OGH 1Ob152/13d

OGH1Ob152/13d17.10.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr.

Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ‑Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj P***** G*****, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft St. Pölten (§ 208 Abs 2 ABGB), wegen Unterhalts, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 10. April 2013, GZ 23 R 82/13a‑26, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Neulengbach vom 17. Dezember 2012, GZ 1 Pu 69/12h‑19, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0010OB00152.13D.1017.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die im Übrigen als unbekämpft in Rechtskraft erwachsen sind, werden im Punkt der Zurückweisung des Antrags des Kindes auf Erhöhung des Unterhalts für die Zeit vom 1. 6. 2009 bis zum 31. 3. 2011 aufgehoben. In diesem Umfang wird die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Begründung

Der Vater verpflichtete sich im Scheidungsvergleich vom 23. 6. 2005 ausgehend von einem monatlichen Nettoeinkommen von 1.800 EUR exklusive Sonderzahlungen zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 300 EUR für den Minderjährigen. Am 9. 5. 2011 schloss er mit dem Jugendwohlfahrtsträger als Vertreter des Kindes eine Unterhaltsvereinbarung, mit der er sich ausgehend von einem durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommen von 3.773 EUR ab 1. 4. 2011 zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 680 EUR verpflichtete.

Am 19. 4. 2012 beantragte das Kind, die Unterhaltsverpflichtung ab 1. 2. 2012 auf 769 EUR monatlich zu erhöhen. Der Vater beziehe ein monatliches Nettoeinkommen von durchschnittlich 4.070 EUR und habe keine weiteren Sorgepflichten. Zuletzt beantragte das Kind gestaffelt die Erhöhung der monatlichen Unterhaltsbeiträge vom 1. 6. 2009 bis zum 31. 1. 2012 sowie ab 1. 2. 2012 (ON 9).

Das Erstgericht erhöhte die monatliche Unterhaltsleistung vom 1. 1. bis zum 31. 1. 2012 auf 705 EUR sowie ab 1. 2. 2012 auf 770 EUR und wies den Erhöhungsantrag für die Zeit vom 1. 6. 2009 bis zum 31. 3. 2011 zurück. Der beantragten Unterhaltsfestsetzung für diesen Zeitraum stehe die Unterhaltsvereinbarung vom 9. 5. 2011 entgegen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes gegen die Zurückweisung des Mehrbegehrens auf Unterhaltserhöhung für die Zeit vom 1. 6. 2009 bis zum 31. 3. 2011 nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. Der Oberste Gerichtshof habe in der Entscheidung 5 Ob 241/10t explizit ausgeführt, dass im Fall eines Vortitels in Form eines Vergleichs eine rückwirkende Unterhaltsänderung lediglich bis zum Zeitpunkt des Vortitels zurück, nicht aber darüber hinaus ‑ außer durch Anfechtung des Vergleichs ‑ möglich sei. Die begehrte Erhöhung der Unterhaltsleistung für Perioden vor dem Unterhaltsvergleich greife in die Bereinigungswirkung des Vergleichs ein. Die zitierte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs stehe im Widerspruch zur bisher ständigen Rechtsprechung, wonach eine Änderung der Unterhaltsbemessung für die Vergangenheit auch dann erfolgen könne, wenn für diese Zeit eine gerichtliche Festsetzung oder eine vergleichsweise Regelung vorliege, diese infolge Änderung der Verhältnisse wegen der Umstandsklausel jedoch nicht mehr bindend bleibe.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Kindes ist zulässig und mit seinem Aufhebungsantrag berechtigt.

1. Jede Unterhaltsregelung, ob durch gerichtliche Entscheidung oder (gerichtlichen) Vergleich unterliegt der Umstandsklausel, sodass wesentliche Änderungen der Verhältnisse über Antrag zu einer Neufestsetzung des Unterhaltsanspruchs führen (stRsp RIS‑Justiz RS0053297; RS0018984 [Unterhaltsvergleich]; vgl RS0047398; Barth/Neumayr in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang ³ § 140 Rz 66 mwN).

2. Bei einer Unterhaltsfestsetzung für die Vergangenheit ist zu beachten, dass sie nicht in die materielle Rechtskraft einer vorangegangenen Unterhaltsentscheidung eingreifen darf. Wurde aber im Verfahren nur über ein Teilbegehren entschieden, ist eine Entscheidung über den Restanspruch zulässig. Ein Anspruch, über den nicht entschieden wurde, kann nämlich ‑ ungeachtet der Tatsache, dass ein früherer Antrag nicht als Teilantrag bezeichnet wurde ‑ nicht in Rechtskraft erwachsen, ist doch Voraussetzung der materiellen Rechtskraftwirkung die Identität der Ansprüche. Begehrt der Unterhaltsberechtigte höhere Unterhaltsleistungen für die Zukunft und die Vergangenheit, so fehlt es an dieser Identität, wenn etwa mit der Behauptung die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners sei höher als angenommen, ein höherer Betrag begehrt wird. Eine andere Beurteilung ist aber dann geboten, wenn im Vorverfahren ‑ etwa durch Teilabweisung eines überhöhten Unterhaltsbegehrens ‑ über den Unterhaltsanspruch abschließend (aufgrund der festgestellten Verhältnisse) rechtskräftig erkannt wurde; in diesem Fall steht einem höheren Unterhaltsbegehren die Rechtskraft der Vorentscheidung entgegen (2 Ob 90/09p = SZ 2009/171 mwN; wN bei Neuhauser in Schwimann , ABGB‑TaKomm² § 140 Rz 13 mwN). Auch ein Unterhaltsvergleich ist ein materiell-rechtliches Hindernis, das bis zu einer nicht bloß unbedeutenden Änderung der Verhältnisse einer neuerlichen Unterhaltsfestsetzung entgegensteht (5 Ob 241/10t mwN; wN bei Gitschthaler , Unterhaltsrecht² Rz 410).

3. Im vorliegenden Fall wurde der zuvor im Jahr 2005 in einem Vergleich festgesetzte monatliche Unterhaltsbetrag in der Vereinbarung vom 19. 4. 2011, die zwischen dem unterhaltspflichtigen Vater und dem Jugendwohlfahrtsträger als Vertreter des Kindes geschlossen wurde und nach § 214 Abs 2 ABGB (idF vor dem KindNamRÄG 2013) die Wirkung eines gerichtlichen Vergleichs hatte und keiner pflegschaftsgerichtlichen Genehmigung bedurfte, ab dem 1. 4. 2011 neu geregelt und ausgehend von einem durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommen des Vaters in der Höhe von 3.773 EUR auf 680 EUR erhöht. In seinem innerhalb der dreijährigen Verjährungsfrist (§ 1480 ABGB) gestellten Antrag auf (die hier relevante) rückwirkende Erhöhung des Unterhalts für die Zeit vom 1. 6. 2009 bis zum 31. 3. 2011 behauptete der Minderjährige Unterhaltsbemessungsgrundlagen von 3.560 EUR (2009), 3.590 EUR (2010) sowie 3.915 EUR (2011). Seit Abschluss des Unterhaltsvergleichs im Jahr 2005, dem monatliche Nettoeinkünfte des Unterhaltspflichtigen von 1.800 EUR exklusive Sonderzahlungen zu Grunde lagen, ist somit nach dem Vorbringen des Unterhaltsberechtigten durch die Erhöhung der Einkünfte des Unterhaltspflichtigen eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten. Es steht wohl außer Frage, dass sich auch der Unterhaltsbedarf des 1997 geborenen Minderjährigen altersbedingt nach Ablauf eines Zeitraums von mehreren Jahren erhöht hat. Es ist demnach unverständlich, dass die Bereinigungswirkung des nahezu sechs Jahre nach Schaffung des Vortitels im April 2011 geschlossenen Unterhaltsvergleichs auch jene Zeiträume erfassen sollte, die er nach seinem Wortlaut gar nicht regelte, würde dies doch einen Verzicht des Unterhaltsberechtigten auf Erhöhung des Unterhalts trotz Eintritts wesentlich geänderter Verhältnisse bedeuten. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RIS-Justiz RS0007146 [T1]) liegt aber in der Unterlassung der Geltendmachung eines höheren Unterhaltsanspruchs in einem Vorverfahren noch kein schlüssiger Verzicht auf den Restanspruch.

4. Der Oberste Gerichtshof hat zwar in der Entscheidung 5 Ob 241/10t = EF‑Z 2011/91 mit zahlreichen Nachweisen aus Judikatur und Lehre ausgesprochen, dass die Bereinigungswirkung eines Unterhaltsvergleichs (Vortitels) außer im Fall seiner erfolgreichen Anfechtung eine rückwirkende Unterhaltsänderung nur bis zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses zulasse. Dieser Aussage lag aber ein Fall zu Grunde, in dem ein Unterhaltspflichtiger einen Antrag auf rückwirkende Herabsetzung seiner Unterhaltspflicht gestellt hatte. Nach der höchstgerichtlichen Judikatur ist bei der Beurteilung des Eingriffs in die materielle Rechtskraft eines Vortitels zwischen Unterhaltserhöhungs‑ und Unterhaltsherabsetzungsantrag zu differenzieren: Während dem Unterhaltsberechtigten bei Beurteilung seines einstigen Begehrens als Teilantrag die Möglichkeit offen steht, im Wege eines Unterhaltserhöhungsantrags auch noch den Rest zu erlangen, wird Unterhaltspflichtigen ein vergleichbarer Weg mit umgekehrten Vorzeichen nicht zugebilligt (2 Ob 90/09p mwN; RIS‑Justiz RS0125638; Neuhauser in Schwimann/Kodek , ABGB § 140 Rz 351). Das muss jedenfalls dann gelten, wenn die vorangehende Entscheidung einen Herabsetzungsantrag (wie im Fall der zuletzt angeführten Entscheidung) nur teilweise stattgab.

5. Der Oberste Gerichtshof hat auch schon mehrfach ausgesprochen (RIS-Justiz RS0107666), dass ein Irrtum über die Grundlage eines pflegschaftsgerichtlich genehmigten oder einer gerichtlichen Unterhaltsfestsetzung zugrunde gelegten Unterhaltsvergleichs im Sinn der weiten Auslegung der Umstandsklausel auch ohne Anfechtung des Vergleichs im streitigen Verfahren (aaO [T1]) gegen die materielle Rechtskraft ins Treffen geführt werden und zum Gegenstand eines Unterhaltserhöhungsantrags auch für die Vergangenheit gemacht werden könne (ausführlich die von Rekursgericht und Revisionsrekurswerber zitierte Entscheidung 7 Ob 293/06y, die im Fall des Irrtums des Unterhaltsberechtigten über das Einkommen des Unterhaltspflichtigen die Unterhaltsfestsetzung auch für die vor Schaffung des Unterhaltstitels, eines Vergleichs, liegenden Perioden als zulässig ansah). Auch diese Judikatur zur weiten Auslegung der Umstandsklausel betrifft Fälle einer rückwirkenden Unterhaltserhöhung. Der vom Rekursgericht geortete Widerspruch in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs liegt somit nicht vor.

6. Aus diesen Erwägungen erweist sich die von den Vorinstanzen ausgesprochene Zurückweisung des Unterhaltserhöhungsantrags als verfehlt. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht den Antrag des Kindes inhaltlich zu behandeln haben.

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