European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00164.20M.0128.000
Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird teilweise Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Parteien sind seit 1988 verheiratet. Zu entscheiden ist über die Klage des Mannes (idF Kläger) und die Widerklage der Frau (idF Beklagte) auf Scheidung jeweils aus dem Verschulden der Gegenseite. Die Klage wurde am 27. September 2018 erhoben, die Widerklage am 26. November 2018.
[2] Das Ehepaar lebt in einem Tourismusgebiet. Der Kläger war bei Bergbahnen angestellt, die Beklagte besorgte die Vermietung von Ferienwohnungen in einem Haus, das der Kläger von seinem Vater erhalten hatte. Weiters war sie auf Stundenbasis als Kellnerin tätig, kümmerte sich um die Kindererziehung und versorgte den Haushalt. Die Vorinstanzen konnten nicht feststellen, dass die Beklagte die Vermietung „wesentlich vernachlässigt“ hätte.
[3] Die Ehegatten haben eine 1987 geborene Tochter, die mit ihrem Lebensgefährten und ihrem minderjährigen Sohn bis 2017 oder 2018 im Haus wohnte; die Beklagte hat eine weitere Tochter, die in Kärnten lebt.
[4] Die Ehe der Streitteile verlief aus Sicht beider Streitteile seit längerem „nicht ganz friktionsfrei“. Bereits 2015 sprachen sie über die Scheidung, wobei die Initiative zunächst von der Beklagten ausging. Hintergrund war der Alkoholkonsum des Klägers, den dieser bis dahin „zunehmend gesteigert“ hatte. Er trank täglich durchschnittlich zwei Flaschen Bier und regelmäßig auch Schnaps, was sich negativ auf das Eheleben ausgewirkt hatte. Die Beklagte organisierte für ihn Termine bei Therapeuten und bei einer Suchtberatungsstelle; der Kläger nahm einzelne Termine wahr, um dem ausdrücklichen Wunsch der Beklagten zu entsprechen, führte diese jedoch nicht weiter. Darüber hinaus versuchte die Beklagte, den Kläger zu anderweitigen Aktivitäten, wie etwa zum Wandern oder zu Tanzkursen oder Schnitzkursen zu motivieren. Im Zuge der Gespräche über eine Scheidung nahmen die Streitteile im Jahr 2015 eine Mediation in Anspruch.
[5] Ab Februar 2015 trank der Kläger keinen Alkohol mehr, dies bis August 2018. Die Vorinstanzen konnten nicht feststellen, ob er den Alkoholkonsum aus gesundheitlichen Gründen einstellte. Beide Streitteile entschieden sich, die Ehe fortzusetzen, wobei für die Beklagte ausschlaggebend war, dass der Kläger seinen Alkoholkonsum eingestellt hatte. Sie selbst trinkt nur vereinzelt Alkohol; Anfang 2018 war sie einmal aus Anlass einer Brauchtumsveranstaltung stark betrunken.
[6] Zwischen den Streitteilen kam es immer wieder zu Streitigkeiten, wobei nicht festgestellt werden kann, ob eine der Parteien diese überwiegend provozierte. Der Kläger verhielt sich bei diesen Auseinandersetzungen mitunter aufbrausend. Insbesondere seit dem Jahr 2016 fanden immer weniger gemeinsame Unternehmungen statt. Die Beklagte fragte den Kläger zunächst einige Male, ob er mit ihr und ihrer Schwester oder ihrer Nachbarin Konzerte besuchen wolle; der Kläger lehnte dies auch deshalb ab, weil er bei gemeinsamen Unternehmungen nicht immer dritte Personen dabei haben wollte. Später fragte die Beklagte nicht mehr, ob der Kläger sie begleiten wolle.
[7] „Früher“ verbrachten die Streitteile gemeinsame Urlaube in Kärnten und besuchten auch gelegentlich die Schwester der Beklagten in Liechtenstein. Zusätzlich reiste die Beklagte auch alleine nach Kärnten oder Liechtenstein, wogegen der Kläger keine Einwände hatte. Der letzte gemeinsame Urlaub fand 2017 statt. Ab diesem Zeitpunkt verreiste die Beklagte alleine in nicht näher feststellbarem Ausmaß, wobei sie den Kläger bis Ende Mai 2019 über die Reisen in Kenntnis setzte.
[8] Der letzte Geschlechtsverkehr fand 2017 statt; zuvor war es wenige Male im Jahr zum Geschlechtsverkehr gekommen. Zumindest seit dem Jahr 2016 gab es zwischen den Streitteilen „kaum noch Liebe oder Zärtlichkeiten“. Anfang Februar 2018 zog die Beklagte aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus und schlief auf der Couch im Wohnzimmer. Hintergrund waren Unstimmigkeiten über den Umgang mit der gemeinsamen Tochter und deren Sohn. Während der Kläger ein gutes Verhältnis zur gemeinsamen Tochter pflegte, war das Verhältnis zwischen dieser und der Beklagten bereits seit Längerem angespannt und hatte sich im Laufe der letzten Jahre zunehmend verschlechtert. Streitpunkt war unter anderem die Erziehung des Enkels. Der Kläger war der Ansicht, dass die Beklagte für das schlechte Verhältnis verantwortlich war, da sie ihre Kritik an der Kindererziehung auch an Dritte herangetragen hatte, darunter an Nachbarn und die Kinder‑ und Jugendhilfe. Letztere sah nach Überprüfung der Situation keine Veranlassung für sozialarbeiterische Maßnahmen.
[9] Im Juli 2018 fasste die Beklagte den Entschluss, aus der Ehewohnung auszuziehen, und ersuchte den Kläger um Zustimmung. Dieser verweigerte die Zustimmung und verwies an seine Anwältin. Die Beklagte packte auch Teile des Hausrats und der ihr gehörenden Sachen und verbrachte sie nach Kärnten. Dies war für den Kläger der Anlass, die Scheidung anzustreben.
[10] Ausschlaggebend für den endgültigen Wegfall des Ehewillens der Beklagten waren die immer tiefer gehenden Unstimmigkeiten mit der gemeinsamen Tochter und der Umstand, dass sich der Kläger klar auf deren Seite stellte und nicht bereit war, sich von dieser abzugrenzen.
[11] Der Kläger bringt vor, dass die Streitteile seit längerem um das Weiterbestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft „gekämpft“ hätten. Im Februar 2018 sei die Beklagte ohne Begründung aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen. Im Juli 2018 habe sie den Kläger um Zustimmung zum Auszug aus der ehelichen Wohnung ersucht, was er verweigert habe. Trotzdem sei die Beklagte „offenkundig dabei“, die häusliche Gemeinschaft aufzulösen, da sie bereits Kisten packe. Die Beklagte verhalte sich lieb- und interesselos. Sie verreise mehrmals jährlich für einige Tage, ohne ihre Reisepläne mit dem Kläger abzustimmen. Sie vernachlässige die Zimmervermietung und den Haushalt. Sie erhebe wiederkehrend den unrichtigen Vorwurf, dass er an Trunksucht leide. Sie behaupte, dass die gemeinsame Tochter sowie deren Lebensgefährte übermäßig Alkohol konsumierten und dadurch das Kindeswohl des Enkels gefährdeten. Auch dieser Vorwurf sei nicht richtig.
[12] Die Beklagte bringt vor, dass der Kläger an Trunksucht leide, weswegen sie bereits 2015 die Scheidung angestrebt habe. Sie habe ihn wiederholt gebeten, eine Therapie zu absolvieren, und erfolglos versucht, ihn durch anderweitige Beschäftigungen vom Alkohol wegzubringen. Aufgrund einer Magenblutung und schlechter Leberwerte sei der Kläger in ein Krankenhaus eingeliefert worden, worauf er seinen Alkoholkonsum eingestellt habe. Daher habe sie von der Scheidung abgesehen. Seit August 2018 trinke er wieder übermäßig Alkohol und zeige keine Einsicht. Er verstecke Schnaps- und Cognacflaschen an verschiedenen Orten im Haus. Er verbringe keine Zeit mit der Beklagten, obwohl sie ihn darum gebeten habe. Im betrunkenen Zustand sei der Kläger aggressiv, habe die Beklagte ständig kritisiert und über alles und jeden geschimpft. Er habe kein Interesse an einer partnerschaftlichen Beziehung gezeigt und sei für ein gemeinsames Eheleben nicht mehr zugänglich gewesen. Es habe keinen Austausch von Zärtlichkeiten mehr gegeben. Sie sei im Februar 2018 aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, da sie aufgrund der andauernden Streitigkeiten an Ein- und Durchschlafschwierigkeiten gelitten habe. Sie habe dem Kläger jedes Mal mitgeteilt, wenn sie ihre Tochter in Kärnten besuchen wollte. Sie habe den Kläger nicht um Erlaubnis gefragt, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen; vielmehr habe sie vorgeschlagen, einen Zweitwohnsitz in Kärnten zu begründen, um von der gemeinsamen Tochter Abstand zu gewinnen. Die Vermietung und den Haushalt habe sie nicht vernachlässigt.
[13] Das Erstgericht schied die Ehe aus dem gleichteiligen Verschulden der Parteien. Es traf folgende weitere Feststellungen, die in den Berufungen des Klägers ([i] und [ii]) bzw der Beklagten ([iii] und [iv]) bekämpft wurden:
[i] Der Kläger habe den Alkoholkonsum im Jahr 2018 wieder aufgenommen, als er den Entschluss gefasst habe, die Scheidung anzustreben (Anmerkung: das war nach den unstrittigen Feststellungen jener Zeitpunkt, als die Beklagte ihn um Zustimmung zum Auszug aus der Ehewohnung ersuchte). Ab diesem Zeitpunkt habe er wieder regelmäßig Alkohol in nicht näher feststellbarem Ausmaß, unter anderem mit Arbeitskollegen oder seiner Tochter und deren Lebensgefährten getrunken. Darüber habe er auch alleine härteren Alkohol, darunter Cognac oder Schnaps konsumiert, wobei er die Spirituosenflaschen an verschiedenen Stellen im Haus wie auch im Stall versteckt habe. Zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt vor dem 21. 1. 2019 habe er wieder aufgehört, Alkohol in größeren Mengen zu trinken.
[ii] Nachdem der Kläger im August 2018 wieder mit dem Alkoholkonsum begonnen habe, habe sich der Scheidungswille der Beklagten verstärkt.
[iii] Anlässlich des Geburtstags des Klägers im August 2016 seien die Streitteile in eine Therme gefahren. Der Kläger habe versucht, sich der Beklagten körperlich anzunähern, was diese zurückgewiesen habe. Bei einer gemeinsamen Wanderung sei es sodann erneut zu einem Streit gekommen, da die Beklagte der Ansicht gewesen sei, der Kläger solle einen Psychiater aufsuchen und sich von diesem erklären lassen, was der Alkohol mit ihm anrichte, was der Kläger jedoch nicht eingesehen habe, da er zu diesem Zeitpunkt bereits eineinhalb Jahre trocken gewesen sei.
[iv] Die Beklagte habe sich gewünscht, dass sich der Kläger bei verschiedenen Auseinandersetzungen mit der Tochter auch einmal auf ihre Seite gestellt hätte. Sie habe ihn ersucht, sich von der Tochter klarer abzugrenzen, was er jedoch abgelehnt habe.
[14] Rechtlich folgerte das Erstgericht, dass die Streitteile seit Juli 2018 endgültig keinen Ehewillen gehabt hätten. Beide Seiten treffe ein Verschulden, wobei keines überwiege. Beiden sei vorzuwerfen, dass sie sich im Laufe der Ehe immer weniger bemüht hätten, Zeit miteinander zu verbringen. Der Kläger habe die Tochter bedingungslos unterstützt, die Beklagte habe ihn vor die Wahl gestellt, sich zwischen ihr und der Tochter zu entscheiden. Dem Kläger sei der festgestellte Alkoholmissbrauch vorzuwerfen, wobei der neuerliche Alkoholkonsum im Jahre 2018 in Zusammenschau mit dem früheren, nach Beendigung von der Beklagten verziehenen Trinkverhalten, eine für die Zerrüttung der Ehe kausale Eheverfehlung gewesen sei.
[15] Gegen diese Entscheidung richteten sich Berufungen beider Parteien. Das Berufungsgericht gab nur jener des Klägers Folge und schied die Ehe aus dem alleinigen Verschulden der Beklagten. Die in diesem Fall erforderliche Abweisung der Widerklage unterblieb. Die ordentliche Revision ließ es nicht zu.
[16] Das Berufungsgericht ging aufgrund der eingangs wiedergegebenen Feststellungen davon aus, dass die Ehe mit Juli 2018 – und zwar mit dem Ersuchen der Frau um Zustimmung zum Ausziehen – objektiv und subjektiv zerrüttet gewesen sei. Daher seien die Feststellungen zum erst danach erfolgten „Rückfall“ des Klägers und zu dessen Wirkungen ([i] und [ii]) irrelevant. Seine diesbezügliche Beweisrüge müsse daher nicht erledigt werden. Gleiches gelte für die Beweisrügen der Beklagten zu den Feststellungen (iii) und (iv): Das Recht auf Scheidung erlösche, wenn der Ehegatte nicht binnen sechs Monaten die Klage erhebe. Daher sei nicht relevant, was im August 2016 geschehen sei (iii). Die Feststellung zu den Problemen mit der Tochter (iv) sei überschießend, da keine Partei dazu ein Vorbringen erstattet habe.
[17] Das Erstgericht habe objektive Zerrüttung richtig mit Juli 2018 angenommen. Aus den Feststellungen ergebe sich, dass beide Streitteile ab dem Jahr 2016 eigene Wege gegangen seien. Der Alkoholkonsum des Klägers ab August 2018 sei nicht mehr kausal für die Zerrüttung gewesen. Damit gebe es auf Seiten des Klägers keine schwere Eheverfehlung. Dass die Streitteile eigene Wege gegangen seien, nicht mehr gemeinsam Urlaub gemacht und auch die Geschlechtsgemeinschaft aufgegeben hätten, sei nicht „einseitig“ vom Kläger ausgegangen. Es könne ihm daher „keine schwere Eheverfehlung“ (Hervorhebung im Berufungsurteil) angelastet werden. Eheverfehlungen, die sich mehr als sechs Monate vor dem Einbringen der Widerklage ereignet hätten, „insbesondere der Alkoholmissbrauch bis zum Jahr 2015“, könnten nach § 57 Abs 1 EheG nicht mehr herangezogen werden.
[18] Mit ihrer außerordentlichen Revision strebt die Beklagte die Scheidung aus dem Verschulden des Klägers an. Aus der Begründung des Berufungsgerichts ergebe sich nicht, weshalb sie ein überwiegendes Verschulden treffen sollte. Insbesondere habe das Erstgericht nicht festgestellt, dass sie die Ehewohnung verlassen habe; vielmehr habe sie nur ihren Mann um Zustimmung dazu ersucht. Wenn sein Verhalten ab 2015 den Tatbestand der schweren Eheverfehlung nicht erfülle, müsse Gleiches für ihr Verhalten gelten; konsequenterweise hätte das Berufungsgericht dann aber Klage und Widerklage abweisen müssen. Zudem ergebe sich aus den Feststellungen des Erstgerichts, dass sie den erneuten Alkoholkonsum des Klägers als ehestörend empfunden habe.
[19] Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben. Eine erhebliche Rechtsfrage liege wegen der Einzelfallbezogenheit nicht vor; in der Sache habe das Berufungsgericht richtig entschieden.
Rechtliche Beurteilung
[20] Die außerordentliche Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, weil das Berufungsgericht aufgrund eines Verkennens der Rechtslage seinen Beurteilungsspielraum in Bezug auf das Verschulden an der Zerrüttung der Ehe überschritten hat; sie ist teilweise berechtigt.
[21] 1. Die Ansicht des Berufungsgerichts, dass das Verhalten des Beklagten bis zum Jahr 2015 nicht in die Beurteilung des Verschuldens einzubeziehen sei, trifft nicht zu:
[22] 1.1. Zwar müssen Eheverfehlungen grundsätzlich innerhalb der Frist des § 57 Abs 1 EheG mit Klage geltend gemacht werden. Nach § 59 Abs 2 EheG können jedoch Eheverfehlungen, auf die eine Scheidungsklage nicht mehr gegründet werden kann, auch noch danach zur Unterstützung einer auf andere Eheverfehlungen gestützten Scheidungsklage herangezogen werden. Diese neuen Eheverfehlungen müssen als solche nicht für eine Scheidung ausreichen; sie dürfen nur nicht vollkommen belanglos sein. Es genügt, dass sie zusammen mit den früheren Eheverfehlungen so schwer sind, dass der Tatbestand des § 49 EheG erfüllt ist (RS0056907; Koch in KBB 6 § 59 EheG Rz 2; Nademleinsky/Weitzenböck in Schwimann/Kodek , ABGB 5 § 59 EheG Rz 4). Diese Regelung ist analog auf verziehene Eheverfehlungen (§ 56 EheG) anzuwenden (RS0057143).
[23] 1.2. Im vorliegenden Fall steht fest, dass es zwischen den Streitteilen „immer wieder“ – also offenbar auch in den letzten sechs Monaten vor Einbringen der Widerklage – zu Streitigkeiten kam, bei denen sich der Kläger mitunter aufbrausend verhielt. Weiters ergibt sich aus den Feststellungen, dass beide Ehegatten (auch) im genannten Zeitraum kein Interesse mehr aneinander hatten und eigene Wege gingen. Darin liegen zumindest nicht völlig belanglose Eheverfehlungen beider Seiten. Damit kann aber auch der Alkoholmissbrauch des Klägers bis 2015 in die Verschuldensabwägung einbezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn man den Entschluss zur Fortsetzung der Ehe als Verzeihung iSv § 56 EheG wertete.
[24] 2. Jedenfalls unter dieser Voraussetzung ist aber nach jenem Sachverhalt, den das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, gleichteiliges Verschulden anzunehmen.
[25] 2.1. Ein überwiegendes Verschulden an der Zerrüttung der Ehe ist nach ständiger Rechtsprechung nur dann anzunehmen, wenn der graduelle Unterschied der beidseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich hervortritt (RS0057821), das Verschulden eines Ehegatten also erheblich schwerer wiegt als das des anderen (RS0057858). Das mindere Verschulden müsste fast völlig in den Hintergrund treten, was nicht allein nach der Schwere der Verfehlungen, sondern auch danach zu beurteilen ist, in welchem Umfang diese Verfehlungen zur Zerrüttung der Ehe beigetragen haben (RS0057858 [T17]).
[26] 2.2. Ein derart überwiegendes Verschulden liegt hier nicht vor:
[27] (a) Erste Ursache für die Zerrüttung der Ehe war nach den Feststellungen der – auch vom Berufungsgericht so bezeichnete – Alkoholmissbrauch des Klägers, der jedenfalls eine schwere Eheverfehlung bildete (zuletzt 1 Ob 69/20h mwN). Es besteht kein Zweifel, dass dieses Verhalten den Ehewillen der Beklagten auch über das Jahr 2015 hinaus beeinträchtigt hat. Allerdings fällt zugunsten des Klägers ins Gewicht, dass er 2015 vom Alkoholkonsum Abstand genommen hat. Allein aus seinem Verhalten bis 2015 kann daher kein eindeutig überwiegendes Verschulden abgeleitet werden.
[28] (b) In weiterer Folge kühlte das Verhältnis der Ehegatten trotz Fortsetzung der Ehe (weiter) ab. Sie gingen eigene Wege, ohne dass dafür eine Seite überwiegend verantwortlich gewesen wäre. Dies gilt auch für die Streitigkeiten in Bezug auf die Tochter. Hier steht insbesondere nicht fest, dass die Beklagte die Kinder- und Jugendhilfe wider besseren Wissens über eine ihrer Ansicht nach vorliegende Kindeswohlgefährdung informiert hätte. Auch ihr Auszug aus dem Schlafzimmer war nicht Ursache, sondern Folge der aufgrund des Verhaltens beider Gatten verschlechterten Beziehung. Das gilt letztlich auch für ihren Entschluss, aus der Ehewohnung auszuziehen. Zwar führte dieser Entschluss, den die Beklagte auch durch Verbringen des Hausrats umzusetzen begann, nach den Feststellungen zur endgültigen Zerrüttung der Ehe. Er hat daher bei der Verschuldensabwägung durchaus Gewicht. Bei einer Gesamtbetrachtung war er jedoch nur der Endpunkt einer Entwicklung, die mit dem Alkoholmissbrauch des Mannes begonnen hatte. Auch daraus kann daher kein überwiegendes Verschulden der Beklagten abgeleitet werden.
[29] (c) Zusammengefasst ist daher festzuhalten, dass der Kläger durch den Alkoholmissbrauch die Entwicklung zur Zerrüttung der Ehe ausgelöst und die Beklagte diese Zerrüttung durch den Entschluss, aus der Ehewohnung auszuziehen, endgültig herbeigeführt hat. Dass die Ehe trotz des Versuches der Fortsetzung gescheitert ist, fällt allerdings im Kern beiden Seiten zur Last; weder der Alkoholmissbrauch noch der Entschluss zum Auszug können aufgrund der Umstände des Einzelfalls ein deutlich überwiegendes Verschulden einer Seite begründen.
[30] 3. Zwar hat das Berufungsgericht die Beweisrügen zu weiteren Feststellungen aufgrund teilweise nicht zutreffender rechtlicher Erwägungen nicht erledigt. Die Sache ist trotzdem spruchreif:
[31] 3.1. Zum neuerlichen Alkoholmissbrauch des Klägers (nicht übernommene Feststellungen [i] und [ii]):
[32] (a) Eheverfehlungen, die nach der Zerrüttung der Ehe gesetzt werden, haben bei der Verschuldensabwägung kein entscheidendes Gewicht (RS0057338), da der ursächliche Zusammenhang zwischen der neuen Eheverfehlung und der Zerrüttung fehlt (RS0056921; RS0056939). Sie können nur dann noch von Bedeutung sein, wenn die Ehe noch nicht unheilbar zerrüttet war und der verletzte Ehegatte bei verständiger Würdigung die weitere Eheverfehlung noch als Zerrüttung empfinden durfte (RS0056887; RS0057338 [T7]).
[33] (b) Selbst wenn im vorliegenden Fall die Ehe noch nicht unheilbar zerrüttet gewesen wäre und die Feststellungen des Erstgerichts zum Rückfall des Klägers zuträfen, fielen sie allerdings nicht entscheidend ins Gewicht. Denn ein solcher Rückfall wäre als Reaktion auf den Entschluss der Beklagten zu werten, die Ehewohnung zu verlassen. Unter diesen Umständen könnte der Rückfall nicht dazu führen, dass das Verschulden des Klägers eindeutig überwöge; vielmehr wäre er – ebenso wie der Auszug der Beklagten – nur eine weitere Folge des beiden Seiten zur Last fallenden Scheiterns der Ehe.
[34] 3.2. Zum Vorfall beim Urlaub im Jahr 2016 (nicht übernommene Feststellung [iii]):
[35] Auch dieser Vorfall wäre nach § 59 Abs 2 EheG in die Verschuldensabwägung einzubeziehen. Trifft die von der Beklagten bekämpfte Feststellung zu, hat sie dem Kläger zu Unrecht Alkoholmissbrauch vorgeworfen. Darin läge zweifellos eine (weitere) Eheverfehlung. Allerdings hat das Erstgericht nicht festgestellt, dass es solche Vorwürfe immer wieder gegeben hätte. Ein einmaliger unbegründeter Vorwurf reichte aber angesichts des ansonsten nicht strittigen Sachverhalts von vornherein nicht aus, ein überwiegendes Verschulden der Beklagten zu begründen.
[36] 3.3. Zur angeblich mangelnden Unterstützung der Beklagten im Streit mit der Tochter (nicht übernommene Feststellung [iv]):
[37] (a) Das Gericht darf die bei seiner Beweisaufnahme hervorkommenden Umstände nur insoweit berücksichtigen, als sie im Parteivorbringen Deckung finden. Darüber hinausgehende „überschießende“ Feststellungen dürfen nur dann berücksichtigt werden, wenn sie sich im Rahmen des geltend gemachten Klagsgrundes oder der erhobenen Einwendungen halten (2 Ob 173/19h; RS0037972; RS0037964 [T1, T2]; RS0036933 [T6]).
[38] (b) Hier hat sich die Beklagte in erster Instanz nicht darauf gestützt, dass auch das Verhalten des Klägers im Streit mit der Tochter zur Zerrüttung der Ehe geführt habe; auch der Kläger hat dazu nichts vorgebracht. Das Berufungsgericht hat daher zutreffend angenommen, dass die diesbezügliche Feststellung als Grundlage für die Beurteilung des Scheidungsverschuldens ausscheidet. Die Nichterledigung der Beweisrüge begründet damit keinen Mangel des Berufungsverfahrens.
[39] 4. Über die Revision kann daher aufgrund des in dritter Instanz unstrittigen Sachverhalts entschieden werden. Wie oben (Punkt 2) ausgeführt, ist gleichteiliges Verschulden anzunehmen. Die Revision der Beklagten hat daher teilweise Erfolg, das Urteil des Erstgerichts ist wiederherzustellen.
[40] 5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 43 Abs 1 Satz 1 iVm § 50 ZPO.
[41] Der Ausspruch gleichteiligen Verschuldens führt zur Kostenaufhebung im Rechtsmittelverfahren. Im Berufungsverfahren ist auf beiden Seiten Pauschalgebühr in gleicher Höhe angefallen, sodass keine Kostenersatzpflicht nach § 43 Abs 1 Satz 2 ZPO besteht.
[42] Im Revisionsverfahren war die Beklagte zufolge Verfahrenshilfe von der Zahlung der Pauschalgebühr befreit. Ein Ausspruch nach § 70 Satz 2 ZPO ist dennoch nicht zu treffen, weil der Kläger Kostenersatz beansprucht hat (1 Ob 6/18s; 6 Ob 131/18k). Über die allfällige Einhebung der Pauschalgebühr ist nach § 20 GGG im Verwaltungsweg zu entscheiden.
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