OGH 10ObS263/01a

OGH10ObS263/01a4.9.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Schenk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Stattmann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Stefan W*****, Installateur, *****, vertreten durch Philipp & Partner Rechsanwälte und Strafverteidiger OEG, Mattersburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. März 2001, GZ 8 Rs 53/01z-28, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. Dezember 2000, GZ 17 Cgs 415/99m-24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Der am 30. Jänner 1952 geborene Kläger genießt Berufsschutz als Gas-, Wasser- und Heizungsinstallateur. Diese Tätigkeit kann der Kläger nicht mehr verrichten, weil hiefür das fallweise Heben und Tragen von Lasten bis 25 kg erforderlich ist; der Kläger ist nur mehr in der Lage, Lasten bis 15 kg zu tragen und Lasten bis 25 kg zu heben.

Mit Bescheid vom 8. November 1999 hat die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension abgelehnt.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen, auf Gewährung der Invaliditätspension ab dem Stichtag 1. September 1999 gerichteten Klagebegehren statt. Es traf die Feststellung, dass es sich bei der Tätigkeit eines Fachmarktberaters in erster Linie um eine kaufmännische Tätigkeit handelt und Gas-, Wasser- und Heizungsinstallateure für eine solche Tätigkeit nicht nachgefragt werden. Darüber hinaus besteht auch kein ausreichender Arbeitsmarkt von zumindest 100 Arbeitsplätzen. In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht, dass der Kläger mangels Verweisbarkeit auf den einzig denkbaren Verweisungsberuf eines Fachmarktberaters alle Voraussetzungen für die Gewährung der Invaliditätspension erfülle.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil - ohne Beweiswiederholung oder -ergänzung - im klagsabweisenden Sinn ab. Die Frage der Verweisung stelle eine Rechtsfrage dar. Die Verweisung auf einen Baumarktberater sei eine quaestio mixta, bei der aber die rechtliche Komponente im Vordergrund stehe. Die neueste Rechtsprechung erachte die Verweisung auf einen Baumarktberater (Fachmarktberater, Fachmarktverkäufer) für zulässig. Dass es für "diese Berufssparte Arbeitsplätze in genügender Zahl am Arbeitsmarkt" gebe, sei augenscheinlich und bedürfe keiner weiteren Erörterung. Es würden immer mehr Baumärkte eröffnet und immer mehr diesbezügliche Arbeitsplätze geschaffen. Im Hinblick auf die im Vordergrund stehende fachkundige Beratung in einem zu einem Gewerbe gehörenden Umfeld trete die kaufmännische Komponente in den Hintergrund.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens vor dem Berufungsgericht und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache zurückzuverweisen. Hilfsweise wird ein Abänderungsantrag in Richtung einer Klagsstattgebung gestellt.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates, dass in vielen Fällen gelernte Handwerker auf den Beruf eines Fachmarktberaters/Fachmarktverkäufers in der jeweiligen Branche verwiesen werden können. So hat der Senat etwa die grundsätzliche Verweisbarkeit eines Tischlers auf Wohn- und Verkaufsberater in Einrichtungshäusern (SSV-NF 10/58; 10 ObS 76/98v; 10 ObS 258/98h), eines Maurers auf den Beruf eines Fachmarktberaters/Fachmarktverkäufers (SSV-NF 12/25; 10 ObS 158/00h), eines Malers und Anstreichers auf den Beruf eines Fachberaters in einem Baumarkt (10 ObS 90/00h), eines Karosseurs auf die Tätigkeit eines Kundendienstberaters (SSV-NF 8/84) oder einer Fotolaborantin auf die Tätigkeit einer Kundenberaterin in Fotofachgeschäften (10 ObS 417/98s), aber insbesondere auch die Verweisbarkeit eines Installateurs auf die Tätigkeit eines Fachberaters (Verkaufsberaters) für den Installationsbedarf in Groß- und Baumärkten (10 ObS 2339/96k; 10 ObS 369/97f) ausdrücklich bejaht. Begründet wurde diese Rechtsauffassung vor allem damit, dass die handwerkliche Ausbildung und die dabei erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten ein Anstellungs- und Ausübungskriterium des Verweisungsberufes bilden und diese qualifizierten Facharbeiter als Kunden- und Verkaufsberater in Groß- und Baumärkten auch tatsächlich Verwendung finden. Daher handelt es sich bei diesem Verweisungsberuf um eine qualifizierte Teiltätigkeit des jeweiligen Lehrberufes. Der Wechsel eines qualifizierten Facharbeiters in eine Angestelltentätigkeit führt zu keinem Verlust des Berufsschutzes, wenn eine entsprechende Nahebeziehung zum bisher ausgeübten Beruf besteht.

In dem der Entscheidung 10 ObS 369/97f zugrundeliegenden Verfahren wurde erhoben, dass in Österreich für die Verweisungstätigkeit eines Installateurs in Groß- und Baumärkten insgesamt weit mehr als 100 Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Im Aufhebungsbeschluss 10 ObS 332/00x wurde dem Gericht erster Instanz aufgetragen, die Zahl der auf dem österreichischen Arbeitsmarkt vorhandenen Arbeitsplätze in Groß- und Baumärkten, an denen der Einsatz von Installateuren als Fachberater in Frage kommt, zu erheben, da eine Tatsache dann, wenn sie nicht aufgrund einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen offenkundig ist, in jedem Verfahren von den Tatsacheninstanzen geprüft und neuerlich festgestellt werden muss, wobei Vorentscheidungen nur im Rahmen der Würdigung von Beweisen zum Tragen kommen können (SSV-NF 7/88 mwN ua).

Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht zwar festgestellt, dass in Österreich für die genannte Verweisungstätigkeit eines Installateurs in Groß- und Baumärkten nicht zumindest 100 Arbeitsplätze vorhanden seien. Das Berufungsgericht ist von dieser Tatsachenfeststellung mit der Begründung abgegangen, es sei notorisch ("augenscheinlich") und bedürfe daher keiner weiteren Erörterung, dass es für diese Berufssparte Arbeitsplätze in genügender Anzahl am Arbeitsmarkt gibt.

Bei diesen Ausführungen des Berufungsgerichtes handelt es sich um Tatsachenfeststellungen, welche vom Berufungsgericht unter Anwendung des § 269 ZPO getroffen wurden und deren Richtigkeit im Revisionsverfahren nicht überprüft werden kann (SSV-NF 6/105 ua; RIS-Justiz RS0040046, zuletzt etwa 10 ObS 346/00f). Tatsächlich ist dem Berufungsgericht zuzugestehen, dass augenscheinlich in Österreich weit mehr als 100 Baumärkte mit Sanitärabteilungen existieren und dass hier einschlägige Facharbeiter eingestellt werden, sodass die Notorietät der Feststellung, es seien zumindest 100 einschlägige Arbeitsplätze auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt vorhanden, naheliegt.

Dem Berufungsgericht steht es jedoch nicht zu, allein mit dem Hinweis auf Allgemeinkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das Erstgericht aufgrund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat (10 ObS 346/00f; 10 ObS 362/99d; 1 Ob 185/98g mwN ua). Da die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache bezweifelt werden kann und der Beweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen zulässig ist (Rechberger in Rechberger, ZPO2, § 269 Rz 4), muss das Berufungsgericht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs das von ihm beabsichtigte Abweichen von erstinstanzlichen Feststellungen mit den Parteien erörtern (SZ 55/116) und ihnen Gelegenheit geben, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten.

Eine solche Erörterung mit den Parteien hat das Berufungsgericht zu Unrecht unterlassen, weshalb sein Verfahren mangelhaft geblieben ist. Infolge dieses Mangels nach § 503 Z 2 ZPO ist der Revision Folge zu geben und die Entscheidung des Berufungsgerichtes aufzuheben.

Im fortgesetzten Verfahren hat das Gericht zweiter Instanz mit den Parteien die angesprochen Erörterung vorzunehmen, bevor es mit dem Hinweis auf Notorietät von den erstinstanzlichen Tatsachenfeststellungen abweicht.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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