschulden wegen Verstoßes gegen § 9 Abs 1 StVO anzulasten ist. Dies ist aus folgenden Erwägungen zu verneinen:

[15] 3.1. Nach § 9 Abs 1 StVO dürfen Sperrlinien nicht überfahren werden. Der erkennende Senat befasste sich zuletzt in der Entscheidung 2 Ob 237/18v umfassend mit dem Schutzzweck des § 9 Abs 1 StVO und führte aus:

[16] Nach der bisherigen Rechtsprechung diene das Verbot des Überfahrens einer Sperrlinie zwar „grundsätzlich“ der Sicherheit aller auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie befindlichen Verkehrsteilnehmer, wodurch „insbesondere“ der Gegenverkehr geschützt werde, allerdings sei dies nicht der einzige Zweck der Norm (vgl 2 Ob 232/03m mwN). Bei Ermittlung des Schutzzwecks der Norm komme dem durch § 3 Abs 1 StVO geschützten Vertrauen jedes Straßenbenützers, dass andere Personen die für die Benützung der Straße maßgeblichen Rechtsvorschriften befolgen, (entscheidende) Bedeutung zu (ähnlich bereits 2 Ob 49/93). Der Schutzzweck des § 9 Abs 1 StVO umfasse daher jedenfalls dann auch überholte Fahrzeuge, wenn der Überholvorgang bei Einhaltung des gebotenen seitlichen Sicherheitsabstands nur durch Überfahren der Sperrlinie möglich sei.

[17] Im Anlassfall war die Klägerin als Radfahrerin von einem PKW überholt worden, wobei sie angesichts der örtlichen Verhältnisse davon ausgehen konnte, dass sie ein mehrspuriges Fahrzeug bei Einhalten eines ausreichenden Sicherheitsabstands ohne Überfahren der Sperrlinie nicht überholen könne. Sie durfte daher darauf vertrauen, dass sich die Lenker nachfolgender Fahrzeuge vorschriftsmäßig verhalten und die Sperrlinie nicht überfahren. Der Senat lastete dem überholenden PKW‑Lenker ein Mitverschulden wegen Verstoßes gegen § 9 Abs 1 StVO an.

[18] 3.2. Im vorliegenden Fall befand sich der Lenker des LKW im Kollisionszeitpunkt nicht „jenseits der Sperrlinie“; der LKW kann – wie bereits das Berufungsgericht zutreffend hervorgehoben hat – auch nicht als überholtes Fahrzeug angesehen werden, weil sich der Unfall im Ortsgebiet ereignete (§ 2 Abs 1 Z 29 iVm § 7 Abs 3a StVO; 2 Ob 80/11w). Schließlich kann sich der Lenker des LKW – anders als die Klägerin in der Entscheidung 2 Ob 237/18v – auch nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, durfte er doch insbesondere nicht darauf vertrauen, dass sich auf dem rechten Fahrstreifen, auf den er wechseln wollte, bei StVO‑konformem Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer keine anderen Fahrzeuge befinden würden, weil es sich um eine Auffahrtsrampe (von einer anderen Bundesstraße) handelte. Außerdem hat er nach der Gesamtheit der Feststellungen jedenfalls 8,5 Sekunden vor der späteren Kollision nicht mehr in den Außen- oder Rückspiegel geblickt, weil er anderenfalls den bereits (teilweise) auf dem rechten Fahrstreifen befindlichen Sattelzug wahrnehmen hätte müssen.

[19] 3.3. Die von den Vorinstanzen herangezogene Entscheidung 2 Ob 46/94 betrifft einen Unfall, der sich wegen unbefugter Benützung eines Fahrstreifens für Omnibusse (§ 53 Abs 1 Z 25 StVO) ereignete. Das (punktuelle) Überfahren einer Sperrlinie unterscheidet sich jedoch bereits auf Ebene des Verstoßverhaltens maßgeblich vom (dauerhaften) unzulässigen Befahren eines Fahrstreifens für Omnibusse.

[20] 4. Insgesamt fehlt es somit am bei Verletzung eines Schutzgesetzes erforderlichen Mitverschuldenszusammenhang (RS0132048), sodass das Alleinverschulden am Verkehrsunfall den Lenker des LKW trifft.

[21] 5. Soweit die Klägerin argumentiert, die Vorinstanzen hätten zur Ausmittlung ihres Verdienstentgangs § 273 ZPO nicht anwenden dürfen, ist ihr zu erwidern:

[22] 5.1. Ob § 273 ZPO anzuwenden ist, ist eine rein verfahrensrechtliche Frage. Wurde die Anwendbarkeit des § 273 ZPO daher zu Unrecht bejaht, muss dies mit Mängelrüge bekämpft werden (RS0040282). Eine solche Mängelrüge hat die Klägerin in ihrer Berufung nicht erhoben und kann sie daher in dritter Instanz nicht nachholen (RS0043111).

[23] 5.2. Soweit sich die Klägerin mit ihren Ausführungen gegen das (grundsätzlich revisible: RS0040322) Ergebnis der Ausmittlung nach § 273 ZPO wendet, ist ihr zu entgegnen, dass die bereits vom Erstgericht vorgenommene Schätzung des Verdienstentgangs mit 3.500 EUR auf konkreten Tatsachenfeststellungen zu dem der Klägerin während der Reparatur des Sattelzugs entgangenen Nettoumsatz und den variablen Kosten für den Einsatz des Sattelzugs basiert und auf deren Grundlage (rechnerisch und logisch) nachvollziehbar ist. Schon das Berufungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass den Tarifen der einschlägigen Unternehmensgruppen bei der Schadensausmittlung nach § 273 ZPO nur eine (geringe) Hilfsfunktion zukommt (2 Ob 66/87).

[24] 6. Es war daher insgesamt auszusprechen, dass die Klageforderung – deren Höhe in den übrigen Positionen des Klagebegehrens im Revisionsverfahren nicht mehr strittig ist – mit 5.584 EUR zu Recht, die eingewendete Gegenforderung hingegen nicht zu Recht besteht.

[25] 7. Diese Abänderung macht insgesamt eine Neufassung der Entscheidung über die Verfahrenskosten erforderlich.

[26] Die Kostenentscheidung beruht in erster Instanz auf § 43 Abs 1 iVm § 43 Abs 2 2. Fall ZPO, im Rechtsmittelverfahren auf § 43 Abs 1 iVm § 50 ZPO.

[27] Im erstinstanzlichen Verfahren sind zwei Verfahrensabschnitte zu bilden. Da die Klägerin in Folge Anwendung des § 273 ZPO nur einen Teil des von ihr eingeklagten Verdienstentgangs erhielt und keine offenbare Überklagung vorliegt, war ein fiktiver Streitwert zu bilden, der im ersten Verfahrensabschnitt 17.471,05 EUR und im zweiten Verfahrensabschnitt 5.584 EUR beträgt. Im ersten Verfahrensabschnitt (bis zur Tagsatzung vom 26. 1. 2021) obsiegte die Klägerin zu rund einem Drittel, hat dem Beklagten daher ein Drittel seiner (auf Basis des fiktiven Streitwerts zu bemessenden) Vertretungskosten zu ersetzen und erhält ihrerseits ein Drittel der von ihr alleine getragenen Barauslagen (Pauschalgebühr) ersetzt. Im zweiten Verfahrensabschnitt obsiegte die Klägerin ausgehend vom fiktiven Streitwert zur Gänze und erhält ihre vollen Vertretungskosten auf Basis des fiktiven Streitwerts sowie die von ihr getragenen, in diesen Verfahrensabschnitt fallenden Barauslagen (Zeugen- und Sachverständigengebühr) ersetzt. Einwendungen gegen die Kostennoten iSd § 54 Abs 1a ZPO wurden nicht erhoben, von Amts wegen aufzugreifende offensichtliche Unrichtigkeiten liegen nicht vor.

[28] Im Rechtsmittelverfahren obsiegte die Klägerin zu rund zwei Dritteln, sodass sie ein Drittel ihrer Vertretungskosten und zwei Drittel der Pauschalgebühren ersetzt bekommt.

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