European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00077.22D.0913.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Entscheidungsgründe:
[1] Strittig ist im Revisionsverfahren die Frage, ob das Rehabilitationsgeld im Anwendungsbereich des Abkommens zwischen der Republik Österreich und Bosnien und Herzegowina über soziale Sicherheit, BGBl III 2001/229 (idF: AbkSozSi‑Bosnien) zu exportieren ist.
[2] Die 1966 geborene Klägerin hat ihren Wohnsitz im Kanton Una‑Sana in Bosnien und Herzegowina. Die Klägerin arbeitete während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1. 12. 2019) als Gärtnereiarbeiterin und erwarb 119 Beitragsmonate der Pflichtversicherung. Sie war von 1. 12. 2019 bis 30. 4. 2021 arbeitsunfähig.
[3] Mit Bescheid vom 9. 11. 2020 lehnte die Beklagte die Zuerkennung einer Invaliditätspension ab 1. 12. 2019 mangels Vorliegens dauerhafter Invalidität ab. Es liege jedoch vorübergehende Invalidität ab 1. 12. 2019 vor. Als medizinische Maßnahme der Rehabilitation sei der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten. Ein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe nicht. Ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung bestehe nicht, weil die Klägerin ihren Wohnsitz in Bosnien und Herzegowina habe und der Export von Rehabilitationsgeld nach dem AbkSozSi‑Bosnien nicht vorgesehen sei.
[4] Mit ihrer dagegen erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß, hilfsweise Leistungen wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit.
[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab 1. 12. 2019 ab. Es stellte fest, dass bei der Klägerin von 1. 12. 2019 bis 30. 4. 2021 vorübergehende Invalidität vorliege und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zumutbar seien. Für die Dauer der vorübergehenden Invalidität habe die Klägerin Anspruch auf Rehabilitationsgeld im gesetzlichen Ausmaß aus der Krankenversicherung.
[6] Das Berufungsgericht gab der nur gegen die Feststellung, dass der Klägerin ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung zustehe, von der Beklagten erhobenen Berufung nicht Folge. Die Verpflichtung zum Export des Rehabilitationsgeldes ergebe sich aus den Bestimmungen des AbkSozSi‑Bosnien. Daran ändere die Rechtsprechung des EuGH zur Exportierbarkeit des Rehabilitationsgeldes nichts, weil die VO (EG) 883/2004 hier nicht anwendbar sei und sich außerdem vom AbkSozSi‑Bosnien von der Systematik her erheblich unterscheide. Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Auslegung des Art 5 AbkSozSi‑Bosnien nach der Entscheidung des EuGH C‑135/19 nicht vorliege.
[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Klägerin nicht beantwortete Revision der Beklagten, mit der diese die Abweisung des Anspruchs der Klägerin auf Rehabilitationsgeld anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.
[9] 1.1 Im Verfahren ist nicht strittig, dass der sachliche und persönliche Geltungsbereich des AbkSozSi‑Bosnien hier eröffnet ist (Art 2 Abs 1 Z 1 lit a und c sowie Art 3 lit a AbkSozSi‑Bosnien).
[10] 1.2 Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 10 ObS 122/16p SSV‑NF 31/1 mit ausführlicher Begründung bejaht, dass das Rehabilitationsgeld im Anwendungsbereich des AbkSozSi‑Bosnien zu exportieren ist. Das Rehabilitationsgeld nach § 143a ASVG ist eine Geldleistung im Sinn des Art 1 Abs 1 Z 9 bzw Art 5 AbkSozSi‑Bosnien (vgl auch 10 ObS 134/20h [Rz 26 f] zum AbkSozSi‑Türkei). Art 13 AbkSozSi‑Bosnien steht der sich aus Art 5 ergebenden Exportverpflichtung nicht entgegen (RS0131281). Diese Rechtsprechung ist in der Lehre nicht auf Kritik getroffen. Die Beklagte zeigt – bei unveränderter Rechtslage – keine Argumente auf, von ihr abzugehen.
[11] 2.1 Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt argumentiert erstmals in der Revision, dass sie nicht „zuständiger Träger“ im Sinn des Art 1 Abs 1 Z 4 AbkSozSi‑Bosnien sei. Denn das Rehabilitationsgeld sei eine Leistung der Krankenversicherung und die Pensionsversicherungsanstalt sei zur Gewährung von Geldleistungen aus der Krankenversicherung nicht zuständig.
2.2 Art 1 AbkSozSi‑Bosnien lautet auszugsweise:
„ Begriffsbestimmungen
(1) In diesem Abkommen bedeuten die Ausdrücke
1. …
3. 'Träger'
die Einrichtung oder die Behörde, der die Durchführung der in Artikel 2 Absatz 1 bezeichneten Rechtsvorschriften oder eines Teiles davon obliegt;
4. 'zuständiger Träger'
den Träger, bei dem eine Person im Zeitpunkt des Antrages auf Leistung versichert ist oder gegen den sie einen Anspruch auf Leistungen hat oder noch hätte, wenn sie sich im Gebiet des Vertragsstaates, in dem sie zuletzt versichert war, aufhalten würde; …“
[12] Gemäß Art 2 Abs 1 Z 1 AbkSozSi‑Bosnien (Sachlicher Geltungsbereich) bezieht sich dieses Abkommen auf die österreichischen Rechtsvorschriften ua über die Krankenversicherung (lit a) und die Pensionsversicherung mit Ausnahme der Sonderversicherung für das Notariat (lit c).
[13] 2.3 Internationale Abkommen wie das hier zu beurteilende AbkSozSi‑Bosnien gehören nach ihrer Transformation ins nationale Recht dem nationalen Rechtsbestand an. Sie sind nach völkerrechtlichen Regeln auszulegen. Gemäß Art 31, 32 WVK (Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge) kommt dem Wortlaut besonders große Bedeutung zu. Darüber hinaus ist die Bedeutung der Bestimmungen in völkerrechtlichen Verträgen nach ihrem Zusammenhang und im Lichte des Ziels und Zwecks der Regelung zu beurteilen (stRsp, zB EuGH C‑500/20 , ECLI:EU:C:2022:563, ÖBB‑Infrastruktur Aktiengesellschaft, Rn 56 mwH). Ergänzende Auslegungsmittel dürfen aber nicht zu einer Korrektur des durch die bloße Textauslegung gewonnenen Sinns führen (5 Ob 21/15x).
[14] 2.4 „Träger“ im Sinn des Abkommens sind alle Einrichtungen, die mit der konkreten Anwendung in den jeweiligen konkreten Einzelfällen betraut sind. „Zuständiger Träger“ ist jene Einrichtung, die für leistungsrechtliche Ansprüche in Frage kommt (Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [60. Lfg], Abk Allg Teil Rz 5). Der Pensionsversicherungsträger hat über das Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Rehabilitationsgeld aufgrund eines Antrags auf Zuerkennung einer Invaliditätspension (Berufsunfähigkeitspension) nach § 361 Abs 1 letzter Satz ASVG mit gesondertem Feststellungsbescheid zu entscheiden. Er entscheidet nicht nur über die Zuerkennung, sondern auch über die Entziehung des Rehabilitationsgeldes; lediglich über dessen Höhe hat der Krankenversicherungsträger zu entscheiden (Födermayr in SV‑Komm [249. Lfg] § 143a ASVG Rz 5 mwH). Schon nach dem Wortlaut des Art 1 Abs 1 Z 4 AbkSozSi‑Bosnien ist die beklagte Pensionsversicherungsanstalt daher der „zuständige Träger“, gegen den die Klägerin „einen Anspruch auf Leistungen hat oder noch hätte“, wenn sie sich noch in Österreich aufhielte. Nur diese Auslegung entspricht auch dem Ziel und Zweck der Regelung des Art 1 Abs 1 Z 4 AbkSozSi‑Bosnien: Außerhalb eines Verfahrensauf Zuerkennung einer Invaliditätspension oder Berufsunfähigkeitspension könnte die Klägerin gar keinen Anspruch auf Rehabilitationsgeld geltend machen. Da der Krankenversicherungsträger nicht zuständig zur Entscheidung über einen Anspruch auf Rehabilitationsgeld dem Grunde nach ist, gäbe es, träfe die Ansicht der Beklagten zu, gar keinen für den Anspruch der Klägerin „zuständigen Träger“.
[15] 3.1 Die Beklagte argumentiert – ebenfalls erstmals in der Revision –, dass Art 5 AbkSozSi‑Bosnien nicht anwendbar sei, weil dieser von der Spezialnorm des Art 12 AbkSozSi‑Bosnien verdrängt werde. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH, wonach das Rehabilitationsgeld nicht mehr zu exportieren sei. In diesem Zusammenhang sei die Parallelität des AbkSozSi‑Bosnien zum Unionsrecht zu beachten. Das Unionsrecht biete vor dem Hintergrund der im AEUV verbrieften Freizügigkeit ein Höchstmaß an Rechten. Wenn der Anspruch auf Rehabilitationsgeld daher sogar nach dem Unionsrecht nicht exportiert werden müsse, könne dies um so weniger im Anwendungsbereich des AbkSozSi‑Bosnien gelten, das nicht auf dem AEUV basiere.
3.2 Art 5 AbkSozSi‑Bosnien lautet auszugsweise:
„ Leistungstransfer
(1) Soweit dieses Abkommen nichts anderes bestimmt, dürfen Pensionen, Renten und andere Geldleistungen mit Ausnahme der Leistungen bei Arbeitslosigkeit, auf die nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates Anspruch besteht, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet des anderen Vertragsstaates wohnt.
(2) Absatz 1 bezieht sich nicht
a) auf die Ausgleichszulage nach den österreichischen Rechtsvorschriften; …“
[16] Bei dieser Exportregelung handelt es sich um einen Grundsatz der zwischenstaatlichen Sozialversicherung. Danach dürfen Geldleistungen, die vom sachlichen Geltungsbereich des Abkommens erfasst werden, nicht deswegen gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Leistungsberechtigte im Gebiet des anderen Vertragsstaates wohnt (Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [60. Lfg], Abk Allg Teil Rz 28).
3.3 Art 12 AbkSozSi‑Bosnien lautet:
„ Geldleistungen
(1) In den Fällen des Artikels 11 sind die Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zu gewähren.
(2) Hängt nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates die Höhe der Geldleistungen von der Zahl der Familienangehörigen ab, so berücksichtigt der zuständige Träger auch die Familienangehörigen, die im Gebiet des anderen Vertragsstaates wohnen.“
[17] Ergänzend regelt Art 8 Satz 1 der Vereinbarung zur Durchführung des AbkSozSi‑Bosnien, BGBl III 2001/230, dass Geldleistungen den Berechtigten vom zuständigen Träger direkt zu zahlen sind.
[18] 3.4 Die Anwendung der Regel, dass die speziellere Norm die generellere verdrängt, setzt voraus, dass sich die speziellere Norm grundsätzlich auf dieselben Sachverhalte bezieht wie die allgemeinere Bestimmung, aber noch zumindest ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal aufweist (Schauer in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.02 [Stand 1. 3. 2017, rdb.at] § 6 Rz 12, mH auf 4 Ob 301/73 SZ 46/11). Während Art 5 AbkSozSi‑Bosnien ganz allgemein auf Geldleistungen mit Ausnahme von Leistungen bei Arbeitslosigkeit anwendbar ist, ist Art 12 (nur) in den Fällen des Art 11 AbkSozSi‑Bosnien anwendbar. Art 11 AbkSozSi‑Bosnien regelt, unter welchen Voraussetzungen eine Person Anspruch auf Sachleistungen gegenüber dem Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts zu Lasten des zuständigen Trägers hat. Art 12 AbkSozSi‑Bosnien regelt daher – anders als Art 5 – nicht die Exportverpflichtung einer Geldleistung, sondern lediglich Geldleistungen (deren Höhe), die der zuständige Träger zu gewähren hat, wenn die anspruchsberechtigte Person im anderen Vertragsstaat eine Sachleistung vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts zu Lasten des zuständigen Trägers in Anspruch nimmt. Bereits nach dem maßgeblichen Wortlaut des Abkommens ist Art 12 AbkSozSi‑Bosnien daher nicht als Spezialnorm im Verhältnis zu Art 5 AbkSozSi‑Bosnien anzusehen. Eines weiteren Eingehens auf die von der Beklagten behauptete „Parallelität“ des Unionsrechts zum AbkSozSi‑Bosnien bedarf es aus diesen Gründen nicht.
[19] 4.1 Ebenfalls erstmals in der Revision macht die Beklagte geltend, dass die Rehabilitation im Staat des Wohnsitzes nicht administrierbar sei, weil dort keine Leistungen von medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation erfolgen könnten. Unter Berufung auf Spiegel (Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [60. Lfg], Abk Allg Teil Rz 69) führt die Beklagte aus, dass die nationalen Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt seien, wenn die Möglichkeit, Rehabilitationsleistungen zu erbringen bzw das Case Management zu administrieren, nicht bestehe. Dies trifft nicht zu:
[20] 4.2 Soweit die Beklagte mit diesen Ausführungen auf die tatsächliche Undurchführbarkeit eines Case Managements in solchen Fällen abzielt, verstößt sie damit gegen das im Revisionsverfahren in Sozialrechtssachen geltende Neuerungsverbot.
[21] 4.3 Die Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld regelt § 255b ASVG (bzw §§ 273b, 280b ASVG), § 143a Abs 1 ASVG verweist – auch im Zusammenhang mit der Entziehung von Rehabilitationsgeld – auf diese Bestimmungen. Weder die Möglichkeit, Rehabilitationsleistungen zu erbringen, noch jene, das Case Management zu administrieren, sind gesetzliche Voraussetzungen des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld. Der Gesetzgeber sanktioniert vielmehr die Verletzung von Mitwirkungspflichten der Versicherten an Rehabilitationsmaßnahmen durch die Androhung, dass das Rehabilitationsgeld in solchen Fällen ruht (§ 143a Abs 5 ASVG) oder entzogen wird (§ 99 Abs 1a ASVG, 10 ObS 40/20k SSV‑NF 34/44 ua).
[22] Der Revision war daher nicht Folge zu geben.
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