European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00078.17V.0913.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung:
Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil es eine Klarstellung der Rechtslage bei Änderungen im Pflegebedarf in jenen Fällen, in denen (wie hier) Pflegegeld ursprünglich zu Unrecht zuerkannt wurde, für notwendig erachtete.
Die Revision der Klägerin ist entgegen diesem nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) Ausspruch nicht zulässig.
Rechtliche Beurteilung
1. Die 2014 geborene Klägerin bezog ab 1. Mai 2015 Pflegegeld der Stufe 1, das mit Bescheid vom 2. 8. 2016 entzogen wurde. Diese Entziehung ist (unstrittig) nach § 9 Abs 4 BPGG zu beurteilen.
2. Eine Entziehung oder Neubemessung iSd § 9 Abs 4 BPGG setzt nach der Rechtsprechung die wesentliche Änderung des Zustands des Pflegebedürftigen und die daraus resultierende Erhöhung oder Verringerung des Pflegebedarfs voraus, die zu einer anderen Pflegestufe führt (RIS‑Justiz RS0123144). Das Unter‑ oder Überschreiten des für die Pflegegeldeinstufung maßgeblichen Grenzwerts ist somit eine wesentliche Änderung im Sinne des § 9 Abs 4 BPGG (10 ObS 32/15a).
3. Für die Entziehung oder Neubemessung des Pflegegeldes sind jene Grundsätze heranzuziehen, die auch bei der Entziehung sonstiger Leistungsansprüche nach § 99 ASVG oder bei der Neufeststellung einer Versehrtenrente nach § 183 ASVG angewendet werden (RIS‑Justiz RS0061709 [T4]).
4. Es ist unstrittig, dass der bei Gewährung des Pflegegeldes bestandene Pflegemehrbedarf (§ 4 Abs 3 BPGG) nicht mehr als 65 Stunden monatlich betrug und die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Pflegegeld nicht vorlagen. Dies alleine rechtfertigt die Entziehung der Leistung zwar nicht (RIS‑Justiz RS0083941; RS0106704 [T2]; RS0084142). Der nach der Rechtsprechung für das Vorliegen einer wesentlichen Veränderung maßgebliche, zum Zeitpunkt der Gewährung tatsächlich bestandene (RIS‑Justiz RS0123144; RS0083884 [T11, T12]; RS0084151), Pflegemehrbedarf hat sich aber nach den Feststellungen der Vorinstanzen in zwei für die Zuerkennung wesentlichen Bereichen (Zubereitung von Mahlzeiten; Blutzuckermessung und Verabreichung von Insulin bzw Insulinmanagement) reduziert. Der Aufwand für die Zubereitung der Mahlzeiten sank um 25 %, jener für das „Insulinmanagement“ um etwa 32 %. Insgesamt verringerte sich der Pflegemehrbedarf von 46 auf 40,5 Stunden.
5. Wird einem Versehrten mit der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 5 bis 10 vH aufgrund einer Fehlbeurteilung eine Dauerrente gewährt, berechtigt auch eine geringfügige Verbesserung seines Zustands, die zu einer etwa im Bereich von rund 5 bis 10 vH liegenden Änderung des Maßes der Minderung der Erwerbsfähigkeit führt, eine Entziehung der zu Unrecht gewährten Dauerrente (10 ObS 87/16s, RIS‑Justiz RS0084194 [T1], RS0110119 [T4], RS0084142 [T4], RS0084151 [T6]). In der – bereits vom Berufungsgericht zitierten – Entscheidung 10 ObS 87/16s sieht der Oberste Gerichtshof es als schwer vertretbares Ergebnis an, wenn ein Versehrter, dem eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente zu Recht gewährt wurde, bei einer geringfügigen Verbesserung seines Zustands die Entziehung der Rente in Kauf nehmen muss (RIS‑Justiz RS0084224), während einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von lediglich 5 bis 10 vH die aufgrund einer Fehleinschätzung gewährte Dauerrente trotz Vorliegens einer umfänglich gleichen Verbesserung nicht entzogen werden könnte.
6. Dieser Grundsatz der Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eines Bescheids, der aufgrund einer Fehleinschätzung zu Unrecht eine Leistung gewährte, in Fällen einer wesentlichen Änderung des Sachverhalts gilt auch für die hier zu beurteilende Entziehung des Pflegegeldes.
7. Die an den Obersten Gerichtshof gestellte Rechtsfrage ist anhand bereits bestehender höchstgerichtlicher Judikatur im Sinn der Entscheidung des Berufungsgerichts, das die Entziehung des Pflegegeldes befürwortete, zu beantworten. Die Revision der Klägerin ist somit als unzulässig zurückzuweisen.
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