OGH 10ObS19/23a

OGH10ObS19/23a28.9.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei I*, vertreten durch Mag. Larissa Kaminski, Rechtsanwältin in Hollabrunn, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Waisenpension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 25. Oktober 2022, GZ 8 Rs 81/22 y‑16, mit dem das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 9. Mai 2022, GZ 15 Cgs 26/22v‑11 abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00019.23A.0928.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil mit der Maßgabe wiederhergestellt wird, dass es zu lauten hat:

„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger ab 14. Februar 2022 eine Waisenpension nach seinem am 21. September 2018 verstorbenen Vater R* im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, besteht dem Grunde nach zu Recht.

2. Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger vom 14. Februar 2022 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids eine vorläufige Zahlung von 50 EUR monatlich zu erbringen, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteils fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren jeweils am Ersten eines Monats im Nachhinein.“

 

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des 1989 geborenen Klägers auf eine Waisenpension nach seinem am 21. September 2018 verstorbenen Vater.

[2] Beim Kläger, bei dem es ab dem 16. Lebensjahr erstmals zum Auftreten von Symptomen gekommen ist, liegt die Grunderkrankung einer paranoiden Schizophrenie vor. Anfangs bestanden akustische Halluzinationen; im weiteren Verlauf kamen visuelle Halluzinationen und die Entwicklung eines Wahnsystems hinzu. Eine medikamentöse Behandlung fand mit Unterbrechungen statt. Auch unter kontrollierten Bedingungen konnte jedoch keine Symptomfreiheit erzielt werden.

[3] Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 21. Februar 2019 (künftig kurz: Einweisungsentscheidung) wurde der Kläger in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB eingewiesen. Dem lag zugrunde, dass er am 21. September 2018 seinen Vater unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (paranoide Schizophrenie; psychische Verhaltensstörung durch Cannabinoide) vorsätzlich getötet und damit eine Tat begangen hat, die als Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist. Seit 21. Februar 2019 befindet sich der Kläger im Maßnahmenvollzug.

[4] Mit Bescheid vom 24. Februar 2022 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 14. Februar 2022, ihm die Waisenpension nach seinem Vater zu gewähren, wegen Verwirkung des Leistungsanspruchs ab.

[5] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung der begehrten Waisenpension. Er verwies darauf, dass Leistungsansprüche nach § 89 (Abs 1 Z 1) ASVG nur dann ruhen würden, wenn der Anspruchsberechtigte eine Freiheitsstrafe verbüße oder in den Fällen des §§ 21 Abs 2, 22 und 23 StGB angehalten werde. Personen, die sich im Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs 1 StGB befänden, seien davon hingegen (bewusst) ausgenommen. Analog dazu könne der Anspruch auf eine Leistung durch eine im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangene Tat auch nicht verwirkt werden.

[6] Die Beklagte hielt dem entgegen, dass der Kläger wegen Begehung einer mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedrohten Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden sei. Dass dabei keine Strafe verhängt, sondern die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs 1 StGB angeordnet worden sei, ändere nichts am Vorliegen aller Voraussetzungen für eine Verwirkung nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG.

[7] Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 14. Februar 2022 eine Waisenpension in gesetzlicher Höhe zu zahlen. So wie die Erbunwürdigkeit nach § 539 ABGB (früher § 540 ABGB) setze auch die Verwirkung nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG eine vorsätzlich begangene gerichtlich strafbare Handlung voraus. Zu § 539 ABGB habe der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass die fehlende Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt dazu führe, dass eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung im konkreten Fall nicht vorwerfbar sei und daher die Rechtsfolge des § 539 ABGB nicht auslöse. Dies gelte auch im Kontext des § 88 ASVG, sodass es im Anlassfall nicht zu einer Verwirkung gekommen sei.

[8] Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Der Wortlaut des § 88 Abs 1 Z 2 erster Halbsatz ASVG stelle bloß auf die Verübung einer mit Vorsatz begangenen gerichtlich strafbaren Handlung ab. Dass sie auch schuldhaft begangen worden sein müsse, fordere die Bestimmung hingegen nicht. Da die Schuldfähigkeit nach der Rechtsprechung keine Voraussetzung für die Bildung eines Vorsatzes sei, könnten unter anderem auch Geisteskranke oder Unmündige einen entsprechenden Willen bilden und vorsätzlich handeln. Vor diesem Hintergrund komme dem Kläger aufgrund seiner fehlenden Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt zwar ein Schuldausschließungsgrund zugute. Das ändere aber nichts daran, dass er seinen Vater vorsätzlich getötet habe, was auch in der Einweisungsentscheidung (bindend) ausgesprochen worden sei. Das erste Tatbestandselement des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG sei daher erfüllt. Das zweite Tatbestandselement, nämlich die Verurteilung zu einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe, sei zwar nicht erfüllt. Das wirke sich aber nicht aus, weil dieses Erfordernis nach § 88 Abs 3 ASVG entfalle, wenn ein Strafurteil wegen Todes, Abwesenheit oder eines anderen in der betreffenden Person liegenden Grundes nicht gefällt werden könne. Da die Tatbegehung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit als ein derartiger anderer Grund anzusehen sei, sei der Anspruch des Klägers nach § 88 Abs 1 Z 2 iVm Abs 3 ASVG verwirkt. Der Verweis auf § 89 ASVG und § 539 ABGB sei nicht stichhältig.

[9] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil der Oberste Gerichtshof zur Frage, ob eine Verwirkung nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG ausscheide, wenn es wegen der Zurechnungsunfähigkeit des Täters nicht zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe komme, noch nicht Stellung genommen habe.

[10] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit der er (erkennbar) die Wiederherstellung des Ersturteils anstrebt.

[11] Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist auch berechtigt.

[13] 1. Vorauszuschicken ist, dass das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen des § 260 ASVG nicht strittig ist. Zu prüfen ist daher nur, ob der Leistungsanspruch infolge der Tat des Klägers verwirkt ist.

[14] 2. Nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG steht ein Anspruch auf Geldleistungen aus dem betreffenden Versicherungsfall Personen nicht zu, die den Versicherungsfall durch die Verübung einer mit Vorsatz begangenen gerichtlich strafbaren Handlung veranlasst haben, derentwegen sie zu einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden sind. Das Erfordernis eines rechtskräftigen Strafurteils entfällt, wenn ein solches wegen des Todes, der Abwesenheit oder eines anderen in der betreffenden Person liegenden Grundes nicht gefällt werden kann (§ 88 Abs 3 ASVG).

[15] 3. Dem Berufungsgericht ist beizupflichten, dass die Schuldfähigkeit keine Voraussetzung für die Bildung eines Vorsatzes im Sinn des § 5 StGB ist (RIS‑Justiz RS0090295 [T1, T2]; RS0088967; Reindl‑Krauskopf in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 5 Rz 4 ua). Durch die Zurechnungsunfähigkeit wird zwar die Schuldfähigkeit, nicht aber ein vorsätzliches Handeln ausgeschlossen, sodass auch ein Schuldunfähiger vorsätzlich handeln kann (RS0088967; Stricker in Leukauf/Steininger, StGB4 § 5 Rz 30 ua). Das Berufungsgericht weist in diesem Kontext auch zu Recht darauf hin, dass die Anordnung der Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs l StGB die Begehung einer „mit Strafe bedrohten Handlung“ (als Anlasstat) voraussetzt, die nur dann gegeben ist, wenn sowohl der objektive als auch der subjektive Tatbestand des Delikts erfüllt ist (RS0119623; Ratz in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 21 Rz 14).

[16] 4. Daraus sowie dem Umstand, dass in § 88 Abs 1 Z 2 ASVG ein schuldhaftes Handeln (§ 4 StGB) nicht genannt wird, lässt sich aber nicht ableiten, dass die Verwirkung eines Anspruchs davon unabhängig ist und daher auch bei nicht schuldfähigen (zurechnungsunfähigen) Personen in Betracht kommt.

[17] 4.1. Der seit seiner Einführung mit der 31. ASVG‑Novelle BGBl 1974/775 unverändert gebliebene § 88 Abs 1 Z 2 ASVG steht historisch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einführung des StGB am 1. Jänner 1975. So führen die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1286 BlgNR 13. GP  14) aus:

„Durch die vorgeschlagenen Änderungen sollen die angeführten Bestimmungen [Anm: unter anderem § 88 ASVG] in Form der Spezialanpassung an die Terminologie des am 1. Jänner 1975 in Kraft tretenden Strafgesetzbuches, BGBl. Nr. 60/1974, angeglichen werden. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Regierungsvorlage eines Strafrechtsanpassungsgesetzes (850 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, XIII. GP.), inzwischen verlautbart unter BGBl. Nr. 422/1974, hingewiesen.

So wird im § 88 Abs 1 und 2 der Ausdruck 'Verbrechen' durch entsprechende Formulierungen [Anm: mit Vorsatz begangene gerichtlich strafbare Handlung] ersetzt. […] Im § 89 Abs. 1 Z 1 soll der Hinweis auf die Anhaltung in einem Arbeitshaus entfallen, weil nach dem StGB die Einweisung in ein Arbeitshaus nicht mehr vorgesehen ist. Dafür wird auf die durch das Strafgesetzbuch neu eingeführte Anhaltung in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher, für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher und für gefährliche Rückfallstäter Bedacht genommen.“

[18] 4.2. Abgesehen davon, dass der Gesetzgeber den Begriff „strafbare Handlung“ daher ausdrücklich im Sinne des Strafrechts verstanden wissen wollte, folgt das auch aus systematischen Erwägungen, weil es widersprüchlich wäre, wenn das Gesetze zwar strafrechtliche Begriffe verwenden, damit jedoch anderes meinen würde (2 Ob 100/19y [ErwGr 4.2.]). Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der (mit Vorsatz begangenen gerichtlich) strafbaren Handlung richtet sich daher nach dem StGB. Dieses unterscheidet klar zwischen dem Begriff der „strafbaren Handlung“ und jenem der „mit Strafe bedrohten Handlung“.

[19] 4.3. Unter einer „strafbaren Handlung“ ist ein tatbestandsmäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten zu verstehen, das auch allfälligen zusätzlichen Voraussetzungen für die Strafbarkeit genügt (RS0090571 [T2]; RS0119223; 1 Ob 116/17s; Ratz in Höpfel/Ratz, WK2 StGB Vorbemerkungen zu §§ 28–31 Rz 1 ua). Zu diesen zusätzlichen Voraussetzungen gehört insbesondere das Fehlen von Strafausschließungsgründen im weiteren Sinn (17 Os 3/18x = SSt 2018/34).

[20] 4.4. Eine „mit Strafe bedrohte Handlung“ meint demgegenüber eine Tat, die einige wesentliche aber nicht alle Voraussetzungen einer Straftat erfüllt (7 Ob 11/17v; Höpfel in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 1 Rz 15; so auch die ErläutRV zum StGB 30 BlgNR 13. GP  104 f). So setzt eine mit Strafe bedrohte Handlung zwar voraus, dass sowohl der objektive als auch der subjektive Tatbestand des Delikts erfüllt sind (RS0119623; RS0120218). Ein deliktisches Verhalten im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit ist aber „bloß“ eine „mit Strafe bedrohte“, nicht aber eine konkret auch strafbare Handlung (RS0132557;Ratz in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 54 Rz 8; Zöchbauer/Bauer in Leukauf/Steininger, StGB4 § 299 Rz 4 ua). Das entspricht auch dem Willen des historischen Gesetzgebers, wonach nicht bestraft werden kann, wer eine „mit Strafe bedrohte Handlung in Zurechnungsunfähigkeit begangen hat“ (ErläutRV [zum StGB] 30 BlgNR 13. GP  98).

[21] 4.5. Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze trifft daher nicht zu, dass für ein Verwirken nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG nur ein vorsätzliches, aber kein schuldhaftes Verhalten erforderlich ist. Ein solches wird zwar nicht ausdrücklich genannt, ist durch das Abstellen auf eine „strafbare Handlung“ jedoch sehr wohl ein (unausgesprochenes) Tatbestandselement, das zusätzlich zum Vorsatz vorliegen muss. Das Erfordernis des Vorsatzes dient entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts daher nur dazu, die an die Tat – und nicht an den Täter – gestellten Anforderungen festzulegen, indem bloße Fahrlässigkeitsdelikte von der Verwirkung ausgenommen werden (vgl 10 ObS 135/90 SSV‑NF 4/66). Eine wenn auch vorsätzlich verübte Tat im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit erfüllt daher nicht die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG.

[22] 5. Dieses Ergebnis wird sowohl durch die vom Kläger ins Treffen geführte Bestimmung des § 89 ASVG als auch die vom Erstgericht herangezogene Rechtsprechung zu § 540 ABGB gestützt.

[23] 5.1. Zwar kann aus der Nichterwähnung des § 21 Abs 1 StGB in § 89 Abs 1 Z 1 ASVG kein direkter Schluss auf die Verwirkung gezogen werden, weil das Gesetz an eine Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB nicht keine, sondern aufgrund der Besonderheiten dieser Form der Unterbringung mit § 324 Abs 3 und 4 ASVG nur andere Konsequenzen knüpft (10 ObS 90/19m; 10 ObS 150/17g SSV‑NF 32/6; 10 ObS 96/13k SSV‑NF 27/56). Die hier relevante, ebenfalls auf die 31. ASVG‑Novelle zurückgehende Passage des § 89 Abs 1 Z 1 ASVG bestätigt aber, dass der Gesetzgeber bewusst zwischen zurechnungsunfähigen Personen (§ 21 Abs 1 StGB) und zurechnungsfähigen Personen (§§ 21 Abs 2, 22, 23 StGB) differenziert und sie auch unterschiedlich behandelt.

[24] 5.2. Es ist auch der Ansicht des Erstgerichts zuzustimmen, dass die Auslegung des § 539 ABGB idF des ErbRÄG 2015 (BGBl I 2015/87) auf einer vergleichbaren Ausgangslage beruht wie die des § 89 Abs 1 Z 2 ASVG. Denn auch die Bezugnahme auf eine vorsätzlich begangene „gerichtlich strafbare Handlung“ in der Vorgängerbestimmung des § 540 ABGB idF des BGBl 1974/496 erfolgte zur Anpassung an die Begriffe bzw Begriffsinhalte des (damals neuen) StGB (Bericht des Justizausschusses 1240 BlgNR 13. GP  1). Darauf aufbauend nimmt die Rechtsprechung bei Begehung einer Tat im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit keine Erbunwürdigkeit an, weil tatbestandsmäßiges Handeln bei fehlender Schuld keine „strafbare Handlung“ darstellt(2 Ob 100/19y [§ 539 ABGB]; 6 Ob 636/93 [§ 540 ABGB aF]).

[25] 6. Die Ansicht des Berufungsgerichts kann auch nicht auf § 88 Abs 3 ASVG gestützt werden.

[26] Ein „Strafurteil“ liegt zwar nur dann vor, wenn es einen Strafausspruch enthält, darin also auf eine (Geld‑ oder Freiheits‑)Strafe erkannt wird (RS0091689 [T1]; vgl § 429 Abs 5 StPO idF vor dem Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz BGBl I 2022/223, nunmehr § 433 Abs 5 StPO). Dementsprechend ist die Anordnung der Unterbringung in einer Anstalt nach § 21 Abs 1 StGB kein Strafurteil, sondern einem Strafurteil nur gleichzuhalten (11 Os 131/17z mwN). Dennoch kann die Zurechnungsunfähigkeit nicht als in der betreffenden Person liegender Grund gewertet werden, der die Fällung eines Strafurteils verhindert. Den in § 88 Abs 3 ASVG (explizit) angeführten Gründen (Tod; Abwesenheit) ist nämlich gemein, dass sie keine rechtlichen, sondern tatsächliche Gründe sind, die einer Hauptverhandlung und damit auch einem Strafurteil rein faktisch entgegenstehen. Um sich in den demonstrativen Katalog des § 88 Abs 3 ASVG systemkonform einzufügen, muss das auch auf die „anderen in der Person des Betroffenen liegenden“ Gründe zutreffen. Es kommen also nur damit vergleichbare Gründe – wie etwa Verhandlungsunfähigkeit – in Betracht, nicht aber solche Gründe, die bereits den Schuld- oder Tatvorwurf an sich beseitigen (so im Ergebnis auch Auer‑Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 391 f). Das entspricht auch der Gesetzessystematik und dem offenkundigen Zweck des § 88 Abs 3 ASVG, die Verwirkung auch in den (Ausnahme‑)Fällen Platz greifen zu lassen, in denen zwar eine mit Vorsatz begangene gerichtlich strafbare Handlung vorliegt, ein Strafurteil aber (faktisch) nicht ergehen kann. Das Erfordernis der „strafbaren Handlung“ soll damit hingegen nicht eingeschränkt werden.

[27] 7. Zusammenfassend erfüllt eine im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangene Tat nicht die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG und führt daher auch nicht zu einer Verwirkung von Ansprüchen. Der Gesetzgeber hat sich bewusst dazu entschieden, an subjektiv nicht vorwerfbare Handlungen (auch) keine sozialrechtlichen Sanktionen zu knüpfen und nimmt dabei selbst gravierende Fälle wie den vorliegenden in Kauf. Das mag auf den ersten Blick überraschen, stellt letztlich aber eine konsequente Anwendung des (einfachgesetzlich) in § 4 StGB verankerten Schuldprinzips dar.

[28] 8. Der Revision ist daher Folge zu geben und im Ergebnis das klagestattgebende Ersturteil wiederherzustellen. Die unrichtigerweise anders formulierte, aber als Grundurteil zu deutende Entscheidung (vgl RS0115846; Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 89 ASGG Rz 7) war dabei entsprechend den Vorgaben des § 89 Abs 2 ASGG neu zu fassen.

[29] Klarzustellen ist dazu nur, dass auf die Legalzession nach § 324 Abs 4 ASVG nicht einzugehen ist. Zwar betrifft die Frage der Aktivlegitimation in der Regel den Grund des Anspruchs (RS0122730; Deixler‑Hübner in Fasching/Konecny 3 § 393 ZPO Rz 6). Nach der jüngeren Rechtsprechung bleibt die Beurteilung, ob nach einer Legalzession noch ein restlicher Anspruch(‑steil) beim Kläger verblieben ist, aber dem Verfahren über die Anspruchshöhe vorbehalten (RS0040902 [T1]; 2 Ob 157/09s ua). In welchem, allenfalls über das Mindestmaß (von 20 %) hinausgehenden Umfang der Anspruch weiterhin dem Kläger gebührt, hängt hier davon ab, welche Kosten für die Anstaltsunterbringung aufgewandt werden (§ 324 Abs 3 ASVG). Das kann erst im Zuge der Feststellung der Anspruchshöhe beantwortet werden (vgl 2 Ob 268/06k).

[30] Kosten wurden in allen drei Instanzen nicht verzeichnet.

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