OGH 2Ob219/10k

OGH2Ob219/10k22.6.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Heinz M*****, vertreten durch Dr. Othmar Slunsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Verband der Versicherungsunternehmen Österreichs, 1030 Wien, Schwarzenbergplatz 7, vertreten durch Dr. Thomas Mader, Rechtsanwalt in Wien, wegen 16.572,80 EUR sA (Rekursinteresse 15.674,80 EUR sA), über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 27. August 2010, GZ 14 R 111/10m‑51, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. April 2010, GZ 4 Cg 208/06x‑47, teilweise aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Am 20. 6. 2005 gegen 9:05 Uhr ereignete sich in Wien ein Verkehrsunfall, bei dem die vormalige Ehefrau des Klägers als Fußgängerin durch einen Sattelzug erfasst und niedergestoßen wurde. Sie erlitt unter anderem ein Überrolltrauma mit traumatischer Oberschenkelamputation. Da sie als Zeugin Jehovas eine entsprechende Willenserklärung abgegeben hatte, wurden ihr keine Blutkonserven zugeführt. Sie starb am folgenden Tag um 22:45 Uhr trotz maschineller Beatmung mit hochkonzentriertem Sauerstoff infolge einer ausgeprägten Fettembolie. Sie litt zwei Tage lang an starken Schmerzen. Für das Begräbnis wendete der Kläger insgesamt 5.674,80 EUR auf. Der Kläger war mit der Verletzten 44 Jahre verheiratet und hatte bis zu ihrem Tod stets mit ihr zusammengelebt. Durch ihren Tod fiel der Kläger in ein „schwarzes Loch“. Nach dem Tod seiner Frau lernte er seine nunmehrige Frau kennen, die er Anfang 2008 heiratete.

Die Haftung der beklagten Partei für die Unfallfolgen sowie das grobe (Allein-)Verschulden des Lenkers des Sattelzugs am Unfall sind im Verfahren dritter Instanz nicht mehr strittig.

Der Kläger begehrte 16.572,80 EUR sA und brachte vor, der Verletzten könne kein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht wegen ihrer Weigerung, Bluttransfusionen zuzulassen, vorgeworfen werden. Ein Mitverschulden eines Verletzten wegen der Verweigerung einer Bluttransfusion liege dann nicht vor, wenn eine solche Weigerung aus Glaubens‑ und Gewissensgründen erfolge. Dies sei bei der Verletzten der Fall gewesen. Es stehe keineswegs fest, dass die Verletzte an den Unfallfolgen dann nicht verstorben wäre, wenn sie eine Bluttransfusion zugelassen hätte.

Zu ersetzen seien dem Kläger als Erben der Verletzten die Kosten für das Begräbnis, die mit 5.772,80 EUR angegeben wurden, sowie Schmerzengeld für die Verletzte in Höhe von 800 EUR. Weiters stehe ihm ein Trauerschmerzengeld von 10.000 EUR zu.

Die beklagte Partei wendete ein, die Verletzte habe die Willenserklärung, Bluttransfusionen dürften nicht verabreicht werden, auch nach entsprechenden Aufklärungsgesprächen durch die Ärzte aufrechterhalten. Aufgrund dieser Weigerung, eine dem Stand des Wissens und der Technik der Humanmedizin entsprechende Behandlung vornehmen zu lassen, sei die beim Unfall Verletzte an dessen Folgen gestorben. Hätte sie eine fach‑ und sachgerechte Behandlung akzeptiert, wäre sie nicht gestorben, sondern hätte sie das Spital aufgrund einer erfolgreichen Amputation verlassen können. Der Tod sei daher dem Lenker des Sattelzugs nicht adäquat zurechenbar. Zum selben Ergebnis komme man auch über die Rechtsfigur der Schadensminderungspflicht. Ein Teil der Rechtsprechung habe zwar keine Pflicht des Geschädigten angenommen, sich einer operativen Heilbehandlung zu unterziehen, dies allerdings nur dann, wenn die Operation gefährlich und die Prognose ungünstig sei. Die Verabreichung einer Bluttransfusion könne aber einer Operation nicht gleichgehalten werden, da es sich dabei um keinen chirurgischen Eingriff handle.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im Betrag von 16.274,80 EUR sA statt und wies unbekämpft das Mehrbegehren von 298 EUR sA ab. Es ging von dem eingangs dargestellten Sachverhalt aus und vertrat in rechtlicher Hinsicht die Ansicht, selbst wenn die Verletzte bei Verabreichung von Blutkonserven nicht gestorben wäre, was nicht erwiesen sei, habe der Lenker des Sattelzugs den Tod adäquat herbeigeführt. Der Verletzten könne aus dem Umstand, dass sie Angehörige der damals noch nicht als Religionsgemeinschaft anerkannten Zeugen Jehovas gewesen sei, kein Nachteil erwachsen. Wollte man Zeugen Jehovas einzig und allein aufgrund ihrer religiösen Ansichten benachteiligen und ihnen Ansprüche nicht zubilligen, wäre dadurch die Glaubens‑ und Gewissensfreiheit des Einzelnen unzumutbar eingeschränkt. Da die Glaubens‑ und Gewissensfreiheit jedermann gewährleistet sei, wäre es verfassungswidrig, § 1304 ABGB dahingehend zu interpretieren, dass jemandem allein aufgrund einer zutage getretenen Glaubens‑ und Gewissensäußerung eine Minderung seines Schadenersatzes zuzumessen sei. Der Verletzten sei daher keine Verletzung der Schadensminderungspflicht anzulasten.

Das Berufungsgericht bestätigte den Zuspruch von 600 EUR sA (Schmerzengeld für die Schmerzen der Getöteten) als Teilurteil. Im Übrigen, somit hinsichtlich 15.674,80 EUR sA hob es das Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück.

Es führte in rechtlicher Hinsicht aus: Die Todesfolge sei als adäquat verursacht anzusehen. Wenngleich dem Angehörigen als unmittelbar Geschädigtem ein eigenständiger Schadenersatzanspruch zustehe, habe sich dieser ein Mitverschulden des Geschädigten ebenso wie eine Verletzung der Schadensminderungspflicht zurechnen zu lassen. Eine Verletzung der Schadensminderungspflicht wäre daher sowohl hinsichtlich der Begräbniskosten als auch hinsichtlich des Trauerschmerzengeldes von Relevanz.

Den Geschädigten treffe ein Mitverschulden, wenn er Handlungen unterlassen habe, die geeignet gewesen wären, den Schaden abzuwehren oder zu verringern, die ‑ objektiv beurteilt ‑ von einem verständigen Durchschnittsmenschen gesetzt worden wären, um eine nachteilige Veränderung des eigenen Vermögens hintanzuhalten, bzw wenn er Handlungen gesetzt habe, die geeignet gewesen seien, den Schaden zu vergrößern, die von einem verständigen Durchschnittsmenschen nicht gesetzt worden wären, und dies der konkrete Geschädigte bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen und dieser Einsicht nach hätte handeln können. Der Schädiger habe den Beweis zu erbringen, dass dem Geschädigten die Schadensminderung objektiv zumutbar gewesen sei. Sei ihm dies gelungen, habe der Geschädigte zu beweisen, dass ihm die Maßnahme subjektiv unzumutbar gewesen sei.

Grundsätzlich dürfe der an seinem Körper Verletzte die Verletzungsfolgen nicht durch Unterlassen der entsprechenden Behandlung vergrößern oder verlängern. So müsse er sich auch einer ihm zumutbaren Operation unterziehen.

Zu den ‑ der Schadensminderungspflicht entsprechenden ‑ Mitwirkungspflichten im Sozialversicherungsrecht habe der Oberste Gerichtshof in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass neben den objektiven Zumutbarkeitskriterien (Gefahrlosigkeit der Heilbehandlung, geringe Schmerzsensationen, kein schwerwiegender Eingriff in die körperliche Integrität, Erfolgsaussichten, Dauer des allfälligen stationären Aufenthalts sowie des Genesungsprozesses) auch subjektive Zumutbarkeitskriterien (wie körperliche und seelische Eigenschaften, familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse) zu berücksichtigen seien. So bestehe eine Mitwirkungspflicht insbesondere auch dann nicht, wenn die Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden könne. Unter einem wichtigen Grund seien die die Willensbildung bestimmenden Umstände zu verstehen, die die Weigerung entschuldigten und sie als berechtigt erscheinen ließen. Es sei auch zu beachten, dass nur eine schuldhafte, also eine zumindest leicht fahrlässige Verletzung der Duldungs- oder Mitwirkungspflicht des Versicherten, der sich einer zumutbaren Behandlung zu unterziehen hat, zum Verlust des Anspruchs führe.

Die Verabreichung von Blutkonserven sei prinzipiell eine Maßnahme, die von jedem verständigen Durchschnittsmenschen gesetzt werde, wenn sie geeignet sei, schwerwiegende Unfallfolgen, insbesondere eine Todesfolge, abzuwenden. Eine solche Maßnahme sei daher als objektiv zumutbar anzusehen.

Nach Auseinandersetzung mit der schon vom Erstgericht zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Innsbruck (ZVR 1996/48) sowie mit einschlägigen Lehrmeinungen führte das Berufungsgericht weiters aus: Die Garantie der Glaubens‑ und Gewissensfreiheit solle vor staatlichen Eingriffen schützen. Sie beinhalte unter anderem ein Diskriminierungsverbot. Das bedeute, dass niemand wegen seines Bekenntnisses des Gewissens, seines Glaubens, der Religion und der Weltanschauung benachteiligt oder einer unterschiedlichen Behandlung ausgesetzt werden dürfe. Eine unmittelbare Anwendbarkeit auf das Verhältnis zwischen Privatpersonen untereinander bestehe grundsätzlich nicht. Dies schließe aber eine mittelbare Drittwirkung nicht aus. Darunter verstehe man, dass Regelungen des Privatrechts grundrechtskonform auszulegen und daher geeignet seien, Private an die Grundrechte zu binden. Daraus allein lasse sich jedoch eine Rechtfertigung, durch persönliche Gewissensentscheidungen die Belastung eines anderen aus einer privatrechtlichen Beziehung auszuweiten, möge sie auch nur auf ein schuldhaftes rechtswidriges Verhalten des Anderen zurückzuführen sein, nicht ableiten. Weder sei der Geschädigte gehindert, sich seiner Überzeugung entsprechend zu verhalten, noch mindere sich der ihm ohne seine persönliche Gewissensentscheidung zukommende Ersatzanspruch. Die Ausweitung des Schadens aber sei auf einen selbständigen, durch den haftungsbegründenden Vorgang zwar adäquat verursacht, aber nicht herausgeforderten Entschluss des Verletzten zurückzuführen. Damit sei eine Berücksichtigung nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Da bei der Zumutbarkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs subjektive Kriterien in die Beurteilung einbezogen würden, könne nicht ausschließlich auf äußere Umstände wie die familiäre oder wirtschaftliche Situation abgestellt werden. Höchstpersönliche Überzeugungen wie religiöse Einstellungen, die, ihre Ernsthaftigkeit vorausgesetzt, das Verhalten des Einzelnen bestimmten, könnten im Einzelfall einen tiefergreifenden Gewissenskonflikt bewirken als familiäre und gesellschaftliche Notwendigkeiten. Die Einbeziehung subjektiver Gewissensentscheidungen bei der Prüfung der Zumutbarkeit ändere aber nichts daran, dass diese nur im Rahmen einer Gesamtbetrachtung erfolgen könne, die auch die geschützten Rechtsgüter, die durch diese Gewissensentscheidung beeinträchtigt würden, und die möglicherweise unangemessen daraus resultierende Haftung des Schädigers, sohin die gesamten allenfalls gravierenden Folgen einer solchen Entscheidung, berücksichtige. Führe eine derartige Gewissensentscheidung zu einem verzögerten Heilungsprozess, wie dies auch der Entscheidung des Oberlandesgerichts Innsbruck zugrunde gelegen sei, könne im Rahmen einer Abwägung der Interessen des Schädigers einerseits, dessen Ersatzansprüche nicht unangemessen ausgeweitet würden, und dem Gewissenskonflikt des Opfers einer Ausdehnung der Haftung der Vorzug zu geben sein. Von diesem Fall unterscheide sich jedoch der vorliegende dadurch, dass ‑ nach den Behauptungen der Beklagten ‑ die unterlassene Behandlung nicht nur eine Heilung verzögert habe, sondern zum Tod der Betroffenen geführt habe. Berücksichtige man, welcher besondere Schutz dem Leben in unserer Rechtsordnung zukomme und dass ohne diese Entscheidung Ansprüche von Angehörigen wie dem Kläger möglicherweise zur Gänze hätten vermieden werden können, erscheine es nicht gerechtfertigt, die Folgen einer solchen Entscheidung, die den eigenen Tod bewusst in Kauf nehme, zulasten des Schädigers zu berücksichtigen, möge auch diese Entscheidung aus für das Opfer bindenden Gewissensgründen getroffen worden sein. Entscheide sich daher ein Opfer eines Verkehrsunfalls aus religiösen Gründen gegen eine lebensrettende Therapie, die grundsätzlich medizinisch mit keinem weiteren Nachteil verbunden sei, könnten die Folgen dieser Entscheidung dem Schädiger nicht mehr zugerechnet werden. Daher sei der Klagsanspruch, soweit er das Trauerschmerzengeld und die Begräbniskosten betreffe, davon abhängig, ob eine Behandlung mit Blutkonserven medizinisch indiziert gewesen sei und geeignet gewesen wäre, lebenserhaltend zu wirken. Da dazu das Erstgericht weder Beweise aufgenommen noch Feststellungen getroffen habe, sei eine Aufhebung und Zurückverweisung unvermeidlich.

Das Berufungsgericht ließ hinsichtlich der Aufhebung den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu, da die Frage, ob die Verweigerung von medizinisch indizierten Maßnahmen aus religiösen Gründen im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung relevant sei, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung habe.

Gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet sich der Rekurs des Klägers mit dem Antrag, insoweit das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Der Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

Der Rekurswerber meint, die Entscheidung seiner vormaligen Ehegattin, sich zu den Zeugen Jehovas zu bekennen, sei vor dem gegenständlichen Unfall gelegen und ohne Zusammenhang mit diesem getroffen worden. Der Verletzten dieses Recht zu beschneiden, würde einen unzulässigen Eingriff in das Grundrecht der Religionsfreiheit darstellen. Die allenfalls größere Schadenersatzleistung des schuldigen Schädigers sei bei Respektierung einer Glaubens‑ und Gewissensentscheidung vertretbar. Dies treffe vor allem dann zu, wenn auf Seiten des Schädigers grobe Fahrlässigkeit vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu wurde erwogen:

Zur Adäquanz (vgl 2 Ob 314/02v), zur grundsätzlich (losgelöst von der hier relevierten Glaubens‑ und Gewissensfreiheit) bestehenden Schadensminderungspflicht (vgl RIS-Justiz RS0027043; RS0027787; RS0027062; RS0023573; RS0109225; auch im Sozialversicherungsrecht: vgl RIS-Justiz RS0084353; RS0084876) durch Zustimmung zu einer (objektiv) zumutbaren Heilbehandlung (vgl RIS‑Justiz RS0026982), im vorliegenden Fall auch durch die Zulassung von medizinisch indizierten Bluttransfusionen (vgl Reischauer in Rummel 3 [2007] § 1304 Rz 39), zur Beweislast (vgl RIS‑Justiz RS0026909) sowie zur Zurechenbarkeit des Mitverschuldens des Getöteten an die Hinterbliebenen (vgl RIS‑Justiz RS0027341; RS0026892; RS0030778 [T13]) kann auf die zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts verwiesen werden (§ 510 Abs 3 Satz 2 iVm § 528a ZPO).

Der Kläger beruft sich für seine Rechtsansicht, der Verletzten könne eine Verletzung der Schadensminderungspflicht dadurch, dass sie Bluttransfusionen verweigert habe, nicht vorgeworfen werden, auf die verfassungsrechtlich gewährleistete Religions‑, Glaubens‑ und Gewissensfreiheit.

Dass die Verletzte im Falle, dass sie Bluttransfusionen zugestimmt hätte, gegen ihr Gewissen gehandelt hätte, steht in dieser Form nicht fest. Ihre Weigerung gründet sich nach den Feststellungen der Vorinstanzen auf ihre Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas. Da diese Religionsgemeinschaft, wie allgemein bekannt ist, Bluttransfusionen generell ablehnt, ist jedoch davon auszugehen, dass eine Entscheidung der Verletzten, Bluttransfusionen zuzulassen, gegen ihr Gewissen verstoßen hätte. Der vorliegende Fall ist daher auch unter dem Gesichtspunkt der Gewissensfreiheit zu prüfen.

Die hier ins Treffen geführten verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte der Religions‑, Glaubens‑ und Gewissensfreiheit sind in folgenden Verfassungsnormen verankert:

Art 63 Abs 2 Staatsvertrag von Saint Germain:

Alle Einwohner Österreichs haben das Recht, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder mit den guten Sitten unvereinbar ist.

Art 14 Abs 1 und 2 StGG:

Die volle Glaubens‑ und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet.

Der Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnisse unabhängig; doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen.

Der mit „Gedanken‑, Gewissen‑ und Religionsfreiheit“ überschriebene Art 9 EMRK lautet:

(1) Jedermann hat Anspruch auf Gedanken‑, Gewissens‑ und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.

(2) Die Religions‑ und Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.

Rechtsprechung:

Das Oberlandesgericht Innsbruck hat in der schon von den Vorinstanzen zitierten Entscheidung vom 16. 8. 1994, ZVR 1996/48, wo die Verweigerung von Blutkonserven zu einer Verlängerung des Heilungsprozesses führte, eine Schadensminderungspflichtverletzung verneint. Im Lichte des Art 14 Abs 1 StGG und Art 9 EMRK würde es einer verfassungskonformen Interpretation des § 1304 ABGB zuwiderlaufen, wenn man aufgrund einer ernsthaft geäußerten und zu Tage tretenden Glaubens‑ und Gewissensäußerung jemandem aus diesem Grund allein eine Minderung seines Schadenersatzes zumessen würde. Das Recht auf Glaubens‑ und Gewissensfreiheit sei im Ergebnis höher einzustufen als das Recht auf Eigentum, das freilich (bezogen auf die Vermögenssphäre des beklagten Schädigers) durch die vorgenommene Auslegung beeinträchtigt werde.

Oberstgerichtliche Rechtsprechung liegt ‑ soweit ersichtlich ‑ nicht vor.

Das deutsche Bundessozialgericht hat ausgesprochen, dass Sozialleistungen an Hinterbliebene nicht zu gewähren sind, wenn der Versicherte einen wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls notwendigen operativen Eingriff nur deshalb nicht überlebt, weil er aus religiösen Gründen (als Zeuge Jehovas) eine Fremdbluttransfusion verweigert (BSG 9. 12. 2003, B 2 U8/03R).

Lehre:

Stephan Korinek/Vonkilch, Gewissen contra Schadensminderungspflicht, JBl 1997, 756, haben der zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Innsbruck im Wesentlichen zugestimmt. Grundrechtlich getroffene Wertentscheidungen sollten auch in die Gesetzesanwendung einfließen. Insofern sei eine wertorientierte Interpretation sogar geboten, mögliche Widersprüche von Normen mit den Grundrechten seien durch verfassungskonforme Interpretation zu vermeiden. Grundrechte bewirkten zwar keine unmittelbare Bindung von Privaten, flössen aber mittelbar über die den Privatrechtsverkehr regelnden Gesetze, vor allem über wertausfüllungsbedürftige Begriffe und Generalklauseln, ins Privatrecht ein. Bei der Ermittlung der subjektiven Zumutbarkeit sei daher auf die grundrechtlich garantierte Glaubens‑ und Gewissensfreiheit Rücksicht zu nehmen. Dabei sei es irrelevant, ob eine höchstpersönliche Gewissensentscheidung für Außenstehende in der Sache nachvollziehbar sei. Bei der notwendigen Abwägung zwischen Gewissensfreiheit und Eigentumsrecht sei zu berücksichtigen, dass zwischen dem Schädiger und der Zeugin Jehovas, dem Opfer, eine ungewollte Rechtsbeziehung vorliege. Diese sei allein durch den Schädiger herbeigeführt worden, der einen Tatbestand verwirklicht habe, der grundsätzlich einen Haftungsgrund für den gesamten adäquat verursachten Schaden darstelle. Damit sei aber ein Eingriff in das Eigentum des Schädigers eher gerechtfertigt als ein Eingriff in die Gewissensfreiheit des Geschädigten. Allenfalls komme eine Schadensteilung nach Billigkeit in Betracht: Die Zeugin Jehovas greife via Vergrößerung der Schadenersatzpflicht in das bloße Vermögen der Schädiger ein, um ihr Rechtsgut Gewissen schonen zu können. Dies sei ihr zwar nicht vorwerfbar und deswegen nicht als Mitverschulden anzulasten, einen billigen Ausgleichsbeitrag zur Tragung des dadurch im Vermögen der Schädiger aufgrund erhöhter Schadenersatzpflicht verursachten Schadens werde sie ihr Gewissen aber kosten dürfen.

Dem gegenüber haben Harrer und Reischauer die zitierte Entscheidung des Oberlandesgerichts Innsbruck abgelehnt.

Harrer in Schwimann 3 (2006) § 1304 Rz 11 führt aus, zunächst sollte man bedenken, dass eine Beeinträchtigung der Gewissensfreiheit in causa nicht zur Diskussion gestanden sei. Es erhebe sich vielmehr die Frage, ob das Grundrecht auf Gewissensfreiheit den Staat verpflichte, dem Schädiger den Ersatz jener immateriellen Schäden aufzuerlegen, die entstanden seien, weil die Geschädigte ihrem Gewissen und nicht ihren Ärzten gefolgt sei. Anhaltspunkte für dieses exzessive Verständnis der Gewissensfreiheit seien nicht erkennbar. Von einer gleichsam uneingeschränkten Gewissensfreiheit könne nicht gesprochen werden. Es leuchte deshalb nicht ein, eine Verletzung der Schadensminderungspflicht im Hinblick auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit zu verneinen; diese Freiheit sei nicht beeinträchtigt gewesen. Einen schadenersatzrechtlichen (mittelbaren) Schutz der Gewissensfreiheit erfordere das Grundrecht nicht; Sachgesichtspunkte, die für diesen Anspruch ins Treffen geführt werden könnten, seien nicht zu sehen.

Reischauer in Rummel 3 (2007) § 1304 Rz 39 führt zur zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Innsbruck aus, aus dem Grundrecht der Glaubens‑ und Gewissensfreiheit lasse sich eine Verneinung der Schadensminderungspflicht eines Zeugen Jehovas, der eine Bluttransfusion verweigere, nicht ohne weiteres ableiten. Die Grundrechte seien staatsgerichtet. Eine andere Frage sei die der Drittwirkung der Grundrechte. Der Staat dürfe in die Glaubens‑ und Gewissensfreiheit grundsätzlich eingreifen. Sie dürfe aber auch nicht zulasten anderer ausgeübt werden. Die zitierte Entscheidung möge noch im Einklang mit der Rechtsordnung sein. Man bedenke dagegen aber zB den Fall, dass einem Kind eine sogleich nötige Bluttransfusion verweigert werde und dieses infolge dessen eine lebenslange Beeinträchtigung zB in Form von Debilität erleide. Darauf, dass Art 9 EMRK Eingriffe zum Schutz der Gesundheit besonders hervorhebe, sei besonders hingewiesen. Reischauer stellt die Frage, warum man dem Angehörigen einer bestimmten Religionsgemeinschaft etwas zubilligen sollte, was man einem Nichtangehörigen nicht zubillige, obwohl er aus irgendwelchen anderen Gründen in tiefster innerer Überzeugung auch der Auffassung sei, dass eine Bluttransfusion mit seinem Gewissen unvereinbar sei.

Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON 1.00 (2010) § 1304 Rz 99 bezeichnet die Entscheidung des Oberlandesgerichts Innsbruck als „höchst problematisch“.

Der erkennende Senat folgt der Auffassung des Oberlandesgerichts Innsbruck sowie von St. Korinek/Vonkilch nicht, sondern hält vielmehr die an der zitierten Entscheidung geübte Kritik von Harrer und Reischauer sowie die Erwägungen des Berufungsgerichts für grundsätzlich zutreffend.

Nach Ansicht des Senats war die beim Unfall Verletzte nicht in ihrer Religions‑, Glaubens‑, oder Gewissensfreiheit beeinträchtigt. Als eigenberechtigter Person stand es ihr frei, jegliche medizinische Behandlung, somit auch eine Bluttransfusion, zu verweigern. Ihre Weigerung war rechtmäßig. Die Verletzung der Schadensminderungspflicht setzt nämlich kein rechtswidriges Verhalten des Geschädigten voraus, sondern begründet lediglich eine Obliegenheitsverletzung (RIS‑Justiz RS0022681 [T6]; Karner in KBB3 § 1304 Rz 1 und 9 mwN).

Dass die Entscheidung, medizinisch indizierte Bluttransfusionen generell zu verweigern, objektiv ungünstig ist, zeigt auch die Rechtsprechung, wonach die Weigerung von Eltern, der notwendigen Bluttransfusion bei ihrem Kind zuzustimmen, das Kindeswohl verletzt (1 Ob 586/86 = RIS‑Justiz RS0086170).

Die Freiheit der (Gewissens‑)Entscheidung bedeutet aber nicht, dass derjenige, der eine für ihn objektiv ungünstige, gegen die Obliegenheit zur Schadensminderung verstoßende Gewissensentscheidung trifft, die aus der objektiven Ungünstigkeit der Entscheidung folgenden Nachteile nicht zu tragen hat. Diese Nachteile sind im vorliegenden Fall möglicherweise der Tod der Verletzten, aber auch, dass im Fall, dass bei medizinisch indizierter und durchgeführter Bluttransfusion die Verletzte überlebt hätte, der Schädiger für die nachteiligen Folgen dieser objektiv ungünstigen Gewissensentscheidung nicht einzustehen hat. Ansonsten wäre, wie schon das Oberlandesgericht Innsbruck erkannt hat, das ebenfalls verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrecht des Schädigers auf Eigentum (Art 5 StGG) betroffen (vgl Mayer, B-VG4 [2007], Art 5 StGG II.2. mwN).

Die gegenteilige Auffassung erschiene in anderer Weise grundrechtlich bedenklich: Wie ausgeführt, ist nach den Feststellungen die Entscheidung der beim Unfall Verletzten, Bluttransfusionen zu verweigern, durch ihre Mitgliedschaft bei der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas bedingt. Wollte man nun Mitgliedern der Zeugen Jehovas im Gegensatz zu anderen Menschen zugestehen, dass die Verweigerung zu medizinisch indizierten, schadensmindernden Bluttransfusionen nicht als anspruchsvernichtende Verletzung der Schadensminderungspflicht zugerechnet würde, wäre dies ‑ wie schon Reischauer aaO angedeutet hat ‑ eine Privilegierung der Mitglieder der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Diese Sichtweise stünde im Verdacht, gegen den Gleichheitsgrundsatz zu verstoßen, wonach auch Vorrechte des Bekenntnisses ausgeschlossen sind (Art 7 B‑VG). Weiters wäre fraglich, ob dann noch der Genuss der bürgerlichen Rechte (vgl Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 14 StGG Rz 16) von dem Religionsbekenntnis unabhängig wäre, wie dies Art 14 Abs 2 StGG vorschreibt.

Schließlich ist anzumerken, dass selbst St. Korinek/Vonkilch aaO einräumen, dass sich im Rahmen einer Billigkeitslösung ein Zeuge Jehovas seine Gewissensentscheidung „etwas kosten lassen“ dürfe.

Entgegen der Auffassung des Klägers kann an dieser Beurteilung auch ein grobes Verschulden des Schädigers nichts ändern.

Angemerkt sei zunächst, dass grobes Verschulden für das Trauerschmerzengeld überhaupt erst Anspruchsvoraussetzung ist (RIS‑Justiz RS0115189). Dem Kläger ist freilich zuzugestehen, dass er als Folge des Verlustes seiner Ehefrau medikamentös behandelte Depressionen, und somit eine krankheitswertige Gesundheitsschädigung, die bei nahen Angehörigen auch ohne grobes Verschulden des Schädigers zu Schmerzengeldansprüchen führt (RIS‑Justiz RS0116865 [T15]), behauptet hat; festgestellt wurde dies allerdings nicht.

Davon abgesehen ist nach der zitierten Rechtsprechung der Verschuldensgrad des Schädigers kein Kriterium dafür, ob dem Verletzten die Verletzung der Schadensminderungpflicht anspruchsmindernd oder anspruchsvernichtend zugerechnet wird.

Ausgehend von dieser Rechtsansicht erweist sich die vom Berufungsgericht aufgetragene Verfahrensergänzung durch das Erstgericht als notwendig und war daher dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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