European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0140OS00028.24K.1008.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Die Entscheidung über die Berufung kommt dem Oberlandesgericht Linz zu.
* M* fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * M* des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB schuldig erkannt und zu einer (unbedingten) Freiheitsstrafe verurteilt. Zudem ordnete das Erstgericht die Unterbringung der Genannten in einem forensisch-therapeutischen Zentrum nach § 21 Abs 2 StGB an.
[2] Danach hat sie am 17. Mai 2023 in I* eine Beamtin während oder wegen der Vollziehung ihrer Aufgaben oder der Erfüllung ihrer Pflichten am Körper verletzt, indem sie der Justizwachebeamtin * S* im Zuge einer besonderen Sicherheitsmaßnahme (§ 103 Abs 2 Z 3 StVG; US 3 f) einen gezielten Fußtritt gegen den Bauch versetzte, wodurch diese eine Bauchprellung und ein Hämatom erlitt.
Rechtliche Beurteilung
[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der * M*, der keine Berechtigung zukommt.
[4] Die Rechtsrüge (Z 9 lit b) macht geltend, dass M* in Abwehr einer wegen der Anwesenheit männlicher Justizwachebeamter bei der zwangsweisen Entkleidung erniedrigenden Behandlung und eines dadurch erfolgten Eingriffs in ihre Rechte nach Art 3 und 8 MRK, Art 1 Abs 4 PersFrG sowie nach der UN‑Antifolterkonvention gehandelt habe, sodass ihr der Rechtfertigungsgrund nach § 3 StGB zugute komme.
[5] Die gesetzmäßige Ausführung eines materiell-rechtlichen Nichtigkeitsgrundes hat das Festhalten am gesamten im Urteil festgestellten Sachverhalt, dessen Vergleich mit dem darauf anzuwendenden Gesetz und die Behauptung, dass das Erstgericht bei Beurteilung dieses Sachverhalts einem Rechtsirrtum unterlegen ist, zur Voraussetzung (RIS‑Justiz RS0099810).
[6] Diese Vorgaben verfehlt die Rüge, weil sie die Feststellung übergeht, die Beschwerdeführerin habe, „als sie der Justizwachebeamtin einen Tritt versetzte“, „nicht in der Meinung“ gehandelt, „angegriffen zu werden oder sich gegen eine – im Übrigen nicht gegebene – unrechtmäßige Amtshandlung wehren zu dürfen; dies auch nicht irrtümlich“ (US 4; vgl auch US 8 [wo die Verantwortung der Beschwerdeführerin, dass sie sich „gegen das gewaltsame Ausziehen und Festhalten zur Wehr gesetzt habe und sich lediglich befreien habe wollen“, als „Schutzbehauptung“ verworfen wird]).
[7] Diese Feststellung betrifft deshalb eine entscheidende Tatsache, weil (die von der Rüge behauptete) Rechtfertigung – hier durch Notwehr – nach herrschender Meinung auch von der Erfüllung subjektiver Voraussetzungen („subjektives Rechtfertigungselement“) abhängt (Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 146; Kienapfel/Höpfel/Kert AT16 13.23; Triffterer, AT2 Kap 11 Rz 35; Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4 § 3 Rz 5; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 175; Danek/Mann in WK2 StGB § 269 Rz 78/1; vgl Fuchs/Zerbes AT I12 18/1 f; zur auch in Deutschland hM vgl Perron/Eisele in Schönke/Schröder 30 § 32 Rz 63; Jeschek/Weigend 5, 328 f).
[8] Vergleichbar dem subjektiven Tatbestand (vgl Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 146 [„Spiegelung des … vorsätzlichen Handlungsunwerts“]; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 176 [„Entsprechung von subjektiven Rechtfertigungselementen und Vorsatz“];Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 18 [„Pendant zum subjektiven Unrechtstatbestand“] und 45 [„Parallele zum Tatbestandsvorsatz“]; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder 30 Vor §§ 32 ff Rz 13 [„Gegenstück zu den subjektiven Tatbestandselementen“]) muss der (sich zur Wehr setzende) Täter das Vorliegen der objektiven Notwehrvoraussetzungen in seinen Vorsatz aufgenommen haben, um gerechtfertigt zu sein. Dieser zumindest bedingte Vorsatz (im Sinn eines Darauf-Vertrauens) hat sich demnach zunächst auf das Vorliegen eines (gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden) rechtswidrigen Angriffs auf eines der in § 3 Abs 1 StGB genannten Rechtsgüter zu beziehen (Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 146; Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4 § 3 Rz 5; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 176; Hinterhofer, Die Einwilligung im Strafrecht, 124; vgl Kienapfel/Höpfel/Kert AT16 13.23 [„Wissen“]; implizit 15 Os 15/21a), wobei die Erfassung der normativen Elemente (Rechtswidrigkeit [des Angriffs] und strafrechtliche Einordnung des gefährdeten Rechtsguts) in ihrem sozialen Bedeutungsinhalt („Parallelwertung in der Laiensphäre“) ausreicht (Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 45; Triffterer, AT2 Kap 11 Rz 72; allgemein RIS‑Justiz RS0088928; Reindl‑Krauskopf in WK2 StGB § 5 Rz 12).
[9] Weiters ist aus dem von § 3 Abs 1 StGB verwendeten Begriff „Verteidigung“ abzuleiten, dass der Vorsatz auch den Zusammenhang zwischen Angriff und (inkriminierter) Verteidigungshandlung dergestalt einschließen muss, dass diese in Reaktion auf Ersteren erfolgt, also ein intentionaler Zusammenhang besteht (Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 70 f [„Anlassmotiv“]; im Ergebnis ebenso Triffterer, AT2 Kap 11 Rz 71 f; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 176; ähnlich zum deutschen Recht Jeschek/Weigend AT5, 328; vgl zur stRsp des BGH [der auch einen „Verteidigungswillen“ voraussetzt] 4 StR 551/12 [Rz 15 und 19 f]; erneut Perron/Eisele in Schönke/Schröder 30 § 32 Rz 63).
[10] Dem steht nicht entgegen, dass der Oberste Gerichtshof gelegentlich einen „spezifischen Verteidigungswillen“ (vgl 13 Os 32/80 mit Verweis auf noch zum StG ergangene Entscheidungen [„Verteidigungswille ... als Motivation der Notwehrhandlung nicht ... erforderlich“]) nicht als konstitutives Element der Notwehr gesehen hat (RIS‑Justiz RS0088836; vgl hingegen aus jüngerer Zeit 12 Os 48/14x). Recht besehen wurde damit nämlich bloß zum Ausdruck gebracht, dass ein (zu den oben genannten subjektiven Voraussetzungen hinzutretendes) nicht bloß defensiv geprägtes Motiv (vgl Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 147 [„innere Befriedigung des Verteidigers über die Gelegenheit zur Beeinträchtigung der Rechtsgüter des Angreifers“]; erneut Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 70 [„Zielmotiv“]; ähnlich 11 Os 113/81, 114/81; zur Rsp des BGH RIS‑Justiz RS0103836) Rechtfertigung ebenso wenig hindert wie ein die Verteidigungshandlung begleitender Misshandlungs- oder Verletzungsvorsatz (14 Os 69/90, 70/90; 12 Os 159/82, 160/82; vgl Triffterer, AT2 Kap 11 Rz 75).
[11] Da vorliegend das Erstgericht (auf der Tatsachenebene) Kenntnis (ersichtlich gemeint: iS bedingten Vorsatzes) der Beschwerdeführerin vom Vorliegen einer Notwehrsitutation ausdrücklich (US 4) und überdies Vorsatz in Bezug auf ein Handeln in Reaktion auf einen Angriff implizit (US 8) verneint hat, scheidet Rechtfertigung durch Notwehr schon aus diesem Grund aus. Ob die Notwehrsituation objektiv, mithin ein (durch die konkreten Umstände [Anwesenheit männlicher Justizwachebeamter] zwangsweiser Durchsetzung der besonderen Sicherheitsmaßnahme [§ 104 Abs 1 Z 5 iVm § 103 Abs 2 Z 3 StVG]) rechtswidriger Angriff auf notwehrfähige Rechtsgüter der Beschwerdeführerin, vorlag, kann angesichts dieser Sachverhaltsgrundlage dahinstehen.
[12] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – im Ergebnis in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – gemäß § 285d Abs 1 Z 1 StPO bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen.
[13] Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung (§ 285i StPO).
[14] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.
Bleibt mit Blick auf § 290 StPO klarzustellen:
[15] Das Erstgericht ist im Rahmen der Strafbemessung zu Recht ersichtlich (vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 712) von Tatvollendung ausgegangen. Auf Basis des Urteilssachverhalts hat die Beschwerdeführerin den Erfolg der Körperverletzung tatbestandsmäßig (kausal und objektiv zurechenbar) und schuldhaft sowie – nach dem Vorgesagten – rechtswidrig herbeigeführt (vgl Triffterer, AT2 Kap 3 Rz 57 [zur Verwirklichung des Erfolgsunwerts]). Daran würde auch ein (hier nicht zu klärendes) objektives Vorliegen eines rechtfertigenden Sachverhalts nichts ändern (Kienapfel/Höpfel/Kert AT17 13.24; Triffterer, AT2 Kap 11 Rz 50; Nowakowski, Zur subjektiven Tatseite der Rechtfertigungsgründe, ÖJZ 1977, 573 [579]; Hinterhofer, Die Einwilligung im Strafrecht, 124; im Ergebnis ebenso Danek/Mann in WK2 StGB § 269 Rz 78/1; zum Meinungsstand in Deutschland vgl Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder 30 Vor §§ 32 ff Rz 15).
[16] Dagegen wird in der Literatur teilweise unter Wertungsgesichtspunkten eingewendet, der Erfolgsunwert werde bei (nur) objektiv gegebener Rechtfertigungssituation nicht verwirklicht, weshalb auf eine solche Konstellation die Regeln der Versuchsstrafbarkeit (direkt oder analog) anzuwenden seien (für Analogie etwa Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 177 [der allerdings die Annahme von Vollendung – da „ja eine vollständige Verwirklichung des Tatbestandes“ vorliege – für „rein formal … unanfechtbar“ bezeichnet]; im Ergebnis wohl ebenso Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 100 f [mit dem Hinweis, dass es sich – ausgehend von voller Tatbestandserfüllung – nicht um eine Analogie zum Nachteil des Täters handle]; für direkte Anwendung beispielsweise Fuchs/Zerbes, AT I12 18/2 [ohne jedoch näher auf die auf Tatbestandsebene gegebene Zurechenbarkeit des Erfolgs einzugehen]; vgl im Übrigen [jeweils für Straflosigkeit] Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 153 und 157 [trotz Bejahung vollständiger Erfüllung des „Deliktstatbestands“ wegen mangelnder „Verwirklichung des deliktstypischen Unrechts“]; Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4 § 3 Rz 8 f [mit Verweis auf das strafrechtliche Analogieverbot]).
[17] Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass der durch die inkriminierte Verteidigungshandlung herbeigeführte Erfolgsunwert keineswegs in allen denkbaren Konstellationen von jenem (zur Gänze) beseitigt (vgl Fuchs/Zerbes, AT I12 18/2 [„überkompensiert“]) wird, der aus dem rechtswidrigen Angriff auf die in § 3 Abs 1 StGB genannten Rechtsgüter resultiert. Man denke etwa an einen rechtswidrigen Angriff auf das Vermögen, auf den der Angegriffene (ohne Notwehrexzess) mit schwerer Körperverletzung oder gar Tötung reagiert (vgl Fuchs/Zerbes, AT I12 16/38; vgl im Übrigen RIS‑Justiz RS0099015 [zu nachträglicher Schadensminderung als bloßer Strafzumessungstatsache]).
[18] Wertungsmäßigen Bedenken kann systemkonform zudem durch Anwendung des besonderen Milderungsgrundes nach § 34 Abs 1 Z 11 StGB Rechnung getragen werden (erneut Kienapfel/Höpfel/Kert AT16 13.24; Triffterer, AT2 Kap 11 Rz 50; Salimi, Das subjektive Rechtfertigungselement im Strafrecht, 109 f; Riffel in WK2 StGB § 34 Rz 26 [mit Verweis auf die in diese Richtung weisenden Gesetzesmaterialie] und § 32 Rz 4 [allgemein zum Erfolgsunwert als Teil der Strafbemessungsschuld]), weshalb auch aus diesem Grund kein Bedürfnis für die Annahme von (bloßer) Versuchsstrafbarkeit (deren Unterscheidung von Tatvollendung bei Vorsatztatbeständen – prozessual – ohnehin nur für die Strafbemessung Bedeutung hat [RIS‑Justiz RS0122137]), besteht.
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