European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00138.24V.0910.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.072,40 EUR (darin enthalten 345,40 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Die Klägerin begehrt von der beklagten U‑Bahnhalterin Schadenersatz und stellt ein Feststellungsbegehren, weil ein anderer Fahrgast aufgrund einer – von der grundlosen Betätigung des Zugnotstopps in einer U‑Bahnstation ausgelösten – plötzlichen, gleichmäßigen, nur zum Schluss hin stärker werdenden, automatischen „Gefahrenbremsung“ zwischen zwei Stationen auf ihren Unterschenkel stürzte. Ob sich der Fahrgast nicht oder nicht ausreichend festgehalten hatte, konnte nicht festgestellt werden. Zum Zeitpunkt der Einleitung des Bremsvorgangs betrug die Fahrtgeschwindigkeit 52 km/h. Die Bremsung erfolgte in einer Wegstrecke von 39,28 m mit einer Verzögerung von 2,66 m/s2. Betriebsbremsungen erfolgen üblicherweise mit einer Verzögerung von nicht über 1,2 m/s2.
[2] Die Beklagte wendet – soweit für das Revisionsverfahren relevant – ein, es liege ein unabwendbares Ereignis vor. Die Bremsung begründe noch keine außergewöhnliche Betriebsgefahr. Die Verletzung sei auch nicht unmittelbar auf die Bremsung zurückzuführen.
[3] Mit Teilzwischenurteil erkannte das Erstgericht das Zahlungsbegehren dem Grund nach als zu Recht bestehend.
[4] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Rechtlich ging es davon aus, dass die plötzliche starke Gefahrenbremsung aufgrund des – wenngleich missbräuchlich erfolgten – Ziehens der Notbremse in der Station durch einen Fahrgast eine außergewöhnliche Betriebsgefahr begründe. Die Revision ließ es zu, weil noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege, wann bei automatisch eingeleiteten Bremsungen von U-Bahnen von einer außerordentlichen Betriebsgefahr auszugehen sei.
[5] Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten mit dem auf Abweisung der Klage gerichteten Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[6] Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[7] Die Revision ist – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) Ausspruch des Berufungsgerichts – mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob Unfallursache eine außergewöhnliche Betriebsgefahr war.
[8] 1. Die behaupteten Verfahrensmängel und Aktenwidrigkeiten wurden vom Obersten Gerichtshof geprüft; sie liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).
2. Außergewöhnliche Betriebsgefahr
[9] 2.1 Eine außergewöhnliche Betriebsgefahr im Sinne von § 9 Abs 2 EKHG ist immer dann anzunehmen wenn die Gefährlichkeit, die regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb eines Fahrzeugs verbunden ist, dadurch vergrößert wird, dass besondere Gefahrenmomente hinzutreten, die nach dem normalen Verlauf der Dinge nicht schon deshalb vorliegen, weil ein Fahrzeug im Betrieb ist (RS0058461 [T4]; RS0058467; RS0058586). Der Unterschied zwischen gewöhnlicher und außergewöhnlicher Betriebsgefahr ist funktionell darin zu erblicken, dass zur gewöhnlichen Betriebsgefahr besondere Gefahrenmomente hinzutreten, die nach dem normalen Ablauf der Dinge nicht schon dadurch gegeben waren, dass ein Fahrzeug überhaupt in Betrieb gesetzt wurde (RS0058467).
[10] 2.2 Die Frage, ob der Unfall unmittelbar durch eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ausgelöst wurde, kann immer nur an Hand der Umstände des einzelnen Falles gelöst werden (RS0058444) und wirft daher abgesehen grober Fehlbeurteilung keine Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO auf. Auch der Umstand, dass „Gefahrenbremsungen“ aufgrund der (widerrechtlichen) Betätigung des Zugnotstopps in Stationen wiederholt vorkommen, begründet für sich noch keine Erheblichkeit im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO (vgl RS0042816).
[11] 2.3 Die Gesetzesmaterialien (470 BlgNR 8. GP 11) zu § 9 EKHG führen im Zusammenhang mit der „Schnellbremsung“ eines Eisenbahnzugs, die durch einen Selbstmörder oder ein Tier im Gleisbereich veranlasst wurde und bei der die Fahrgäste und deren Handgepäck durcheinander gerüttelt werden, sodass sie Schaden leiden, aus, dass dabei die vorerst nur in der Geschwindigkeit bestehende allgemeine Betriebsgefahr zu einer außergewöhnlichen gemacht werde, die in der brüsken Anhaltung des Zugs infolge der Schnellbremsung bestehe. Diese sei unmittelbar ursächlich für den Schaden der Reisenden.
[12] Der Oberste Gerichtshof hat das Vorliegen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr daher bereits bejaht, wenn ein Fahrgast einer Straßenbahn, der sich wohl an der Haltestange festgehalten hat, durch eine Schnellbremsung (1,6 m/s²) der Straßenbahn losgerissen wird und zu Boden stürzt (2 Ob 50/82 = ZVR 1983/318).
[13] Zu 2 Ob 42/00s wurde die Annahme des Berufungsgerichts, die – durch einen schleudernden PKW veranlasste – stärkere Betriebsbremsung einer Straßenbahn (0,94 m/s2) begründe eine außergewöhnliche Betriebsgefahr, als nicht korrekturbedürftig erachtet.
[14] 2.4 Wenn das Berufungsgericht ausgehend von diesen Grundsätzen zum Ergebnis gelangt ist, dass die durch ein grundloses Betätigen des Zugnotstopps in einer U‑Bahnstation ausgelöste plötzliche „Gefahrenbremsung“ zwischen zwei U-Bahnstationen, die – nach den wenn auch dislozierten, aber insoweit unbekämpften Feststellungen des Erstgerichts – auch zum Sturz mehrerer Personen führte, eine außergewöhnliche Betriebsgefahr begründet, ist dies nicht korrekturbedürftig.
[15] 2.5 Soweit die Revision argumentiert, es handle sich auch bei einer „Gefahrenbremsung“ lediglich um ein Gefahrenmomentum, das regelmäßig vorkomme und – im Hinblick auf Mindestvorgaben der StrabVO für Gefahrenbremsungen – notwendig mit dem U-Bahnbetrieb verbunden sei, lässt sie jede Auseinandersetzung mit der oben genannten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vermissen, die selbst bei „schwächeren“ Bremsvorgängen von Schienenfahrzeugen schon vom Vorliegen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr ausgegangen ist. Die Häufigkeit einer Gefahrenbremsung oder deren zur Einhaltung der Vorgaben der StrabVO notwendigen Stärke geben für sich allein keine Auskunft darüber, in welchem Ausmaß dadurch die nach dem normalen Verlauf der Dinge (ohne Gefahrenbremsung) mit dem U-Bahnbetrieb verbundene Gefahr erhöht wird. Entscheidend ist die Vergrößerung der Gefahrensituation aufgrund besonderer, nicht schon im Betrieb selbst gegebener Umstände (RS0058586). Ob die Bremsung automatisch oder aufgrund der Betätigung durch den U-Bahnlenker erfolgt, ist nach der ohnehin vorliegenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht entscheidend (vgl 2 Ob 134/23d Rz 18).
[16] Weshalb es für die Annahme außergewöhnlicher Betriebsgefahr erforderlich sein soll, dass die Bremsung eine Intensität erreicht, die auch bei ordnungsgemäßem Festhalten (jedenfalls) zum Sturz der Fahrgäste führt, ist nicht nachvollziehbar. Dass keine derart starke Bremsung vorlag, ist dem Urteil des Erstgerichts ohnehin zu entnehmen, weil dieses nur von einem Sturz mehrerer, aber nicht aller (stehenden) Fahrgäste ausging. Dies ändert aber nichts an der Vergrößerung der mit dem „normalen“ U-Bahnbetrieb verbundenen Gefahrensituation durch die aufgrund des Zugnotstopps eingeleitete „Gefahrenbremsung“ zwischen zwei Stationen.
[17] 2.6 Die von der Revision ins Treffen geführte Diskrepanz zur Entscheidung 2 Ob 134/23d liegt nicht vor, weil diese einen Auffahrunfall eines Radfahrers auf einen verkehrsbedingt stark bremsenden PKW mit wesentlich geringerer Bremsausgangsgeschwindigkeit betraf. Auch wenn selbst „spurhaltende Vollbremsungen“ noch dem „normalen“ Betrieb eines Kraftfahrzeugs zugerechnet werden (RS0128516), kann dies nicht ohne weiteres auf U-Bahnzüge übertragen werden, weil deren Bremsungen – abgesehen von Entgleisungen – immer „spurhaltend“ sind und die Gefahrenlage im Hinblick auf den Transport von teils stehenden und nicht durch Gurte gesicherten, sitzenden Fahrgästen nicht vergleichbar ist.
[18] 2.7 Auch die Haftung wegen außergewöhnlicher Betriebsgefahr bezieht sich nur auf Schäden, die durch diese kausal herbeigeführt worden sind (2 Ob 181/11y Pkt 6 mwN; RS0128158). Die Verletzung der Klägerin war kausal auf die Gefahrenbremsung, die durch die Betätigung des Zugnotstopps durch einen unbekannten Fahrgast aktiviert wurde, und die dadurch ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen. Auch andere Fahrgäste kommen als nicht beim Betrieb tätige Dritte im Sinn des § 9 Abs 2 EKHG in Betracht (2 Ob 18/20s Pkt 2. mwN). „Der unmittelbare Zusammenhang des Unfalls der Klägerin mit der Gefahrenbremsung wird (entgegen der Ansicht der Beklagten) auch nicht dadurch aufgehoben, dass sie nicht selbst, sondern ein anderer Fahrgast (jedenfalls auch) aufgrund der Gefahrenbremsung auf sie stürzte, hat sich doch dadurch gerade (auch) die erhöhte Gefahrensituation verwirklicht.“
[19] 3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Im Zwischenstreit über die mangels erheblicher Rechtsfrage verneinte Zulässigkeit eines Rechtsmittels gegen ein (Teil‑)Zwischenurteil findet ein Kostenvorbehalt nach § 52 ZPO nicht statt (RS0123222 [T10]). Die Klägerin hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
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