OGH 2Ob218/20b

OGH2Ob218/20b26.5.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H* P*, vertreten durch Mag. Stefan Geisler und Mag. Markus Gredler, Rechtsanwälte in Zell am Ziller, gegen die beklagte Partei Marktgemeinde E*, vertreten durch Reif und Partner Rechtsanwälte OG in Villach, wegen 34.707,22 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 1.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 9. Oktober 2020, GZ 5 R 89/20b‑65, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 7. April 2020, GZ 23 Cg 41/18f‑54, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132059

 

Spruch:

 

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahingehend abgeändert, dass es einschließlich des bereits in Rechtskraft erwachsenen Teils lautet:

„Das Klagebegehren,

I. die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei den Betrag von 34.707,22 EUR samt 4 % Zinsen seit 24. 8. 2018 zu bezahlen, und

II. es werde festgestellt, dass die beklagte Partei der klagenden Partei für sämtliche zukünftige Schäden aus Anlass des Unfalls vom 18. Juli 2018 um ca 17:30 Uhr im Orts‑ und Gemeindegebiet von B* auf der Gemeindestraße auf Höhe des Hauses O* haftungs‑ und ersatzpflichtig ist,

wird abgewiesen.“

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 36.014,54 EUR (darin 4.846,02 EUR USt und 6.985,72 EUR Barauslagen) bestimmten Verfahrenskosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen, wobei sie für die im Zuspruch enthaltenen Kosten für die Tagsatzung vom 3. 3. 2020 in Höhe von 1.954,56 EUR (darin enthalten 325,76 EUR USt) solidarisch mit dem Zeugen E* O* haftet.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 18. 7. 2018 ereignete sich um 17:30 Uhr auf einem von Radfahrern viel befahrenen „Verbindungsweg“ der Beklagten ein Fahrradunfall, bei dem der Kläger verletzt wurde. Der Fahrradtourismus spielt in der Gemeinde der Beklagten eine große Rolle.

[2] Der Verbindungsweg verläuft im näheren Unfallbereich in Nord/Süd-Richtung und ist etwa 7 m breit. Etwa 34 m nördlich der Unfallstelle beschreibt die Fahrbahn eine Kurve und verläuft dann in Ost-West-Richtung in einer Breite von 5 m mit einem nördlich anschließenden Grünstreifen und danach einem Geh‑ und Radweg von 2 m Breite. Dort befindet sich ein Hinweisschild „Radweg R1“ sowie ein Pfeil, der den Radweg als „Karawankenrunde“ ausweist. Von Norden kommend befand sich im Unfallszeitpunktetwa 196 m vor der Unfallstelle im Bereich des Geh‑ und Radwegs das Gefahrenzeichen nach § 50 Z 1 StVO („Querrinne/Aufwölbung“). Aufgrund seiner Position konnte das damals beim Radweg befindliche Gefahrenzeichen von einem Verkehrsteilnehmer, der nicht den Radweg befuhr, nicht wahrgenommen werden. Ein weiteres solches Gefahrenzeichen war in der Gegenrichtung rund 170 m vor der Unfallstelle aufgestellt. Im Unfallbereich ist die Fahrbahn der Verbindungsstraße teils asphaltiert, teils mit Betonsteinen gepflastert. Die Fahrbahn weist in Nord-Süd-Richtung und teilweise auch quer dazu vertiefte Fahrrinnen auf, zur Unfallszeit waren mehrere Schlaglöcher vorhanden. In besagtem Kurvenbereich gibt es massive Asphaltveränderungen und Vertiefungen, wie Risse im Asphalt.

[3] Der Kläger befuhr am Unfallstag mit seinem E‑Bike in Begleitung von zwei Bekannten den Straßenabschnitt ursprünglich Richtung Norden zu einem Badeausflug. Das in dieser Fahrtrichtung aufgestellte Gefahrenzeichen nahm er nicht wahr. Am späteren Nachmittag fuhr die Gruppe wieder zurück Richtung Süden. In Annäherung an die – in diese Richtung gesehen – letzte Rechtskurve vor der Unfallstelle fuhr der Kläger auf der Fahrbahn und nicht auf dem parallel dazu verlaufenden Geh‑ und Radweg, der bei der Rechtskurve endet. Aus diesem Grund konnte er das im Bereich des Geh‑ und Radwegs angebrachte Gefahrenzeichen nicht wahrnehmen. Nach der Kurve verlief die Fahrbahnbis zur Unfallstelle über eine Strecke von 32 m geradlinig. Der Kläger wählte dort eine Fahrlinie etwas links von der Fahrbahnmitte und fuhr mit einer Geschwindigkeit von ca 15 km/h. Einer seiner Begleiter fuhr – vom Kläger aus gesehen – rechts versetzt ca 10 m vor ihm. Der Kläger hatteaufgrund dessen zumindest über eine Wegstrecke von 10 m direkte Sicht auf die Unfallstelle. Er nahm zwar kurz vor dem Unfall Schlaglöcher wahr, nicht aber dieeine Vertiefung („Bodenwelle“; „Senke“) im Asphalt mit einem Niveauunterschied von rund 8 cm, deren südlicher Rand „nicht homogen ausgebildet“ war. Bedingt durch die Vertiefung wurde „ein Stoßimpuls auf das Vorderrad eingeleitet“, wodurch sich der Lenker des Fahrrads entgegen dem Uhrzeigersinn verdrehte. Der Kläger stürzte über die Lenkstange und schlug mit der rechten Schulter am Asphalt auf.

[4] Die Unfallstelle befand sich zum Unfallszeitpunkt noch vor der Licht-Schatten-Grenze. Aufgrund der bestehenden Sichtstrecke wäre dem Kläger „jederzeit“ ein Ausweichen nach rechts oder ein Abbremsen möglich gewesen. Wäre der Kläger am rechten Fahrbahnrand gefahren, wäre er ebenfalls nicht zu Sturz gekommen.

[5] Föhnstürme im Dezember 2017 hatten im gesamten Gemeindegebiet der Beklagten schwere Schäden verursacht. Sie machten die Schlägerung mehrerer tausend Festmeter Holz und dadurch vermehrte LKW-Fuhren erforderlich, die zeitweise über den gegenständlichen Straßenabschnitt erfolgten, bis eine Ausweichmöglichkeit geschaffen wurde. Die zum Sturz des Klägers führende Vertiefung hatte sich „spätestens ab dem Jahr 2017“ gebildet. Sie führte auch dazu, dass PKWs aufsaßen. Ein Mitarbeiter des Bauhofs der Beklagten meldete dem Bauhofleiter zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2017, dass diese Stelle mit Kaltasphalt nicht ausgebessert werden könne, wie dies sonst üblicherweise bei kleineren Schlaglöchern erfolgte. Der Bauhofleiter notierte diese Meldung. Eine Sanierung der Vertiefung erfolgte vor dem Unfall nicht, allerdings wurden noch im Jahr 2017 dieerwähnten Gefahrenzeichen aufgestellt. Eine provisorische Sanierung der Unfallstelle, die nach dem Unfall durchgeführt wurde, kostete 1.000 EUR. Die vollständige Sanierung des Straßenabschnitts in der Länge von 122 m hätte rund 66.000 EUR erfordert.

[6] Im ordentlichen Haushalt betrug das Budget der Beklagten im Jahr 2018 rund 5,6 Mio EUR, im außerordentlichen Haushalt waren es rund 1,5 Mio EUR. Für Straßenerhaltungsarbeiten steht ihr jährlich ein Budget von rund 75.000 EUR für Personalkosten, Kosten der Geräte sowie Material zur Verfügung. Die Beklagte ist für ein ca 60 km umfassendes Straßennetz verantwortlich, das aus rund 20 km Gemeindestraßen, 20 km Verbindungswegen sowie rund 20 km Ortschaftswegen besteht.

[7] Der Kläger begehrte den Ersatz seines mit insgesamt 34.707,22 EUR sA bezifferten Schadens sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche zukünftigen Schäden aus dem Unfall. Die Beklagte hafte gemäß § 1319a ABGB, weil sie für den von ihr grob fahrlässig verschuldeten mangelhaften Zustand des Weges einzustehen habe. Der Fahrbahnzustand sei völlig desolat gewesen. Der Beklagten wäre es leicht möglich gewesen, den Gemeindeweg zu sanieren.

[8] Die Beklagtewandte ein, dass ihr keine auffallende Sorglosigkeit betreffend die Erhaltung der Gemeindestraße vorzuwerfen sei. Aufgrund von Föhnstürmenab 12. 12. 2017 habe ca eine Million Festmeter Holz abtransportiert werden müssen, weshalb die Gemeindestraßen der Beklagten mehr beansprucht worden seien als in den letzten 15 Jahren davor. Beim Straßenstück, auf dem der Kläger zu Sturz gekommen sei, handle es sich um einen Verbindungsweg, also eine Straße untergeordneter Bedeutung. Die Sanierung eines solchen untergeordneten Verbindungsweges vor Beendigung der Holztransporte wäre unwirtschaftlich gewesen. Deshalb seien Warnschilder aufgestellt worden. Bei gehöriger oder auch nur geringer Aufmerksamkeit hätte der Kläger das Warnschild, das vor den Unebenheiten der Fahrbahn gewarnt habe, wahrnehmen können, wodurch er in weiterer Folge seine Fahrgeschwindigkeit und seine Fahrweise (Fahrlinie) den Fahrbahnverhältnissen hätte anpassen können und nicht zu Sturz gekommen wäre. Das Alleinverschulden, jedenfalls aber das überwiegende Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls habe daher der Kläger zu verantworten. Auch wäre er verpflichtet gewesen, den vor der Unfallstelle in Ost‑West‑Richtung verlaufenden Geh‑ und Radweg zu benutzen. Hätte er dieser Verpflichtung entsprochen, hätte er das Gefahrenzeichen gesehen.

[9] Das Erstgericht gab dem Zahlungsbegehren mit 8.722,14 EUR sA und dem Feststellungsbegehren im Ausmaß von zwei Dritteln statt und wies das Mehrbegehren ab. Das Aufstellen von Warnzeichen reiche nicht aus. Der Beklagten wäre zumutbar gewesen, die ihr bekannte Gefahrenstelle mit geringem Kostenaufwand provisorisch zu beseitigen, weshalb grobe Fahrlässigkeit iSd § 1319a ABGB gegeben sei. Im Hinblick auf die unaufmerksame Fahrweise des Klägers treffe diesen ein Mitverschulden. Eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten der Beklagten sei angemessen.

[10] Das von beiden Seiten angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Der Beklagten sei schon deshalb grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, weil sie die Unfallstelle schon längere Zeit gekannt und dennoch die zumutbare Behebung unterlassen habe. Das Aufstellen von Warnschildern exkulpiere die Beklagte nicht, weil ihr die provisorische Sanierung zumutbar gewesen sei. Das 196 m vor dem Unfall aufgestellte Gefahrenschild sei überdies – selbst bei Wahrnehmbarkeit – keine ausreichende Warnung gewesen. Dem Kläger wäre die Gefahrenstelle trotz der Sichtbehinderung durch seinen Vordermann aus 10 m Entfernung erkennbar gewesen, ohne diese Sichtbehinderung hätte Sicht aus rund 32 m bestanden. Bei aufmerksamer Fahrweise, zu der er schon allein aufgrund der schlechten Fahrbahnverhältnisse und der im weiteren Umfeld aufgestellten Warntafeln verpflichtet gewesen wäre, hätte er der Vertiefung ausweichen oder vor ihr abbremsen können. Die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung sei daher angemessen.

[11] Gegen den stattgebenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der gänzlichen Klagsabweisung. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[12] Die Beklagte macht geltend, dass ihr kein grob fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen sei. Sie sei keineswegs untätig gewesen, sondern habe im Einklang mit § 49 Abs 2 StVO Gefahrenzeichen aufgestellt, mit denen auf den allgemeinen Straßenzustand hingewiesen worden sei. Auch sei die Gefahrenstelle gut erkennbar gewesen. Mit einem derart sorglosen Verhalten des Klägers habe die Beklagte nicht rechnen müssen, zumal es vor dem Unfall keinen ähnlichen Vorfall gegeben habe. Jedenfalls sei aber die Verschuldensteilung falsch und müsse im Verhältnis 2 : 1 zu ihren Gunsten erfolgen.

[13] Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[14] Die Revision ist zulässig, weil die Entscheidung der Vorinstanzen einer Korrektur bedarf, sie ist auch berechtigt.

[15] 1. Nach § 1319a Abs 1 Satz 1 ABGB haftet der Halter eines Weges den Benützern, wenn durch seinen mangelhaften Zustand ein Schaden herbeigeführt wird und dem Halter selbst oder seinen Leuten grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorzuwerfen ist.

[16] 2. Der Gesetzgeber wollte gerade durch die Verwendung des Worts „Zustand“ in § 1319a Abs 1 ABGB statt des ebenfalls erwogenen Ausdrucks „Beschaffenheit“ (wie in § 1319 ABGB) zum Ausdruck bringen, dass nicht für den Weg selbst im engeren Sinn, sondern für dessen Verkehrssicherheit im weitesten Sinn gehaftet werden solle (2 Ob 293/98x; 2 Ob 235/15w; RS0030088). Welche Maßnahmen ein Wegehalter konkret zu ergreifen hat, richtet sich nach § 1319a Abs 2 letzter Satz ABGB danach, was nach der Art des Weges, besonders nach seiner Widmung, seiner geographischen Lage in der Natur und dem Verkehrsbedürfnis angemessen und nach objektiven Maßstäben zumutbar ist. Es kommt im jeweils zu prüfenden Einzelfall darauf an, ob der Wegehalter die ihm zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um die gefahrlose Benützung gerade dieses Weges zu erreichen (2 Ob 310/02f; 2 Ob 235/15w; 2 Ob 37/17f; 2 Ob 180/20i; RS0030180; RS0087607).

[17] 3. Im vorliegenden Fall diente jener Abschnitt der Verbindungsstraße, auf der sich der Unfall ereignete, jedenfalls auch dem Fahrradverkehr. Radfahrer, die in der Annäherungsrichtung des Klägers zunächst den als „Radweg R1“ und als „Karawankenrunde“ beschilderten Geh‑ und Radweg benützten, waren ab der letzten Kurve vor der Unfallstelle dazu gezwungen, die Fahrbahn des Verbindungsweges zu befahren, weil der Geh‑ und Radweg vor dieser Kurve endete. Nach den Feststellungen wurde dieser Abschnitt von Radfahrern auch tatsächlich „viel befahren“. Nach objektiven Maßstäben durften sich Radfahrer daher erwarten, dass eine gefahrlose Benützung der Fahrbahn möglich ist. Die Kriterien des Verkehrsbedürfnisses und der objektiven Zumutbarkeit der Instandhaltung der Fahrbahn waren unter den gegebenen Umständen erfüllt, weshalb der Zustand des Weges mangelhaft war (vgl 2 Ob 235/15w).

[18] 4. Im nächsten Schritt ist zu prüfen, ob der Beklagten die Instandhaltung der Fahrbahn auch subjektiv zumutbar war. Dabei ist zu unterscheiden:

[19] 4.1. Einerseits steht fest, dass die Fahrbahn Längs‑ und Quervertiefungen sowie Risse und Schlaglöcher aufwies und über eine Wegstrecke von 122 m sanierungsbedürftig war, wobei für die Sanierung hohe Kosten, die den größten Teil des für die Straßenerhaltung im Gemeindegebiet insgesamt zur Verfügung stehenden Jahresbudgets aufgebraucht hätten, angefallen wären. Dazu kommt, dass nach einem Föhnsturm im Dezember 2017 über den besagten Straßenabschnitt vermehrt Holztransporte mit LKWs erfolgten. Es ist nachvollziehbar, dass die Beklagte in dieser Situation von einer Gesamtsanierung der Fahrbahn vorläufig Abstand nahm, eine solche wäre ihr nicht zumutbar gewesen.

[20] 4.2. Andererseits hatte sich die zum Unfall führende Vertiefung mit einem Niveauunterschied von 8 cm als potenzielle Gefahrenstelle herausgebildet, auf welche die Leute der Beklagten noch im Jahr 2017 aufmerksam geworden waren. Da mit einem Kostenaufwand von nur 1.000 EUR wenigstens eine provisorische Reparatur möglich gewesen wäre, bestand kein ersichtlicher Grund, mit der Veranlassung einer solchen Maßnahme zuzuwarten. Insoweit ist daher neben der objektiven auch die subjektive Zumutbarkeit der Behebung dieser – als solche erkannten – Gefahrenstelle zu bejahen.

[21] 5. Da somit der Zustand des Weges mangelhaft war und die Beklagte eine zumutbare Maßnahme zur Gefahrenabwehr unterlassen hat, hängt die Haftung der Beklagten davon ab, ob ihr bzw ihren Leuten die Unterlassung als grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist:

[22] 5.1. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die gebotene Sorgfalt in ungewöhnlicher Weise verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist (RS0030171). Der Begriff erfordert, dass ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß bei Überlegung aller Umstände des konkreten Einzelfalls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (2 Ob 180/20i mwN; RS0030171 [T2]).

[23] 5.2. Im Allgemeinen ist grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, wenn der Halter die Gefährlichkeit einer bestimmten Stelle des Weges kannte und eine zumutbare Behebung unterblieb (2 Ob 16/21y mwN; RS0030171 [T4]).

[24] So handelt etwa ein Wegehalter grob fahrlässig, wenn er Jahre hindurch eine rund 10 cm hohe Erhebung des Asphaltbelags durch eine unter der Asphaltdecke verlaufende Baumwurzel belässt, die nicht zu vermuten und bei schlechten Sichtbedingungen auch kaum zu erkennen ist (4 Ob 72/01v = RS0115241).

[25] Im Fall von rund ein halbes Jahr lang belassener Frostschäden auf einer Bundesstraße hat der Oberste Gerichtshof hingegen aufgrund der Beschilderung des Gefahrenbereichs mit diversen Gefahrenzeichen die Verneinung grober Fahrlässigkeit gebilligt, obwohl eine besondere Kennzeichnung der innerhalb des Gefahrenbereichs liegenden außergewöhnlichen Gefahrenstelle unterblieben war (2 Ob 310/02f).

[26] 6. Auch im vorliegenden Fall hat die Beklagte die 8 cm tiefe Senke auf dem Verbindungsweg für jedenfalls mehr als ein halbes Jahr bestehen lassen. Sie blieb aber dennoch nicht untätig, sondern hat in beiden Fahrtrichtungen vor dem schadhaften Abschnitt der Fahrbahn die in § 50 Z 1 StVO geregelten Gefahrenzeichen („Querrinne“ oder „Aufwölbung“) aufgestellt.

[27] Damit wurden Radfahrer vor den Unebenheiten auf der Fahrbahn der Verbindungsstraße ausreichend gewarnt. Muss doch von einem Radfahrer schon grundsätzlich verlangt werden, dass er die vor ihm liegende Fahrbahn soweit beobachtet, dass er seine Fahrt ohne Sturz absolvieren kann. Dazu gehört auch die Aufmerksamkeit auf allfällige Hindernisse auf der Fahrbahn wie Schlaglöcher, Rollsplitt usw (2 Ob 108/12i = RS0128307). Umso mehr gilt dies, wenn vor einem bestimmten Straßenabschnitt Gefahrenzeichen aufgestellt sind.

[28] 7. Die vom Kläger dagegen vorgebrachten Einwände verfangen nicht:

[29] 7.1. Gemäß § 68 Abs 1 StVO hatten Radfahrer – aus der Annäherungsrichtung des Klägers – bis zur letzten Kurve vor der Unfallstelle die dort vorhandene Radfahranlage zu benützen, die Verwendung der allgemeinen Fahrbahn war ihnen in diesem Bereich noch nicht erlaubt. Da die Beklagte auf die Einhaltung dieser gesetzlichen Bestimmung vertrauen durfte, war es nur folgerichtig und logisch, dass sie das Gefahrenzeichen, das ja offenkundig der Warnung der Radfahrer diente, so anbrachte, dass es von den Benützern des Geh‑ und Radweges wahrgenommen werden konnte. Der Kläger kann sich daher nicht mit Erfolg darauf berufen, dass für ihn aufgrund seines gesetzwidrigen Fahrverhaltens das Gefahrenzeichen nicht wahrnehmbar war.

[30] 7.2. Aus diesem Grund ist es an sich auch nicht von Bedeutung, ob das Gefahrenzeichen in – wie der Kläger meint – zu großer Entfernung von der Gefahrenstelle angebracht war. Denn auch wenn es in geringerer Entfernung angebracht gewesen wäre, hätte er es mangels Benützung der Radfahranlage nicht gesehen. Davon abgesehen entsprach die Entfernung des Gefahrenzeichens von der Vertiefung ohnehin der Regelung des § 49 Abs 2 StVO (150 bis 250 m) und ist der Beklagten daher nicht vorzuwerfen. Dass angesichts der über eine längere Wegstrecke schadhaften Fahrbahn auf die besondere Gefahrenstelle nicht noch einmal hingewiesen wurde, begründet noch kein schweres Verschulden im Sinn grober Fahrlässigkeit (vgl 2 Ob 310/02f).

[31] 8. Im Übrigen hat der Oberste Gerichtshof in Fällen, in denen auf Hindernisse nicht aufmerksam gemacht wurde, die aber entweder gut sichtbar waren (5 Ob 2023/96b) oder bei Einhaltung der Verkehrsvorschriften nicht zum Unfall geführt hätten, grobe Fahrlässigkeit des Wegehalters verneint bzw deren Verneinung gebilligt, weil der Eintritt eines Schadens zwar möglich, aber nicht geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen war (2 Ob 155/14d mwN; vgl auch Reischauer in Rummel³ § 1319a Rz 17).

[32] Hier lag die objektive Sichtweite auf die Gefahrenstelle bei rund 32 m, sie war für einen Radfahrer also aus ausreichend großer Entfernung erkennbar. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass sich vor jenem des Klägers ein gleichartiger Unfall mit einem Radfahrer ereignet hätte, obwohl sich die Vertiefung doch schon seit mehreren Monaten auf der von Radfahrern „viel befahrenen“ Strecke befand. Dass der Beklagten bekannt geworden wäre, dass PKWs „aufsaßen“ steht ebenfalls nicht fest.

[33] 9. Unter Würdigung all dieser Umstände ist der Beklagten die Unterlassung der provisorischen Sanierung der Gefahrenstelle nicht als grobes Verschulden vorwerfbar. In Stattgebung der Revision der Beklagten ist die angefochtene Entscheidung daher dahin abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen wird.

[34] 10. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 Abs 1 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Im Hinblick auf die Einwendungen der Beklagten ist zu berücksichtigen, dass die Urkundenvorlagen des Klägers vom 1. 4. 2019 und 29. 7. 2019 im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu anderen honorierten Schriftsätzen standen und deshalb nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich waren; sie sind daher nicht zu honorieren. Der Ausspruch über die solidarische Kostenhaftung für die Tagsatzung vom 3. 3. 2020 mit dem Zeugen ergibt sich aus der insofern bereits in Teilrechtskraft erwachsenen Kostenentscheidung der Vorinstanzen (vgl auch RS0035832).

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