European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00107.23T.1121.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts mit der Maßgabe wiederhergestellt wird, dass es zu lauten hat:
„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. 9. 2022 Pflegegeld der Stufe 2 in Höhe von 305 EUR monatlich bis 31. 12. 2022 unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von monatlich 60 EUR, und von 322,70 EUR monatlich ab 1. 1. 2023 zu bezahlen, und zwar die bisher fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen und die künftig fällig werdenden Beträge jeweils am Ersten des Folgemonats im Nachhinein.
2. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. 9. 2022 ein über die Stufe 2 hinausgehendes Pflegegeld zu zahlen, wird abgewiesen.
3. Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen.“
Die klagende Partei hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die 2019 geborene Klägerin leidet an einer allgemeinen Entwicklungsretardation (autistische Verhaltensstörung mit Sprachentwicklungsstörung) und einer Epilepsie. Unstrittig hat die Klägerin gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind einen behinderungsbedingten Pflegemehrbedarf von monatlich 113 Stunden, darin enthalten ein Erschwerniszuschlag von 50 Stunden pro Monat.
[2] Strittig ist die Berücksichtigung eines weiteren Zeitaufwands für die Beobachtung und Protokollierung der epileptischen Anfälle der Klägerin als Pflegebedarf. Dazu steht fest, dass es aufgrund dieser Anfälle und der bisher instabilen Therapieeffekte medizinisch geboten ist, eine außergewöhnliche Anfallsbeobachtung vorzunehmen. Bei der Klägerin treten durchschnittlich zweimal täglich in der Dauer von jeweils zehn Minuten Bewusstseinsstörungen in Verbindung mit Zuckungen im Gesicht auf. In der Nacht leidet sie gelegentlich unter Anfällen in der Dauer von jeweils zehn Minuten, die mit Zuckungen an den oberen und unteren Extremitäten und mit Einnässen einhergehen. Anfallsbeobachtung bedeutet eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber der Klägerin, um das Auftreten der Anfälle wahrzunehmen. Das Auftreten und der konkrete Verlauf der Anfälle müssen protokolliert werden. Bei dieser Erkrankung ist zu erwarten, dass Anfälle in unterschiedlicher Form auftreten können bzw dass im Verlauf der Anfälle eine Entwicklung stattfindet. Die Protokolle sind dann dem behandelnden Arzt vorzuweisen, damit dieser die weitere Therapie an den konkreten Verlauf und an die konkrete Entwicklung der Anfälle anpassen kann. Der monatliche Zeitaufwand für die Anfallsbeobachtung und die Anfallsprotokollierung beträgt zehn Stunden. Eine Besserung ist möglich.
[3] Mit Bescheid vom 23. 9. 2022 anerkannte die Beklagte den Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld ab 1. 9. 2022 in Höhe der Stufe 2 und unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von 60 EUR.
[4] Das Erstgericht wies das Begehren der Klägerin auf Zuerkennung eines Pflegegeldes in höherem Ausmaß als Stufe 2 ab 1. 9. 2022– ohne Bescheidwiederholung – ab. Die erforderliche Beobachtung der Anfälle der Klägerin sei am ehesten eine therapeutische Maßnahme und daher nicht als Pflegebedarf anzuerkennen.
[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und erkannte ihr ab 1. 9. 2022 Pflegegeld der Stufe 3 monatlich zu. Die Anfallsbeobachtung könne weder im Rahmen einer Therapie noch einer ärztlichen Behandlung erfolgen, dabei handle es sich um eine Pflegemaßnahme. Auch die Einstufungsverordnung zum BPGG sehe „Überschneidungen“ von Pflege‑ und ärztlichen Maßnahmen vor, wie etwa das Herbeischaffen und die Einnahme von Medikamenten oder die Berücksichtigung von Wegen zum Arzt oder zur Therapie im Rahmen der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Die Anfallsbeobachtung diene der Stabilisierung des Gesundheitszustands der Klägerin. Werde sie nicht durchgeführt, hätte dies denselben Effekt, als begleitete man die Klägerin nicht zum Arzt oder zur Therapie. Der Pflegebedarf der Klägerin betrage daher 123 Stunden im Monat und erfülle die Voraussetzungen für die Pflegestufe 3. Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage der Beobachtung und Dokumentation epileptischer Anfälle bei Kindern als Pflegebedarf fehle.
[6] Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Klägerin beantwortete Revision der Beklagten, mit der sie Abweisung der Klage anstrebt.
[7] Die Revision ist zulässig und berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die Revisionswerberin macht geltend, dass das Beobachten und Protokollieren von epileptischen Anfällen weder Hilfe noch Betreuung im Sinn des BPGG und der EinstV seien. Dabei handle es sich lediglich um eine Vorbereitungshandlung zur Gestaltung der ärztlichen Therapie.
[9] 1.1 Das Pflegegeld gebührt gemäß § 4 Abs 1 BPGG bei Zutreffen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen, wenn aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung der ständige Betreuungs‑ und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird oder würde.
[10] 1.2 Gemäß § 4 Abs 3 BPGG ist bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht. Hiebei ist auf die besondere Intensität der Pflege bei schwerst behinderten Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 7. bzw bis zum vollendeten 15. Lebensjahr Bedacht zu nehmen. Um den erweiterten Pflegebedarf schwerst behinderter Kinder und Jugendlicher zu erfassen, ist abgestimmt nach dem Lebensalter jeweils zusätzlich ein Pauschalwert hinzuzurechnen, der den Mehraufwand für die pflegeerschwerenden Faktoren der gesamten Pflegesituation pauschal abzugelten hat (Erschwerniszuschlag).
[11] 2.1 Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass das Beobachten und Protokollieren von epileptischen Anfällen weder eine medizinische noch eine therapeutische Maßnahme ist, wird von den Parteien im Revisionsverfahren nicht in Frage gestellt. Daraus folgt aber entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts und der Klägerin in der Revisionsbeantwortung nicht, dass es sich dabei um eine Hilfs‑ oder Betreuungsverrichtung im Sinn des BPGG iVm der Kinder‑EinstV handelt.
[12] 2.2 Was unter Pflegebedarf beziehungsweise Betreuung und Hilfe zu verstehen ist, wird zwar nicht im Gesetz, wohl aber in den Einstufungsverordnungen definiert. Es muss sich hierbei um zumindest im weiteren Sinn lebenswichtige Verrichtungen nichtmedizinischer Art handeln (RS0106398). § 4 Abs 7 BPGG ermächtigt den Bundesminister für Soziales und Konsumentenschutz, nähere Bestimmungen für die Beurteilung des Pflegebedarfs durch Verordnung festzulegen. Die Verordnung kann insbesondere auch eine Definition der Begriffe „Betreuung“ und „Hilfe“ festlegen (§ 4 Abs 7 Z 1 BPGG).
[13] 2.3 Unter Hilfe sind gemäß § 4 Abs 1 Kinder‑EinstV, BGBl II 2016/236, aufschiebbare Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind. § 4 Abs 2 Kinder‑EinstV enthält einen taxativen Katalog an Hilfsverrichtungen (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld5 Rz 7.88; vgl RS0106399 zu § 2 Abs 1 EinstV idF BGBl 1993/314). Das Beobachten und Protokollieren des Auftretens von epileptischen Anfällen wird dort nicht genannt und ist daher keine Hilfsverrichtung im Sinn des § 4 Abs 2 Kinder‑EinstV.
[14] 2.4 Unter Betreuung sind gemäß § 3 Abs 1 Kinder‑EinstV alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die das pflegebedürftige Kind oder der pflegebedürftige Jugendliche der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. § 3 Kinder‑EinstV enthält keinen abschließenden Katalog an Betreuungsmaßnahmen (§ 3 Abs 2 Kinder‑EinstV). Bei der Beobachtung und Protokollierung von epileptischen Anfällen handelt es sich nicht um eine Betreuungsverrichtung, weil das bloße Beobachten und Protokollieren keine körperlich/physische Verrichtung ist, ohne die das pflegebedürftige Kind der Verwahrlosung ausgesetzt wäre (vgl RS0107452 [T1] zu § 1 EinstV). Das im Zug dieser Verrichtung angefertigte Protokoll dient ausschließlich der Anpassung der weiteren Therapie durch den behandelnden Arzt an den konkreten Verlauf und die konkrete Entwicklung der Anfälle.
[15] 3.1 Das Beobachten und Protokollieren von epileptischen Anfällen kann auch nicht als Maßnahme der Beaufsichtigung im Sinn des § 4 Abs 1 EinstV angesehen werden. Diese Bestimmung ist hier gemäß § 9 Kinder‑EinstV anwendbar. Danach ist die Anleitung sowie die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der Verrichtungen der Betreuung und Hilfe (hier im Sinn der § 3 Abs 1 und § 4 Abs 1 Kinder‑EinstV) gleichzusetzen (vgl RS0065213). Das Beobachten und Protokollieren von epileptischen Anfällen ist nach den Feststellungen aber keine derartige Anleitung oder Beaufsichtigung bei der Durchführung von Verrichtungen der Betreuung und Hilfe.
[16] 3.2 Das Erfordernis der Beaufsichtigung bei anderen als den in den §§ 3 oder 4 Kinder‑EinstV typischen Pflegeleistungen könnte allenfalls auch nach § 4 Abs 2 BPGG im Rahmen der Stufe 6 Z 2 entscheidend sein. Allerdings fehlt es dafür im vorliegenden Fall an einem funktionsbezogenen Pflegebedarf, der bereits ohne diese Beaufsichtigung mehr als 180 Stunden monatlich beträgt.
[17] 3.3 Im Übrigen sind Zeiten der bloßen Beaufsichtigung bei der Ermittlung des Betreuungs‑ und Hilfsaufwands des Pflegebedürftigen nicht zu veranschlagen (10 ObS 277/98b; 10 ObS 404/98d; 10 ObS 196/04b; 10 ObS 39/08w SSV‑NF 22/34 ua; RS0109571 [T20]). Der Aufwand für die bloße Beaufsichtigung (nicht bei den in den §§ 1 und 2 EinstV genannten Verrichtungen) unterscheidet sich seiner Art nach grundsätzlich von den in der EinstV genannten Betreuungs‑ und Hilfshandlungen. Dabei handelt es sich um eine andere Dimension eines Pflegeaufwands, die dafür notwendige Zeit ist bei der Prüfung des Anspruchs auf Pflegegeld nicht in Anschlag zu bringen (10 ObS 277/98b). Die wegen eines Anfallsleidens wie der Epilepsie notwendigen Zeiten zum Beobachten der pflegebedürftigen Person – hier ergänzt um die Notwendigkeit der Protokollierung der Beobachtung – sind daher nicht bei der Ermittlung des Betreuungs‑ und Hilfsbedarfs einzubeziehen (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld5 Rz 5.328 mwH; für Kinder Rz 7.123 f).
[18] 3.4 Bereits in der Entscheidung 10 ObS 277/98b hat der Oberste Gerichtshof darauf hingewiesen, dass dem Verordnungsgeber die Problematik der notwendigen Beaufsichtigung einer behinderten Person bekannt war. Dass er nur in § 4 EinstV die Berücksichtigung des Zeitaufwands für die Beaufsichtigung vorgesehen habe, spreche dafür, dass er im Übrigen die für eine notwendige Beaufsichtigung erforderliche Zeit nicht bei der Ermittlung des Betreuungs-und Hilfsaufwands einbeziehen habe wollen.
[19] 3.5 Daran ist festzuhalten, weil der Gesetz‑ und Verordnungsgeber in Kenntnis der zitierten langjährigen Rechtsprechung in den Novellierungen des BPGG und der EinstV sowie bei der Schaffung der Kinder‑EinstV keine Änderung der Rechtslage vorgenommen hat. Die Abgeltung des erweiterten Pflegebedarfs schwerst behinderter Kinder sieht der Gesetzgeber im Weg des pauschalen Erschwerniszuschlags vor, der der Klägerin gewährt wird.
[20] 4. Der Revision war daher Folge zu geben. Das angefochtene Urteil des Erstgerichts war mit der Maßgabe wiederherzustellen, dass die im Bescheid zuerkannte Leistung neuerlich zuzusprechen ist (vgl RS0084896 [T4]). Die Höhe des Pflegegeldes ergibt sich aus § 5 BPGG, sodass jener Betrag – unter Berücksichtigung der Anpassung für das Kalenderjahr 2023 gemäß Art 3 § 1 Z 2 VO – Veränderliche Werte 2023, BGBl II 2022/459 – zahlenmäßig bestimmt zuzusprechen ist, der der Pflegegeldstufe 2 entspricht (RS0107801). Die Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder findet seit 1. 1. 2023 nicht mehr statt (§ 7 BPGG idF BGBl I 2022/129; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld5 Rz 4.49).
[21] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.
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