European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00090.23T.0724.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Der * 1972 geborene Kläger erlernte den Beruf eines Gas- und Wasserleitungsinstallateurs und arbeitete in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag für 180 Monate als Baupolier.
[2] Mit Bescheid vom 9. November 2020 stellte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Anspruch des Klägers auf Rehabilitationsgeld ab 1. November 2020 fest. Zu diesem Zeitpunkt waren dem Kläger keine geregelten Arbeiten zumutbar.
[3] Im Entziehungszeitpunkt hat sich der Gesundheitszustand des Klägers wesentlich verbessert und ihm sind nunmehr körperlich alle leichten und mittelschweren Tätigkeiten möglich, dies unter halbzeitig besonderem Zeitdruck und zu den üblichen Arbeitszeiten und mit den üblichen Arbeitspausen. Von den (näher festgestellten) Einschränkungen ist hervorzuheben, dass es erforderlich ist, dass dem Kläger eine Toilette zur Verfügung steht, die er innerhalb von drei Minuten erreichen kann.
[4] Dem Kläger ist ab dem Entziehungszeitpunkt die Tätigkeit als Baupolier weiter zumutbar. Die Tätigkeit als Baupolier stellt sich als leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeit im Sitzen, Stehen und Gehen dar. Es besteht die Möglichkeit alle 120 Minuten eine Toilette zum Harnlassen aufzusuchen.
[5] Mit Bescheid vom 28. Februar 2022 sprach die Beklagte aus, dass vorübergehende Berufsunfähigkeit nicht mehr vorliege und entzog dem Kläger das Rehabilitationsgeld mit 30. April 2022.
[6] Das Erstgericht wies das auf Leistung des Rehabilitationsgeldes über den 30. April 2022 hinaus gerichtete Klagebegehren ab.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Sekundäre Feststellungsmängel hinsichtlich des Zustands des Klägers im Zeitpunkt der Gewährung des Rehabilitationsgeldes lägen nicht vor, weil dazu ausreichende Feststellungen getroffen worden seien. Das Erstgericht habe hinsichtlich des Anforderungsprofils eines Baupoliers zwar nicht ausdrücklich festgestellt, dass eine Toilette innerhalb von drei Minuten erreichbar sei. Die diesbezüglichen Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen, dass es für einen im Hochbau tätigen Polier im Baustellenbereich eine Toilette gebe, die man innerhalb von drei Minuten erreichen könne, seien als offenkundig, und zwar jedenfalls als gerichtskundig im Sinn des § 269 ZPO anzusehen, sodass ein sekundärer Feststellungsmangel auch insofern nicht vorliege. Bei der Prüfung der Entziehung des Rehabilitationsgeldes sei die Einsetzbarkeit auf dem Arbeitsmarkt und die bisherige Tätigkeit zu beurteilen, sodass es auf die Frage, ob der Kläger dem Kreis der begünstigten Behinderten angehöre und er seine bisherige Tätigkeit weiter ausüben könne, nicht ankomme.
[8] Die Revision ließ das Berufungsgericht mangels Vorliegens von Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung (§ 502 Abs 1 ZPO) nicht zu.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die außerordentliche Revision des Klägers ist nicht zulässig.
[10] 1. Für die Frage der Entziehung der Leistung ist der Zustand im Zeitpunkt der Zuerkennung des Rehabilitationsgeldes jenem im Zeitpunkt der Entziehung gegenüberzustellen (RS0083876). Der Behauptung, das Erstgericht habe lediglich das Leistungskalkül im Zeitpunkt der Entziehung festgestellt, nicht jedoch jenes im Zeitpunkt der ursprünglichen Gewährung des Rehabilitationsgeldes, entgegnete das Berufungsgericht unter Hinweis auf die vom Erstgericht getroffenen und als ausreichend beurteilten Feststellungen, die den anzustellenden Vergleich, ob eine Besserung des Zustands eingetreten sei, ermöglichten. Auf diese Argumentation geht die Revision nicht ein, wenn sie die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen pauschal als nicht ausreichend bezeichnet. Warum die Feststellung, dass dem Kläger im Gewährungszeitpunkt keine geregelten Arbeiten zumutbar waren, den anzustellenden Vergleich verhindern sollen, lässt sich den Revisionsausführungen nicht entnehmen, sodass schon deswegen iSd § 502 Abs 1 ZPO keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufgezeigt wird (RS0043603 [T9]).
[11] 2. Der Kläger wiederholt in der Revision sein Berufungsvorbringen, wonach hinsichtlich des Anforderungsprofils eines Baupoliers Feststellungen dazu fehlten, ob das Aufsuchen einer Toilette zum Harnlassen bei dieser Tätigkeit innerhalb von drei Minuten möglich sei.
[12] 2.1. Dabei übergeht der Kläger, dass das Berufungsgericht die Feststellungen entsprechend ergänzte, weil es vom Vorliegen einer offenkundigen Tatsache iSd § 269 ZPO ausging. Offenkundige Tatsachen kann das Berufungsgericht auch ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zugrundelegen (RS0040179; RS0040219). Ein sekundärer Feststellungsmangel liegt daher insofern nicht vor.
[13] 2.2. Die (durchaus bezweifelbare) Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach es sich bei diesen tatsächlichen Umständen um offenkundige Tatsachen handle, wird in der Revision nicht konkret bekämpft (zur Unüberprüfbarkeit einer unter Anwendung des § 269 ZPO getroffenen Feststellung im Revisionsverfahren vgl RS0040046). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann es allerdings einen Verfahrensmangel begründen, wenn die Offenkundigkeit bezweifelt werden kann und das Berufungsgericht sein Vorgehen mit den Parteien nicht erörtert, um Gelegenheit zum Beweis der Unrichtigkeit der als offenkundig angenommenen Tatsachen zu ermöglichen (RS0040219 [T2, T6, T11, T15]; RS0040179 [T19]). Mit der bloßen Behauptung, dass es nicht ausreiche, dass diese Frage mit dem Sachverständigen erörtert worden sei, weil es dem Gericht nicht verwehrt sei, dem Sachverständigen keinen Glauben zu schenken, wenn die eigenen Fachkenntnisse oder schon die allgemeine Lebenserfahrung ausreiche, stellt der Kläger einen solchen Erörterungsmangel aber nicht gesetzmäßig dar. Insbesondere zeigt er die abstrakte Eignung des Mangels, sich auf die Entscheidung auszuwirken (RS0116273), nicht auf, weil er nicht ausführt, welchen Verlauf das Verfahren genommen hätte, wenn der Fehler unterblieben wäre, also welche konkreten Behauptungen er aufgestellt und welche konkreten Anträge er gestellt hätte, die seinen Prozessstandpunkt verbessern hätten können (vgl RS0037095 [T4, T6, T14, T16, T19]). Der bloße Hinweis auf die „Möglichkeit“ eines Gegenbeweises reicht dafür nicht aus (RS0037095 [T20]).
[14] 3. Schließlich vermisst der Kläger in der Revision Feststellungen zu seinem Status als begünstigter Behinderter und dazu, ob er seine bisherige Tätigkeit an seinem bisherigen Arbeitsplatz noch ausüben könne.
[15] 3.1. Die bescheidmäßige Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der im § 2 Abs 1 BEinstG genannten begünstigten Behinderten ist für die Frage der Invalidität nach § 255 ASVG allerdings ohne Bedeutung (RS0052944). Dasselbe gilt daher auch für die Frage, ob die Entziehung des Rehabilitationsgeldes wegen nicht mehr vorliegender vorübergehender Invalidität gerechtfertigt war. Feststellungen dazu sind mangels Erheblichkeit für die Entscheidung somit nicht erforderlich (RS0053317 [T5]).
[16] 3.2. Eine Entziehung der Leistung ist nach der Rechtsprechung gerechtfertigt, wenn der Leistungsbezieher durch die Änderung des Gesundheitszustands auf dem Arbeitsmarktwieder einsetzbar ist (RS0083884 [T5]). Sogar im Rahmen des § 255 Abs 4 (iVm § 273 Abs 3) ASVG (dessen Voraussetzungen der Kläger schon aufgrund seines Alters nicht erfüllt) wird nicht – wie es der Kläger offenbar wünscht – auf die Anforderungen an einem bestimmten Arbeitsplatz abgestellt, sondern auf die Tätigkeit mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt (RS0087658 [T2]; RS0087659 [T9]). Die Behauptung, der Kläger sei mittelbar diskriminiert, weil er gezwungen sei, sein aufrechtes und dem Kündigungsschutz des § 8 BEinstG unterliegendes Arbeitsverhältnis aufzugeben, ist schon deswegen nicht verständlich, weil er nicht darlegt, inwiefern ihn die Entscheidung über den Anspruch auf Rehabilitationsgeld zu einer solchen Auflösung zwingen soll.
[17] 4. Mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision folglich zurückzuweisen.
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