OGH 10ObS132/21s

OGH10ObS132/21s13.9.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Mag. Doris Einwallner, Rechtsanwältin in Wien, gegen diebeklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Waisenpension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 28. Juni 2021, GZ 10 Rs 41/21 d‑46, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132963

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Mutter der 1984 geborenen Klägerin verstarb am 13. 10. 2002, der Vater am 12. 1. 2017. Aufgrund einer geistigen Behinderung verfügt die Klägerin jedenfalls seit 13. 10. 2002 nicht über die notwendige Reife und Entscheidungsfähigkeit zur Beantragung einer Hinterbliebenenpension.

[2] Am 19. 10. 2018 wurde für die Klägerin ein einstweiliger gerichtlicher Erwachsenenvertreter ua für die Vertretung gegenüber Behörden, Ämtern und Sozialversicherungsträgern bestellt. Am 23. 1. 2019 beantragte die Klägerin, vertreten durch ihren Erwachsenenvertreter, erstmals die Gewährung einer Waisenpension nach ihren verstorbenen Eltern.

[3] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Klägerin die Waisenpension erst ab dem Zeitpunkt der Antragstellung gebührt (Standpunkt der Beklagten) oder bereits ab dem dem Eintritt der Versicherungsfälle (den Todestagen ihrer Eltern) jeweils folgenden Tag (Standpunkt der Klägerin).

[4] Mit Bescheiden vom 28. 8. 2019, 9. 10. 2019und 17. 10. 2019 anerkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Anspruch der Klägerin auf Waisenpension nach der verstorbenen Mutter ab 1. 2. 2019 (ab 25. 1. 2019 als Doppelwaisenpension) und ab 25. 1. 2019 nach dem verstorbenen Vater.

[5] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren auf Gewährung einer Waisenpension im gesetzlichen Ausmaß nach der verstorbenen Mutter ab 14. 10. 2002 (ab 13. 1. 2017 als Doppelwaisenpension) und nach dem verstorbenen Vater ab 13. 1. 2017 statt.

[6] Das Berufungsgericht änderte infolge Berufung der Beklagten diese Entscheidung dahin ab, dass das Klagebegehren abgewiesen wurde. Die Revision wurde nicht zugelassen.

[7] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

[8] 1. Hinterbliebenenpensionen (Waisen‑ und Witwen‑/Witwerpensionen) fallen grundsätzlich mit dem dem Todestag folgenden Tag an, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach dem Todestag gestellt wird, bei späterer Antragstellung mit dem Tag der Antragstellung (§ 86 Abs 3 Z 1 1. Satz ASVG). Damit soll vermieden werden, dass die Versicherungsträger und die Versichertengemeinschaft mit hohen Pensionsnachzahlungen für Zeiträume belastet werden, für die erst nachträglich ein Leistungsantrag gestellt wird (10 ObS 73/20p [Rz 20] mwN).

[9] 2. Um Härtefälle bei verspäteter Antragstellung zu entschärfen und den Schutz Minderjähriger zu stärken wurde im SRÄG 1993, BGBl I 1993/335, vorgesehen, dass die Waisenpension bei einer nicht fristgerechten Antragstellung bereits mit dem Eintritt des dem Versicherungsfall folgenden Tags anfällt, sofern der Antrag längstens bis zum Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt der Volljährigkeit der Waise gestellt wird (§ 86 Abs 3 Z 1 Satz 2 ASVG). Für aufgrund einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung geschäftsunfähige (volljährige) Personen wurde keine vergleichbare Ausnahmeregelung geschaffen, sodass für diesen Personenkreis eine Waisenpension weiterhin nur dann mit dem Todestag anfiel, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach dem Todestag gestellt wurde.

[10] 3.1 Mit Erkenntnis vom 4. 12. 2017, G 125/2017, VfSlg 20.224, hob der Verfassungsgerichtshof in § 86 Abs 3 Z 1 idF BGBl I 2015/2 im ersten Satz die Wortfolge „wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalls gestellt wird“ sowie den zweiten bis sechsten Satz ersatzlos als verfassungswidrig auf. Die Gleichheitswidrigkeit liege darin, dass sich eine aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung geschäfts‑ oder prozessunfähige (volljährige) Person in einer mit einer minderjährigen Person rechtlich vergleichbaren Lage befinde, weshalb kein sachlicher Grund dafür zu erkennen sei, dass der Gesetzgeber zwar weitreichende Schutzvorschriften für Minderjährige vorsieht, nicht aber für den genannten Personenkreis.

[11] 3.2 Die Aufhebung trat mit Ablauf des 30. 6. 2018 in Kraft, frühere gesetzliche Bestimmungen traten nicht in Kraft. Ohne Tätigwerden des Gesetzgebers hätte diese Aufhebung im Ergebnis bedeutet, dass ab 1. 7. 2018 alle Hinterbliebenenpensionen unabhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung mit der dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Tag anfallen (Weißensteiner, Anmerkung zu VfGH G 125/2017, DRdA‑infas 2018/61, 108).

[12] 4.1 Der Gesetzgeber reagierte mit der Novellierung des § 86 ASVG im Erwachsenenschutz‑Anpassungsgesetz für den Bereich des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (ErwSchAG BMASGK, BGBl I 2018/59) dahin, dass die Fristverlängerung nicht nur für Minderjährige, sondern auch für eingeschränkt geschäftsfähige Erwachsene gilt. Ist die anspruchsberechtigte Person bei Ablauf der Frist von sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalls minderjährig oder in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt, so endet die Frist zur Antragstellung mit Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt der Volljährigkeit oder dem Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit.

[13] 4.2 Die neue Regelung trat mit Ablauf des Tages der Kundmachung im Bundesgesetzblatt, also mit 15. 8. 2018 in Kraft. Eine Übergangsbestimmung oder Rückwirkungsanordnung findet sich im Gesetz nicht. Die neue Bestimmung kommt daher erst für Fälle in Betracht, in denen der Versicherungsfall ab dem 15. 8. 2018 eingetreten ist (vgl 10 ObS 73/20p [Rz 31] und Atria in Sonntag, ASVG12 §§ 85, 86 Rz 70).

[14] 5. Von dieser Rechtslage und der bisher dazu ergangenen Rechtsprechung weicht die Ansicht des Berufungsgerichts, die Neuregelung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG durch das ErwSchAG BMASGK BGBl I 2018/59 wirke nur in die Zukunft und stelle daher keine Rechtsgrundlage für den von der Klägerin rückwirkend geltend gemachten Anspruch auf Waisenpension dar, nicht ab. Diese Ansicht entspricht dem auch im Sozialversicherungsrecht geltenden Grundsatz, dass nur nach dem Inkrafttreten eines Gesetzes verwirklichte Sachverhalte nach dem neuen Gesetz zu beurteilen sind, außer es wäre eine Rückwirkung angeordnet (RS0008706).

[15] 5.1 Nach Art 140 Abs 7 Satz 2 B‑VG sind Gerichte und Verwaltungsbehörden verpflichtet, ein vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenes Gesetz weiterhin auf Tatbestände anzuwenden, die sich vor dem Außerkrafttreten des aufgehobenen Gesetzes konkretisiert haben (VfGH B 168/85, VfSlg 10.616/1985). Auf vor der Aufhebung verwirklichte Tatbestände ist das Gesetz (mit Ausnahme des Anlassfalls) somit weiterhin anzuwenden, sofern der VfGH nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausgesprochen hat (RS0053996; RS0054186; Muzak, B‑VG6 Art 140 Rz 21, 24 mwN).

[16] 5.2 Bei Leistungen aus dem Versicherungsfall des Todes gilt der Versicherungsfall als mit dem Tod des verstorbenen Versicherten eingetreten (§ 223 Abs 1 Z 3 ASVG) im vorliegenden Fall somit mit dem Tod der Mutter der Klägerin am 13. 10. 2002 und dem Tod des Vaters am 12. 1. 2017. Die Antragstellung ist lediglich für den Anfall der Leistung von Bedeutung (10 ObS 5/90 SSV‑NF 4/21 mwN). Sie kann nach ständiger Rechtsprechung nicht zur Entstehung eines nicht mehr bestehenden (durch Zeitablauf erloschenen) Anspruchs auf Leistung der Waisenpension führen (10 ObS 73/20p Rz 21 mwN).

[17] 6. Wenn das Berufungsgericht aus der dargestellten Rechtslage abgeleitet hat, dass die vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenen Teile des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF BGBl I 2015/2 weiterhin auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden sind, weil sich der zu beurteilende Sachverhalt (Eintritt des Versicherungsfalls) bereits vor dem Außerkrafttreten der aufgehobenen Bestimmung konkretisiert hat, entspricht dies der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs.

[18] 7. Ist ein vom VfGH aufgehobenes Gesetz weiterhin anzuwenden, ist eine neuerliche Überprüfung dieses Gesetzes durch den Verfassungsgerichtshof ausgeschlossen (RS0053996 [T2]).

[19] 8. Eine verfassungskonforme Auslegung mit dem von der Revisionswerberin gewünschten Ergebnis, dass (doch) die (neue) Rechtslage des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF BGBl I 2018/59 zur Anwendung gelange, kommt nicht in Betracht. Auch die verfassungskonforme Auslegung muss ihre Grundlage im Gesetz haben. Das verfassungskonforme Ergebnis muss im Rahmen des mit Hilfe der Auslegungsgrundsätze der §§ 6 und 7 ABGB erschließbaren Normsinns liegen (RS0008798). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht gegeben, weil der Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF BGBl I 2018/59 eindeutig mit 15. 8. 2018 festgelegt ist. Im Hinblick auf diese eindeutige Anordnung des Gesetzgebers stellt das Fehlen einer Rückwirkungsanordnung auch keine Regelungslücke dar, die durch Analogie zu schließen wäre.

[20] 9. Da die Revisionswerberin mit ihren Ausführungen keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt, ist ihre außerordentliche Revision zurückzuweisen.

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