OGH 1Ob76/24v

OGH1Ob76/24v24.7.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J*, vertreten durch Dr. Sebastian Lenz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 62.646,39 EUR sowie Feststellung (Streitwert 3.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. Februar 2024, GZ 14 R 163/23b-45, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 29. September 2023, GZ 68 Cg 10/22y‑38, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00076.24V.0724.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.265,50 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger ist Justizwachebeamter. Er wurde durch einen Untersuchungshäftling („Täter“) im Dienst verletzt.

[2] Der Täter hatte am 22. 12. 2018 die Polizei gerufen, weil er angeblich von seiner Mutter geschlagen worden sei. Tatsächlich hatte er diese beschimpft und bespuckt und auf sie eingeschlagen. Er gab gegenüber der Polizei an, Angst vor seiner Mutter zu haben, weil sie täglich Yoga mache und ihre kosmische Energie auflade. Die Mutter gab an, dass ihr Sohn in psychiatrischer Behandlung sei. Im Polizeibericht wurde angemerkt, dass der Täter über „Aliens und Präsident Trump“ gesprochen habe und seine Medikamente nicht nehme.

[3] Am 28. 12. 2018 schrie dieser an einer Tankstelle herum und bewarf die Angestellte mit Schokoriegeln. Um einer Überprüfung seiner Fahrtauglichkeit durch die Polizei zu entgehen, flüchtete der Täter mit seinem Fahrzeug und fuhr dabei einen Polizisten an. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd fuhr er bevor er gestoppt werden konnte im Ortsgebiet mit teilweise 90 km/h und auf der Autobahn mit etwa 180 km/h. Er missachtete mehrere rote Ampeln und Straßensperren. Bei seiner Festnahme verwies er auf seinen psychischen Ausnahmezustand „wegen Hungers“, bezeichnete seine Flucht als „provoziertes Hatzerl von der Exekutive“, warf dieser paranoides Verhalten vor und gab an, „dass sich mein Schulfreund und Triathlonkollege Herr BM Kickl auf den Kopf greifen wird“.

[4] Am 30. 12. 2018 wurde über den Täter die Untersuchungshaft wegen Tatbegehungsgefahr verhängt.

[5] In der Justizanstalt wurde er zunächst auf der Krankenstation aufgenommen, wo er einen anderen Häftling mit Gegenständen bewarf. Aufgrund seines psychotischen Verhaltens wurde er auf die Überwachungsstation verlegt. Seine psychiatrische Untersuchung ergab eine bipolare affektive Störung mit manischer Episode und psychotischen Symptomen sowie Größenideen, jedoch keine Selbst- und Fremdgefährdung. Da sich der Täter mit einer Medikation einverstanden erklärte und die Medikamente einzunehmen begann, wurde er auf die Krankenstation verlegt, wo es aber zu weiteren Problemen kam, weshalb er neuerlich auf die Überwachungsstation verlegt wurde. Nach einem weiteren Wechsel in die Krankenstation wurde er auf die Normalstation verlegt, wo er einen Mithäftling bedrohte. Zusammengefasst ließ er sich schwer führen und zeigte ein auffälliges, distanzloses, „läppisches“ und aggressives Verhalten.

[6] Am 10. 1. 2019 sollte der Täter (auf eigenen Wunsch) wieder in die Krankenabteilung verlegt werden. Als er sich dabei in Richtung seines Spindes stürzte, wollte ihn der Kläger gemeinsam mit einem weiteren Justizwachebeamten fixieren. Dagegen wehrte sich der Täter und verletzte den Kläger.

[7] Aufgrund eines Gutachtens, wonach ihm bei der „Verfolgungsjagd“ die Dispositionsfähigkeit gefehlt habe, wurde der Täter ab 15. 3. 2019 vorläufig in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angehalten. Mit Urteil vom 17. 7. 2019 wurde er wegen der dabei begangenen Delikte gemäß § 21 Abs 1 StGB bedingt in eine solche Anstalt eingewiesen. Hinsichtlich der Taten vom 10. 1. 2019 (Verletzung des Klägers) wurde er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil seine Diskretionsfähigkeit zu diesem Zeitpunkt gegeben und seine Dispositionsfähigkeit nur eingeschränkt und nicht aufgehoben gewesen sei.

[8] Der Kläger begehrt vom beklagten Rechtsträger Schadenersatz im Wege der Amtshaftung für die ihm vom Täter zugefügten Verletzungen.

[9] Dieser hätte wegen seiner psychischen Erkrankung nicht in Untersuchungshaft genommen werden dürfen, sondern gemäß § 439 Abs 4 StPO in der damals geltenden Fassung vorläufig in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angehalten oder in eine öffentliche Krankenanstalt für Geisteskrankheiten eingewiesen werden müssen. Den Organen der Beklagten hätte die für Dritte gefährliche psychische Erkrankung des Täters bei Verhängung der Untersuchungshaft, spätestens aber während der Haft auffallen müssen. Er hätte daher während dieser auch nach § 71 (iVm § 68) StVG in eine andere Anstalt überstellt werden müssen. Die Beklagte habe es auch zu verantworten, dass der Täter entgegen § 185 Abs 1 StPO zusammen mit einem Strafhäftling und entgegen § 129 StVG wegen seiner psychischen Besonderheiten nicht gesondert untergebracht worden sei. Wären die genannten Bestimmungen eingehalten worden, wäre ein Einschreiten des Klägers nicht erforderlich gewesen und seine Schädigung unterblieben.

[10] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[11] Die Organe der Beklagten seien bei der Verhängung der Untersuchungshaft vertretbar davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine vorläufige Anhaltung oder Einweisung des Täters gemäß § 429 Abs 4 StPO in der damals geltenden Fassung nicht vorgelegen wären. Es sei daher vertretbar die Untersuchungshaft über ihn verhängt worden. Der Kläger könne sich auch nicht darauf stützen, dass der Täter nicht gemäß § 71 Abs 1 (iVm § 68) StVG aus medizinischen Gründen in eine andere Anstalt überstellt worden sei, weil diese Bestimmungen keinen Schutz von Strafvollzugsbeamten vor Verletzungen durch kranke Gefangene bezweckten. Auch die in § 185 Abs 1 StPO angeordnete getrennte Unterbringung von Untersuchungs- und Strafhäftlingen diene nicht dem Schutz von Vollzugsbeamten; ebenso wenig § 129 StVG über die getrennte Verwahrung von Häftlingen, die sich wegen psychischer Besonderheiten nicht für den allgemeinen Strafvollzug eigneten.

[12] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu.

[13] Die Haftung der Beklagten scheitere schon daran, dass der Kläger weder vom Schutzzweck des § 429 Abs 4 StGB (in der hier anzuwendenden Fassung) über die vorläufige Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher oder die Einweisung in eine öffentliche Krankenanstalt für Geisteskrankheiten, noch vom Schutzzweck der Bestimmungen über die getrennte Verwahrung von Untersuchungshäftlingen sowie von Häftlingen mit psychischen Besonderheiten (§ 185 Abs 1 StPO; § 129 StVG), und auch nicht vom Schutzzweck der Bestimmungen über die Untersuchung und Absonderung kranker Gefangener (§§ 68, 71 StVG) erfasst sei. Darauf, ob Organe der Beklagten überhaupt (rechtlich unvertretbar) gegen diese Bestimmungen verstoßen hätten, komme es daher nicht an.

[14] Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zum Schutzzweck dieser Normen keine Rechtsprechung bestehe.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die dagegen erhobene Revision des Klägers ist aus diesem Grund zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.

1. Zum Rechtswidrigkeitszusammenhang im Amtshaftungsrecht:

[16] 1.1. Auch im Amtshaftungsrecht haftet der Rechtsträger für ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten seiner Organe nur dann, wenn die übertretene Norm nach ihrem Schutzzweck gerade auch den eingetretenen Schaden verhindern sollte (RS0031143). Dafür genügt angesichts der in der Regel primär öffentliche Interessen wahrenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften zwar, dass die Verhinderung eines Schadens beim Dritten bloß mitbezweckt ist. Die Norm muss aber gerade (auch) die Verhinderung eines Schadens wie des später eingetretenen intendiert haben (RS0031143 [T5]). Es wird ausschließlich für solche Schäden gehaftet, die sich als Verwirklichung jener Gefahr darstellen, derentwegen der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhalten gefordert oder untersagt (RS0031143 [T14]). Maßgebend ist der durch Auslegung zu ermittelnde Zweck der Norm, der sich aus einer historischen oder einer objektiv-teleologischen Interpretation ergeben kann (1 Ob 193/23y mwN). Unzureichend wäre es demgegenüber, würde sich der Individualschutz nur als bloßer Reflex der Befolgung einer Norm ergeben (RS0031143 [T38]).

[17] 1.2. Nicht alle Bestimmungen der StPO dienen bei dieser Betrachtungsweise dem Schutz des durch eine Straftat Geschädigten (RS0050078). Vielmehr liegt der primäre Zweck der Vorschriften über das Strafverfahren in der Verwirklichung des materiellen Strafrechts im Einzelfall mit der richtigen Bewertung von Tat und Täter zum Zweck der gerechten Bestimmung einer Sanktion oder einer anderen gesetzlich vorgesehenen Konsequenz (1 Ob 91/22x mwN). Ob eine konkrete Bestimmung der StPO dem Schutz des durch eine Straftat Geschädigten dient, ist nach dem Zweck der Amtspflicht wertend zu beurteilen (1 Ob 39/24b mwN). Gleiches gilt für die Vorschriften des StVG bei Schädigung eines Strafvollzugsorgans.

[18] 1.3. Zur Verhängung der Untersuchungshaft geht der Oberste Gerichtshof davon aus, dass die Haftgründe der Wiederholungs- und Ausführungsgefahr auch den Schutz des Bedrohten durch den zu Unrecht nicht in Haft genommenen Täter bezwecken (1 Ob 7/89 = RS0027722). Eine aus diesen Haftgründen verhängte Untersuchungshaft ist ihrem Wesen nach eine Maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren (erheblichen) Straftaten (besonders) gefährlicher Straftäter (vgl 1 Ob 39/24b mwN).

2. Zu § 429 Abs 4 StPO aF:

[19] 2.1. Der Kläger stützt sich darauf, dass der Täter entgegen § 429 Abs 4 StPO (in der damals geltenden Fassung) nicht vorläufig in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (nunmehr: forensisch-therapeutisches Zentrum) angehalten oder in eine öffentliche Krankenanstalt für Geisteskrankheiten (nunmehr: für Psychiatrie oder mit einer Abteilung für Psychiatrie) eingewiesen, sondern in Untersuchungshaft genommen worden sei.

[20] 2.2. § 429 Abs 1, Abs 4 und Abs 5 StPO in der am 30. 12. 2018 (also bei Verhängung der Untersuchungshaft) geltenden Fassung lauteten wie folgt:

(1) Liegen hinreichende Gründe für die Annahme vor, daß die Voraussetzungen des § 21 Abs. 1 StGB gegeben seien, so hat die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher zu stellen. Für diesen Antrag gelten die Bestimmungen über die Anklageschrift (§§ 210 bis 215) dem Sinne nach. Für das Verfahren auf Grund eines solchen Antrages gelten sinngemäß die Bestimmungen über das Strafverfahren, soweit im folgenden nichts anderes bestimmt wird. [...]

(4) Liegt einer der im § 173 Abs. 2 und 6 angeführten Haftgründe vor, kann der Betroffene nicht ohne Gefahr für sich oder andere auf freiem Fuß bleiben oder ist seine ärztliche Beobachtung erforderlich, so ist seine vorläufige Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher oder seine Einweisung in eine öffentliche Krankenanstalt für Geisteskrankheiten anzuordnen. Diese Krankenanstalten sind verpflichtet, den Betroffenen aufzunehmen und für die erforderliche Sicherung seiner Person zu sorgen. § 71 Abs. 2 des Strafvollzugsgesetzes gilt sinngemäß.

(5) Über die Zulässigkeit der vorläufigen Anhaltung ist in sinngemäßer Anwendung der §§ 172 bis 178 zu entscheiden. Auf die vorläufige Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher sind die Bestimmungen über den Vollzug der Anhaltung in einer solchen Anstalt dem Sinne nach anzuwenden.

[21] 2.3. Die vorläufige Anhaltung wurde durch das StrafprozeßanpassungsG 1974 (BGBl 1974/423) eingeführt, welches begleitende verfahrensrechtliche Regelungen für die mit dem StGB neu geschaffenen freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßnahmen einschließlich der Unterbringung geistig abnormer Rechtsbrecher in einer Anstalt nach § 21 StGB enthielt. Durch das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 (BGBl I 2022/223) wurde die vorläufige Anhaltung nach § 429 Abs 4 StPO aF durch die vorläufige Unterbringung nach § 431 StPO ersetzt, wobei diese Bestimmung an § 429 Abs 4 und Abs 5 StPO aF „angelehnt“ ist (ErlRV 1789 BlgNR 27. GP  16).

[22] 2.4. Die Gesetzesmaterialien zur Stammfassung von § 429 StPO (ErlRV 934 BlgNR 13. GP  34) führen unter anderem aus:

„Es liegt auf der Hand, daß der Betroffene in den meisten Fällen nicht wird auf freiem Fuß bleiben können, sei es, daß ein gewöhnlicher Haftgrund anzunehmen ist, sei es, daß sonst eine Selbst- oder Fremdgefährlichkeit besteht, oder sei es auch nur, daß die erforderliche Untersuchung nur im Rahmen einer stationären ärztlichen Beobachtung durchführbar erscheint. Eine Anhaltung in normaler Untersuchungshaft wird in den meisten Fällen nicht möglich oder zumindest nicht zweckmäßig sein. Der Entwurf sieht daher das Institut der vorläufigen Einweisung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (in die 'Untersuchungsabteilung' einer solchen Anstalt) oder - da es in Österreich voraussichtlich nur eine derartige Anstalt geben wird - der Einweisung in eine Krankenanstalt für Geisteskrankheiten vor“.

[23] 2.5. Auf Grundlage der Judikatur des Fachsenats zur Untersuchungshaft (Pkt 1.3) und da die vorläufige Anhaltung gemäß § 429 Abs 4 StPO aF dieser funktionell – für den Bereich des § 21 Abs 1 StGB – entsprach (Murschetz in Fuchs/Ratz, WK-StPO [2019] § 429 Rz 32), ist zunächst davon auszugehen, dass die vorläufige Anhaltung (auch) jene Personen schützen sollte, die mit dem Betroffenen sonst in Freiheit in Kontakt kämen (vgl auch 1 Ob 247/98z zur unterbliebenen Unterbringung nach dem UbG). Mit der vorläufigen Anhaltung sollte (auch) der Gefährlichkeit des Betroffenen begegnet werden, die von seinem Verbleib in Freiheit ausginge (vgl Haslwanter in Höpfel/Ratz, WK² StGB [2024] Vor §§ 21–25 Rz 2 mwN).

[24] 2.6. Auf dieser Grundlage stellt sich die Frage, ob die vorläufige Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher oder die Einweisung in eine öffentliche Krankenanstalt für Geisteskrankheiten nach § 429 Abs 4 StPO aF (nunmehr: vorläufige Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum) auch den Schutz jener Personen bezweckte, die mit dem Betroffenen in einer Justizanstalt nur deshalb in Kontakt kamen, weil über den Betroffenen (zu Unrecht) die Untersuchungshaft verhängt und nicht nach der genannten Bestimmung vorgegangen wurde. Dies ist aus folgenden Gründen zu verneinen:

[25] (a) Als Zweck des § 429 Abs 4 StPO aF (vgl dazu auch § 164 StVG iVm § 429 Abs 5 letzter Satz StPO aF) wurde ganz allgemein die Sicherung der Durchführung des Unterbringungsverfahrens, die Vorbeugung einer Fremd- oder Selbstgefährdung und die ärztliche Beobachtung des Betroffenen, dessen Geisteszustand oft nur im Rahmen eines stationären Aufenthalts beurteilt werden könne, angesehen (Murschetz in Fuchs/Ratz, WK-StPO § 429 Rz 35 mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Außer aus den Haftgründen der § 173 Abs 2 StPO konnte die vorläufige Anhaltung oder Einweisung – wie sich schon aus dem Gesetzeswortlaut ergibt – auch aus den in § 429 Abs 4 StPO aF genannten Gründen angeordnet werden (vgl etwa auch 13 Os 176/03), also wegen Selbstgefährdung, Fremdgefährlichkeit oder der Notwendigkeit einer stationären ärztlichen „Beobachtung“ zur Beurteilung der Voraussetzungen des § 21 Abs 1 StGB. Allerdings wurde das Kriterium der Fremdgefährlichkeit im Schrifttum als praktisch irrelevant angesehen, weil bei Vorliegen von dessen Voraussetzungen im Regelfall auch der Haftgrund des § 173 Abs 2 Z 3 StPO (Tatbegehungs- oder Tatausführungsgefahr) erfüllt war, sodass die vorläufige Anhaltung oder Einweisung bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen schon aus diesem Grund anzuordnen war (Murschetz in Fuchs/Ratz, WK-StPO § 429 Rz 22; Stiebellehner in Birkelbauer/Haumer/Nimmervoll/Wess, StPO [2020] § 429 Rz 64).

[26] (b) Der Schutzzweck der vorläufigen Anhaltung oder Einweisung nach § 429 Abs 4 StPO aF unterschied sich somit von jenem der Untersuchungshaft wegen Tatbegehungs- oder Tatausführungsgefahr in erster Linie dadurch, dass neben einer allfälligen Gefährdung Dritter auch die Selbstgefährdung verhindert und eine allenfalls notwendige ärztliche Beobachtung sichergestellt werden sollte. Im Übrigen hatte die vorläufige Anhaltung oder Einweisung aber grundsätzlich denselben Zweck wie eine wegen Tatbegehungs- oder Tatausführungsgefahr zu verhängende Untersuchungshaft: Es ging um den Schutz Dritter, die ohne solche Maßnahme mit dem in Freiheit befindlichen Betroffenen in Kontakt kommen und dadurch seiner Gefährlichkeit ausgesetzt sein konnten.

[27] (c) Dieser Zweck kam auch im Wortlaut von § 429 Abs 4 StPO aF zum Ausdruck, wonach der Betroffene – außer bei Gefahr einer Selbstgefährdung oder Erforderlichkeit seiner ärztlichen Beobachtung – (nur) dann vorläufig anzuhalten oder einzuweisen war, wenn er nicht ohne Gefahr „für […] andere auf freiem Fuß“ bleiben konnte. Schon daraus lässt sich ableiten, dass auch eine vorläufige Anhaltung oder Einweisung nur jene Personen vor einer Gefährdung durch den Betroffenen schützen sollte, die diesem ohne diese Maßnahme – also in Freiheit – begegnen konnten. Auf den vom Täter während seiner Inhaftierung verletzten Kläger als Justizwachebeamten traf dies aber gerade nicht zu.

[28] (d) Die Möglichkeit der vorläufigen Anhaltung oder Einweisung diente daher nicht dazu, Justizwachebeamte vor der Gefährdung durch eine Person zu schützen, die sich aus anderen Gründen in ihrer Obhut befand. Zwar hätte sich ein solcher Schutz faktisch dadurch ergeben können, dass die Verhängung einer solchen Maßnahme zu erhöhter Vorsicht bei der Bewachung oder zu besonderen Sicherungsmaßnahmen führte. Dabei handelte es sich jedoch nur um eine mittelbare Wirkung (Reflexwirkung) der Maßnahme, die aus den dargestellten Gründen nicht vom Schutzzweck der Norm erfasst gewesen wäre.

[29] 2.7. Das Argument des Klägers, er sei als Dienstnehmer in einem Sonderrechtsverhältnis zur Beklagten gestanden, greift zu kurz. Denn um amtshaftungsrechtlich relevant zu sein, müsste die verletzte Pflicht dieses Sonderrechtsverhältnis begründen oder zumindest in einem Zusammenhang damit stehen. Das traf hier nicht zu, weil die rechtliche Sonderbeziehung zwischen dem Kläger und dem Bund nicht durch die Regelungen über die vorläufige Anhaltung oder Einweisung begründet wurde, sondern durch das Dienstverhältnis als solches. Hier könnte nur die Verletzung von Pflichten aus diesem Dienstverhältnis, die zudem über die Förderung allgemeiner Dienstinteressen hinausgehen müssten, einen Amtshaftungsanspruch begründen (vgl dazu ausführlich 1 Ob 148/23f mwN). Der Schutzbereich anderer Normen wird durch das Bestehen eines Dienstverhältnisses nicht erweitert.

3. Zu §§ 68 und 71 Abs 1 StVG:

[30] 3.1. Diese Bestimmungen lauten wie folgt:

§ 68 (1) Wenn ein Strafgefangener sich krank meldet, wenn er einen Unfall erlitten hat oder auf andere Weise verletzt worden ist, wenn er einen Selbstmordversuch unternommen oder sich selbst beschädigt hat oder wenn sein Aussehen oder Verhalten sonst die Annahme nahelegt, daß er körperlich oder geistig krank sei, so ist davon dem Anstaltsarzt Mitteilung zu machen.

(2) Der Anstaltsarzt hat in diesen Fällen den Strafgefangenen zu untersuchen und dafür Sorge zu tragen, daß ihm die nötige ärztliche, gegebenenfalls fachärztliche Behandlung und Pflege zuteil wird. Er hat ferner festzustellen, ob der Strafgefangene krank, ob er bettlägerig krank und wo er unterzubringen ist und ob und in welchem Umfang er arbeiten kann.

§ 71 (1) Kann ein kranker oder verletzter Strafgefangener in der Anstalt nicht sachgemäß behandelt werden oder geht von ihm eine anders nicht abwendbare Gefährdung für die Gesundheit anderer aus, so ist er in die nächste Anstalt zu überstellen, die über Einrichtungen verfügt, die die erforderliche Behandlung oder Absonderung gewährleisten.

 

[31] 3.2. § 68 StVG regelt in Abs 1 nur die Information des Anstaltsarztes über ua (auch geistige) Erkrankungen von Gefangenen. Dass diese Bestimmung vor Verletzungen durch geistig erkrankte Häftlinge schützen soll, kann dieser nicht entnommen werden. Dies gilt auch für Abs 2 leg cit, wo nur allgemeine Untersuchungs-, Behandlungs- und Pflegepflichten normiert werden. Dass der Anstaltsarzt zu entscheiden habe, wo (in der Justizanstalt) der Gefangene (insbesondere im Fall einer Erkrankung) unterzubringen sei, lässt ebenfalls keinen beabsichtigten Schutz von Justizwachebeamten erkennen. Einen solchen legen auch die Gesetzesmaterialien zu § 68 StVG nicht nahe, wonach diese Bestimmung zur Sorge um eine wirksame und unverzügliche Behandlung von Erkrankungen und Verletzungen von Strafgefangenen verpflichte, für die der Anstaltsarzt nach § 68 Abs 2 StVG Sorge zu tragen habe, der zu diesem Zweck von derartigen Meldungen und Beobachtungen in Kenntnis zu setzen sei (ErlRV 511 BlgNR 11. GP  63).

[32] 3.3. Auch auf eine Verletzung des § 71 Abs 1 StVG kann der Amtshaftungsanspruch nicht gestützt werden:

[33] Die Formulierung, wonach ein (ua) kranker Strafgefangener dann, wenn er in der Anstalt nicht sachgemäß behandelt werden kann oder von ihm „eine anders nicht abwendbare Gefährdung für die Gesundheit anderer ausgeht“, in eine Anstalt zu überstellen ist, die über Einrichtungen verfügt, welche die „erforderliche Behandlung oder Absonderung“ gewährleisten, lässt keinen Schutz von Justizwachebeamten vor körperlichen Angriffen durch (geistig) erkrankte Gefangene erkennen. Geregelt wird vielmehr nur eine medizinisch nötige Verlegung (vgl Hajszan, Ausgestaltung der U-Haft bei infektiösen Personen, JSt 2021, 581 [586]). Dass sich die medizinische Notwendigkeit auch aus dem Schutz Dritter vor einer Ansteckung (arg: „Absonderung“) ergeben kann, lässt nicht darauf schließen, dass dadurch auch einer Gefährdung von Justizwacheorganen durch Gewalttätigkeiten (geistig) erkrankter Häftlinge bezweckt würde. Zur Abwendung solcher Gefahren (auch gegenüber Strafvollzugsbediensteten; vgl Drexler/Weger, StVG5 [2022] § 103 Rz 7) sieht vielmehr § 103 StVG besondere Sicherheitsmaßnahmen – etwa die Unterbringung in einem Einzelhaftraum oder einer besonders gesicherten Zelle – vor. Die Überstellung aus medizinischen Gründen in eine andere Anstalt soll davor nicht schützen. Die in § 71 StVG angeordnete Überstellung eines (ua) erkrankten Häftlings lässt einen Schutz von Justizwachebeamten auch deshalb nicht erkennen, weil auch die Überstellung in der Regel durch Justizwacheorgane durchzuführen ist (§ 606 Geo), die dann zwangsläufig mit dem erkrankten Häftling in Kontakt kommen.

4. Zu § 185 Abs 1 StPO und § 129 StVG:

[34] 4.1. Diese Bestimmungen lauten:

§ 185 StPO

(1) Beschuldigte sollen nicht in Gemeinschaft mit Strafgefangenen untergebracht werden. Beschuldigte, die sich das erste Mal in Haft befinden oder die nach § 183 Abs. 3 in einer anderen Justizanstalt angehalten werden, sind jedenfalls getrennt von Strafgefangenen anzuhalten. Bei der Bewegung im Freien, bei der Arbeit, beim Gottesdienst und bei Veranstaltungen sowie bei der Krankenbetreuung kann jedoch von einer Trennung abgesehen werden, soweit eine solche nach den zur Verfügung stehenden Einrichtungen nicht möglich ist.

§ 129 StVG

Strafgefangene, die sich wegen psychischer Besonderheiten nicht für den allgemeinen Strafvollzug eignen, sind unbeschadet des § 133 getrennt von anderen Strafgefangenen zu verwahren und entsprechend ihrem Zustand zu betreuen. § 127 Abs. 2 gilt dem Sinne nach. Würde die Durchführung des Strafvollzuges auf die regelmäßige Art einem solchen Strafgefangenen schaden, so hat der Anstaltsleiter die der Eigenart des Strafgefangenen angepaßten Abweichungen von den Vorschriften dieses Bundesgesetzes anzuordnen. Dabei dürfen jedoch die den Strafgefangenen eingeräumten Rechte nicht beeinträchtigt werden.

 

[35] 4.2. Warum die in § 185 Abs 1 StPO vorgesehene Trennung von Untersuchungshäftlingen und Strafgefangenen den Schutzvon Justizwachebeamten bezwecken sollte, ist nicht ersichtlich. Die Bestimmung dient erkennbar nur dem Schutz des Untersuchungshäftlings.

[36] 4.3. § 129 StVG soll primär Strafgefangene des Normalvollzugs vor einer Beeinflussung durch Strafgefangene, die sich wegen psychischer Besonderheiten nicht für den allgemeinen Strafvollzug eignen, schützen (Drexler/Weger, StVG4 [2018] § 129 Rz 3). Nach den Gesetzesmaterialien würden diese auf Mithäftlinge einen nachteiligen Einfluss ausüben. Außerdem weisen die Materialien darauf hin, dass die Betreuung psychisch beeinträchtigter Personen im allgemeinen Strafvollzug weit überdurchschnittlich Zeit und Mühe der Vollzugsbediensteten in Anspruch nähme (ErlRV 511 BlgNR 11. GP  84). Dass (auch) der Schutz des Justizwachpersonals von dieser Bestimmung (mit-)bezweckt wäre, ist nicht ersichtlich.

5. Ergebnis:

[37] 5.1. Zusammengefasst wies das Berufungsgericht die Klage zutreffend mangels Rechtswidrigkeitszusammenhangs ab. Ob die Organe der Beklagten überhaupt rechtswidrig und schuldhaft handelten, kann daher dahingestellt bleiben.

[38] 5.2. Die diese Entscheidung tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:

§ 429 Abs 4 StPO in der Fassung vor dem Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 dient nicht dem Schutz von Justizwacheorganen vor Verletzungen durch Personen, die nach dieser Bestimmung zu Unrecht nicht in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher vorläufig angehalten oder in eine öffentliche Krankenanstalt für Geisteskrankheiten eingewiesen wurden, sondern über die – zu Unrecht – die Untersuchungshaft verhängt wurde.

Die §§ 68 und 71 StVG bezwecken keinen Schutz eines Justizwacheorgans vor einer Verletzung durch einen Angriff eines Häftlings, der entgegen diesen Bestimmungen nicht aus medizinischen Gründen in eine andere Anstalt verlegt wurde.

Die Bestimmungen über die getrennte Anhaltung und Verwahrung bestimmter Gefangener nach den §§ 185 Abs 1 StPO und 129 StVG bezwecken keinen Schutz eines Justizwacheorgans vor Verletzungen durch einen Häftling, der entgegen diesen Normen nicht gesondert angehalten oder verwahrt wurde.

[39] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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