BVwG W263 2169982-1

BVwGW263 2169982-128.12.2018

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2018:W263.2169982.1.00

 

Spruch:

W263 2169982-1/28E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Christina KERSCHBAUMER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.07.2017, Zl. 1101155209-160029726, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

 

A)

 

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

 

B)

 

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

 

Die Beschwerdeführerin XXXX , geb. am XXXX , (im Folgenden: BF1, W263 2169983-1) reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann XXXX , geb. XXXX (im Folgenden: BF2, W263 2169982-1), ihrem Sohn XXXX , geb. XXXX (im Folgenden: BF3, W263 2169989-1) und ihrer Tochter XXXX , geb. XXXX (im Folgenden: BF4, W263 2169986-1), alle afghanische Staatsangehörige, in das österreichische Bundesgebiet ein, wo die BF am 12.11.2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) stellten.

 

Zwischen den BF1, BF2 und BF4 liegt ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 vor. Kein Familienverfahren liegt bezüglich des volljährigen Sohnes (BF3) mit den anderen BF vor. Die Beschwerdeverfahren der BF1 - BF4 wurden vor dem Bundesverwaltungsgericht miteinander verbunden und gemeinsam geführt. Das Verfahren des BF3 wurde von den Verfahren der BF1, BF2 und BF4 in der mündlichen Verhandlung am 21.09.2018 wieder getrennt und eine mündliche Verhandlung mit ihm am 12.10.2018 durchgeführt. Es ergehen Erkenntnisse mit gleichlautender Begründung, in der auf die Sach- und Rechtslage aller BF eingegangen wird.

 

I. Verfahrensgang:

 

1. Mit den BF wurde am 08.11.2016 eine Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes u.a. im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführt.

 

1.1. Die BF1 gab zusammengefasst an, sie sei in XXXX , Afghanistan, geboren. Sie sei traditionell und standesamtlich verheiratet, ihre Muttersprache sei Dari und sie gehöre der Volksgruppe der Turkmenen und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Sie habe keine Ausbildung und sei Analphabetin. Zuletzt habe sie als Hausfrau gearbeitet. Als Angehörige in Österreich gab sie ihre miteingereisten Familienangehörigen an.

 

Als Familienangehörige im Herkunftsstaat oder anderem Drittstaat gab die BF1 ihren verstorbenen Vater, ihre Mutter, ihre zwei vor einem Jahr bei einem Anschlag getöteten Töchter, zwei Brüder und zwei Schwestern, alle in Afghanistan wohnhaft, an. Als ihren Wohnsitz in Afghanistan gab sie XXXX , XXXX , Parvan an. Ihre Familie besitze Grundstücke. Die finanzielle Situation ihrer Familie sei "mittel" gewesen. Ihr Ehemann habe die Familie versorgt.

 

Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die BF an, sie habe ihre Heimat aufgrund der schlechten Sicherheitslage verlassen. Zwei ihrer Töchter seien bei einem Anschlag der Taliban getötet worden. Tagtäglich würden Menschen bei Anschlägen sterben. Da ihre Tochter psychisch krank sei, werde sie in Afghanistan als Verrückte angesehen. Ihr werde es in Afghanistan nie möglich sein, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es gebe für sie keine medizinische Behandlung. Aus Angst um das Leben ihrer Familie habe sie beschlossen, das Land zu verlassen.

 

1.2. Der BF2 gab an, er sei in XXXX , Afghanistan, geboren. Er sei traditionell und standesamtlich verheiratet. Seine Muttersprache sei Dari, weiters spreche er Paschtu, Arabisch, Englisch und beherrsche die Sprachen in Wort und Schrift. Er gehöre der Volksgruppe der Turkmenen und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er habe neun Jahre die Grundschule in Afghanistan besucht. Er habe eine Ausbildung zum Automechaniker in XXXX absolviert und zuletzt auch als Automechaniker gearbeitet. Als Angehörige in Österreich gab er seine miteingereisten Familienangehörigen an.

 

Als Familienangehörige im Herkunftsstaat oder anderem Drittstaat gab der BF2 seine verstorbenen Eltern, vier Schwestern, davon drei in Afghanistan und eine im Iran wohnhaft und einen in Russland lebenden Bruder an. Als seinen Wohnsitz in Afghanistan gab er Parwan, XXXX , XXXX , an. Er besitze in Afghanistan ungefähr ein Jirib Land und die finanzielle Situation seiner Familie sei "mittel" gewesen. Die Kosten der Schleppung hätten XXXX ,- USD betragen.

 

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der BF2 an, er habe seine Heimat aufgrund der schlechten Sicherheitslage verlassen. Zwei seiner Töchter seien bei einem Anschlag der Taliban getötet worden. Tagtäglich würden Menschen bei Anschlägen sterben. Da seine Tochter psychisch krank sei, werde sie in Afghanistan als Verrückte angesehen. Ihr werde es in Afghanistan nie möglich sein, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es gebe für sie keine medizinische Behandlung. Aus Angst um das Leben seiner Familie habe er beschlossen, das Land zu verlassen.

 

1.3. Der BF3 gab an, er sei in XXXX , Afghanistan, geboren. Er sei ledig, seine Muttersprache sei Dari, er gehöre der Volksgruppe der Turkmenen und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er habe ungefähr neun Jahre lang die Grundschule besucht. Er habe zuletzt als Schneider gearbeitet. Seine Familie habe ein kleines Grundstück besessen und sein Vater habe sie versorgt.

 

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, in Afghanistan herrsche Krieg und die Lage sei sehr schlecht. Er möchte hier in Österreich in Sicherheit leben. Das sei sein Fluchtgrund. Bei einer Rückkehr habe er Angst um das Leben seiner Familie.

 

2. Im weiteren Verfahrensverlauf gaben die BF in ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 30.03.2017 zusammengefasst weiter an:

 

2.1. Die BF1 sei in der Provinz Parwan, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren. Sie habe keine Schulbildung, sei keiner Arbeit nachgegangen und sei Hausfrau gewesen. Eine Schwester der BF lebe in der Stadt XXXX , eine andere Schwester lebe im Iran. Mit ihrer Schwester in Afghanistan stehe sie nicht in Kontakt. Befragt, wie sie ihren Alltag in Afghanistan verbracht habe, gab die BF1 an, sie sei zu Hause gewesen, sie hätten eine Landwirtschaft gehabt, eigene Schafe, sie hätten alles verloren. Sie habe zwei Töchter verloren, ihr Sohn sei depressiv, ihre Tochter sei krank. Die Landwirtschaft gehöre noch ihrer Familie; sie hätten einen Garten und ein Haus gehabt.

 

Zu ihren Fluchtgründen gab sie in freier Erzählung an, ihr Onkel väterlicherseits und der Onkel ihres Mannes väterlicherseits hätten zusammen einen Konflikt mit anderen Verwandten gehabt. Dabei sei ein Mann ums Leben gekommen. Es sei um Grundstückstreitigkeiten gegangen. Die hätten ihre Tochter haben wollen. Sie hätten sich so an ihnen rächen wollen. Ein 40-45 Jahre alter Mann habe ihre Tochter XXXX haben wollen. Man habe gesagt, ihre Tochter sei sowieso verrückt. Sie seien bereit gewesen Geld und Grund zu geben. Man habe aber ihre Tochter haben wollen. Dann sei ihr Mann mit dem Tode bedroht worden. Man habe gesagt, dass man ihren Mann oder ihren Sohn umbringen werde. Sie hätten in dieser Zeit Angst um ihr Leben gehabt und seien dann über Pakistan geflüchtet.

 

Näher befragt gab sie u.a. an, die Taliban hätten zwei ihrer Töchter umgebracht. Sie seien am Weg zu einer Hochzeit im Auto gewesen. Die Taliban hätten auf sie geschossen, dabei seien beide Töchter gestorben. Ihre Tochter XXXX sei zwei Tage bewusstlos gewesen, seitdem sei sie krank.

 

Befragt, wie sich ihr Leben in Österreich zu ihrem Leben in Afghanistan unterscheide, gab die BF1 an, ihr Mann und ihr Sohn seien am Leben geblieben. Es sei sonst gleich; es sei sicher hier.

 

Ihre Kinder und sie selbst hätten dieselben Fluchtgründe wie der BF2.

 

2.2. Der BF2 sei in der Provinz Parwan, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren. Er habe neun Jahre lang die Schule besucht. Danach sei er als Landwirt und Mechaniker tätig gewesen. Er habe 20 Jahre lang in XXXX als Mechaniker gearbeitet und sei immer wieder hin und her gependelt. In Kuwait habe er keine Aufenthaltsberechtigung bekommen. Er habe zwei Schwestern und viele Verwandte, Onkel und Tanten in Afghanistan. Er stehe mit seinen Verwandten telefonisch in Kontakt. Seine Familie habe in Afghanistan ein Haus, einen Garten und eine Landwirtschaft.

 

Aufgefordert seine Fluchtgründe zu schildern, gab er in freier Erzählung an, in seinem Dorf sei die Lage unsicher. Manchmal habe es Übergriffe von den Taliban gegeben, manchmal von den Kutschis. Sie hätten dort nicht mehr leben können. Abgesehen davon, sei seine Tochter psychisch krank. Das sei in Afghanistan ein Makel. Man werde verspottet. In Afghanistan würden Personen wie seine Tochter so behandelt, dass man sie den Berg hinunterwerfe oder an einen alten Mann verheirate. Der Onkel habe vor acht Jahren einen Streit mit irgendwelchen anderen Leuten gehabt. Von der gegnerischen Partei sei ein Mann getötet worden. Sie wüssten aber nicht, wer ihn getötet habe. Dann hätten sich die ganzen Leute versammelt. Die gegnerische Gruppierung habe sich zusammengetan. Sie hätten für den Tod des Mannes entweder Geld oder einen Grund oder ein Mädchen gefordert. Ihre Familien hätten gesagt, dass sie Geld, aber kein Mädchen hergeben. Sie hätten dann gesagt, dass sie sich rächen werden, weil sie ihnen kein Mädchen gegeben hätten. Es sei dann ruhig gewesen. Vor drei Jahren sei er dann vom Sohn des verstorbenen Mannes aufgesucht worden. Dieser habe ihm gedroht, dass, wenn er seine Tochter nicht an ihn verheirate, er ihn umbringen werde. Er habe gesagt, dass er sich rächen werde. Er werde den BF2 oder seinen Sohn töten. Er habe gesagt, egal wo sich der BF2 aufhalte, ob im Iran oder Pakistan, er werde ihn finden. Damals habe der BF2 den Entschluss gefasst, sein Heimatland zu verlassen. Sie haben dann eine Höhle gebaut, vom Haus aus, wo sie sich versteckt haben, wenn sie eine Gefahr verspürten.

 

Näher befragt gab er u.a an, in den drei Jahren sei nichts passiert. Sein Verfolger habe Verwandte in XXXX ; er habe Kontakte.

 

2.3. Der BF3 gab an, er sei in der Provinz Parwan, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren. Er habe acht Jahre lang die Schule besucht, danach habe er seinem Vater auf der Landwirtschaft geholfen. Zwei Tanten väterlicherseits würden im Heimatdorf leben. Sein Onkel väterlicherseits lebe in XXXX und eine Tante väterlicherseits im Iran. Der BF3 stehe telefonisch im Kontakt mit den Verwandten in Afghanistan.

 

Zu seinen Fluchtgründen gab er an, er habe keine eigenen Fluchtgründe. Er beziehe sich auf die Fluchtgründe seines Vaters. Befragt, ob ihm im Falle einer Rückkehr Verfolgung, unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe drohen würde, gab der BF3 an, sein Vater habe schon alles erwähnt.

 

Er habe nichts hinzuzufügen. Die sichersten "Provinzen" seien einmal Mazar-e Sharif und Kabul gewesen, aber dort sei es nicht mehr sicher.

 

5. Mit Bescheiden vom 31.07.2017 wies das BFA die Anträge auf internationalen Schutz vom 12.11.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) ab, erkannte aber jeweils gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 3 AsylG 2005 den Status der/des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) zu. Eine befristete Aufenthaltsberechtigung wurde jeweils gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 30.07.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).

 

6. Mit Verfahrensanordnungen vom 03.08.2017 wurden den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

 

7. Die BF erhoben gegen die oben genannten Bescheide fristgerecht Beschwerden, welche in der Folge unter Anschluss der Akten des Verwaltungsverfahrens an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurden.

 

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.04.2018, 21.09.2018 und am 12.10.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

 

1. Feststellungen:

 

1.1. Zu den BF:

 

Die BF stammen aus dem Dorf XXXX (auch: XXXX ), Distrikt XXXX , Provinz Parwan, Afghanistan.

 

Die BF sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Turkmenen und bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Dari.

 

Die volljährige BF1 führt den Namen XXXX , geb. am XXXX . Die BF1 hat keine Schulbildung und ist Analphabetin. Sie verfügt über keine Berufsausbildung und war in Afghanistan als Hausfrau bzw. in der (familieneigenen) Landwirtschaft bzw. im Obstgarten tätig. In Afghanistan lebt eine Schwester der BF1 in XXXX und eine Schwester lebt im Iran.

 

Die BF1 ist die Mutter des BF3 XXXX , geb. XXXX , und der BF4 XXXX , geb. XXXX . Der BF2 ist der Vater des BF3 und der BF4 und der Ehegatte und Cousin der BF1.

 

Der volljährige BF2 führt den Namen XXXX , geb. XXXX . Er verfügt auch über Sprachkenntnisse in Paschtu, Arabisch, Urdu und Englisch (in Wort und Schrift). Der BF2 besuchte ungefähr neun Jahre lang die Schule und kann Dari auch lesen und schreiben. Der BF bewirtschaftete in Afghanistan die eigenen landwirtschaftlichen Grundstücke und war ungefähr 20 Jahre lang als Automechaniker in XXXX tätig. Im Heimatdorf leben noch zwei Schwestern des BF2. In Afghanistan leben noch Onkeln und Tanten des BF2. Er steht mit ihnen im regelmäßigen Kontakt. Ein Bruder des BF2 lebt in XXXX und zwei Schwestern im Iran.

 

Der volljährige BF3 führt den Namen XXXX , geb. XXXX . Der BF3 ist nicht verheiratet oder verlobt, er hat keine Kinder. Der BF3 hat ungefähr neun Jahre die staatliche Grundschule in seinem Heimatdorf besucht und kann lesen und schreiben. Eine maßgebliche gesundheitliche Beeinträchtigung des BF3 liegt nicht vor.

 

Die minderjährige BF4 führt den Namen XXXX , geb. XXXX . Die BF4 ist nicht verheiratet oder verlobt, sie hat keine Kinder. Die BF4 besuchte in Afghanistan keine Schule, sie hat ein paar Monate Unterricht im Iran erhalten. Sie verfügt über keine Berufsausbildung. Die BF4 leidet an Astigmatismus (Hornhautverkrümmung), Epilepsie und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die BF4 ist auf enge Betreuung angewiesen.

 

Alle BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Die BF leben - mit Ausnahme des BF3 - von der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Der BF2 ist fallweise, geringfügig im Rahmen eines Arbeitsprojektes des Vereins XXXX tätig. Weiters hat der BF2 bei einem Radiosender eine Fortbildung besucht und gestaltete dort Radiosendungen mit. Darüber hinaus hat er nach der vorgelegten (undatierten) Bestätigung (zumindest) einen Tag in einer Landwirtschaft gearbeitet.

 

Die BF pflegen in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und Afghanen.

 

Die BF1 besuchte zwischenzeitlich einen Werte- und Orientierungskurs des ÖIF und weist dies durch eine Teilnahmebestätigung nach. Den Kurs " XXXX " ab November 2017 brach sie ab. Am XXXX nahm sie an einer Informationsveranstaltung des ÖIF teil.

 

Seit September 2018 nimmt die BF1 wieder - soweit es ihr in Hinblick auf die Betreuung der BF4 möglich ist - an einem Deutschkurs des Vereins XXXX teil. Die BF1 spricht kein Deutsch bzw. beherrscht nur einige wenige Vokabel. Eine Bestätigung über eine absolvierte Deutschprüfung wurde bisher nicht in Vorlage gebracht.

 

Der BF2 besuchte zwischenzeitlich einen Orientierungskurs und mehrere Deutschkurse und absolvierte Deutschprüfungen (höchstes vorgelegtes Zeugnis: A1) und weist dies durch Teilnahmebestätigungen bzw. Zertifikate nach. Weiters arbeite er gelegentlich auf einer Obstplantage in der Nähe von XXXX und reparierte Fahrräder im Rahmen des Projektes " XXXX " an der Landesberufsschule XXXX . Dort half er auch bei der Vorbereitung des XXXX im Jahr XXXX . Der BF2 spielt Fußball und ist in einem afghanischen Verein aktiv.

 

Der BF3 besuchte zwischenzeitlich Kurse, darunter Deutschkurse und weist dies durch Teilnahmebestätigungen bzw. Zertifikate nach. Er treibt in seiner Freizeit Sport und ist als Spieler der Kampfmannschaft des XXXX gemeldet. Der BF3 wohnt nun nicht mehr gemeinsam mit den anderen BF. Der BF3 bezieht keine Grundversorgung mehr.

 

1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

 

Die BF stellten am 12.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Ihre Anträge auf internationalen Schutz begründeten die BF im Wesentlichen damit, dass im Zuge eines Streits mit einem Onkel des BF2 ein Mann getötet worden sei, weshalb die BF durch die Familie des Getöteten verfolgt worden seien. Überdies leide die BF4 an einer psychischen Erkrankung, weshalb die BF4 diskriminiert und bedroht worden sei.

 

Die BF persönlich sind in Afghanistan keiner Verfolgung und damit einhergehenden physischen und/oder psychischen Gewalt, auf Grund einer Blutfehde bzw. von Grundstücksstreitigkeiten ausgesetzt.

 

Die BF1 und BF4 sind in ihrem Herkunftsstaat und auch ihrer Herkunftsregion alleine aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Bei den BF1 und BF4 handelt es sich nicht um auf Eigenständigkeit bedachte Frauen, deren persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen steht, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Zwar war die BF1 in der mündlichen Verhandlung bemüht, einen selbstbestimmten Eindruck zu hinterlassen. Es ist war jedoch nicht erkennbar, dass die BF1 oder die BF4 eine "westliche" Lebensweise angenommen haben, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, sodass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen.

 

Die BF4 persönlich ist in Afghanistan und auch ihrer Herkunftsregion keiner Verfolgung und damit einhergehenden physischen und/oder psychischen Gewalt, auf Grund ihrer vorliegenden Erkrankungen ausgesetzt. Spezifische sonstige Antragsgründe der minderjährigen BF4 sind nicht hervorgekommen.

 

Es ist auch insgesamt nicht davon auszugehen, dass die BF aufgrund der Tatsache, dass sie sich seit Ende 2015 in Europa aufhalten, im Falle einer Rückkehr psychischer und/oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wären.

 

Die BF persönlich sind in Afghanistan keiner Verfolgung und damit einhergehenden physischen und/oder psychischen Gewalt, als Angehörige der Volksgruppe der Turkmenen oder aufgrund einer (angenommenen) Angehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara (insbesondere durch Kutschi-Nomaden) sowie aufgrund ihres schiitischen Glaubens ausgesetzt. Damit im Zusammenhang stehend, kann ebenso wenig festgestellt werden, dass jeder Angehörige der Volksgruppe der Turkmenen oder Hazara oder der schiitischen Religion in Afghanistan und konkret in der Provinz Parwan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt ist.

 

Insgesamt sind die BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.

 

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

 

Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 (verbliebene Fehler im Original):

 

"1.3.1. Sicherheitslage

 

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).

 

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).

 

[...]

 

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).

 

[...]

 

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).

 

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).

 

[...]

 

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).

 

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).

 

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

 

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).

 

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).

 

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).

 

Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).

 

Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018), von denen zur Veranschaulichung hier auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben werden sollen (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste enthält öffentlichkeitswirksame (high-profile) Vorfälle sowie Angriffe bzw. Anschläge auf hochrangige Ziele und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit):

 

[...]

 

Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten

 

Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei 12 Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 7.11.2017)

 

Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele, haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).

 

Zur Veranschaulichung werden im Folgenden auszugsweise einige Beispiele von Anschlägen gegen Gläubige und Glaubensstätten wiedergegeben (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).

 

• Angriff auf Treffen der Religionsgelehrten in Kabul: Am 4.6.2018 fand während einer loya jirga zwischen mehr als 2.000 afghanischen Religionsgelehrten, die durch eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aufriefen, ein Selbstmordanschlag statt. Bei dem Angriff kamen 14 Personen ums Leben und weitere wurden verletzt (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 5.6.2018). Quellen zufolge bekannte sich der IS zum Angriff (Reuters 5.6.2018; vgl. RFE/RL 5.6.2018).

 

• Angriff auf Kricket-Stadion in Jalalabad: Am 18.5.2018, einem Tag nach Anfang des Fastenmonats Ramadan, kamen bei einem Angriff während eines Kricket-Matchs in der Provinzhauptstadt Nangarhars Jalalabad mindestens acht Personen ums Leben und mindestens 43 wurden verletzt (TRT 19.5.2018; vgl. Tolonews 19.5.2018, TG 20.5.2018). Quellen zufolge waren das direkte Ziel dieses Angriffes zivile Zuschauer des Matchs (TG 20.5.2018; RFE/RL 19.5.2018), dennoch befanden sich auch Amtspersonen unter den Opfern (TNI 19.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich keine regierungsfeindliche Gruppierung zum Angriff (RFE/RL 19.5.2018); die Taliban dementierten ihre Beteiligung an dem Anschlag (Tolonews 19.5.2018; vgl. TG 20.5.2018) .

 

• Selbstmordanschlag während Nowruz-Feierlichkeiten: Am 21.3.2018 (Nowruz-Fest; persisches Neujahr) kam es zu einem Selbstmordangriff in der Nähe des schiitischen Kart-e Sakhi-Schreins, der von vielen afghanischen Gemeinschaften - insbesondere auch der schiitischen Minderheit - verehrt wird. Sie ist ein zentraler Ort, an dem das Neujahrsgebet in Kabul abgehalten wird. Viele junge Menschen, die tanzten, sangen und feierten, befanden sich unter den 31 getöteten; 65 weitere wurden verletzt (BBC 21.3.2018). Die Feierlichkeiten zu Nowruz dauern in Afghanistan mehrere Tage und erreichen ihren Höhepunkt am 21. März (NZZ 21.3.2018). Der IS bekannte sich auf seiner Propaganda Website Amaq zu dem Vorfall (RFE/RL 21.3.2018).

 

• Angriffe auf Moscheen: Am 20.10.2017 fanden sowohl in Kabul, als auch in der Provinz Ghor Angriffe auf Moscheen statt: während des Freitagsgebets detonierte ein Selbstmordattentäter seine Sprengstoffweste in der schiitischen Moschee, Imam Zaman, in Kabul. Dabei tötete er mindestens 30 Menschen und verletzte 45 weitere. Am selben Tag, ebenso während des Freitagsgebetes, griff ein Selbstmordattentäter eine sunnitische Moschee in Ghor an und tötete 33 Menschen (Telegraph 20.10.2017; vgl. TG 20.10.2017).

 

• Tötungen in Kandahar: Im Oktober 2017 bekannten sich die afghanischen Taliban zu der Tötung zweier religiöser Persönlichkeiten in der Provinz Kandahar. Die Tötungen legitimierten die Taliban, indem sie die Getöteten als Spione der Regierung bezeichneten (UNAMA 7.11.2017).

 

• Angriff auf schiitische Moschee: Am 2.8.2017 stürmten ein Selbstmordattentäter und ein bewaffneter Schütze während des Abendgebetes die schiitische Moschee Jawadia in Herat City; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet (BBC 3.8.2017; vgl. Pajhwok 2.8.2017). Insgesamt war von 100 zivilen Opfer die Rede (Pajhwok 2.8.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 3.8.2017).

 

• Entführung in Nangarhar: Die Taliban entführten und folterten einen religiösen Gelehrten in der Provinz Nangarhar, dessen Söhne Mitglieder der ANDSF waren - sie entließen ihn erst, als Lösegeld für ihn bezahlt wurde (UNAMA 7.11.2017).

 

• In der Provinz Badakhshan wurde ein religiöser Führer von den Taliban entführt, da er gegen die Taliban predigte. Er wurde gefoltert und starb (UNAMA 7.11.2017).

 

[...]

 

Zivilist/innen

 

[...]

 

Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 1.1.2009-31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 1.1.2018 - 31.3.2018 registriert die UNAMA

2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.4.2018).

 

Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nicht-ziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).

 

Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.4.2018).

 

[...]

 

Zu den regierungsfreundlichen Kräften zählten: ANDSF, Internationale Truppen, regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen sowie nicht näher identifizierte regierungsfreundliche Kräfte. Für das Jahr 2017 wurden 2.108 zivile Opfer (745 Tote und 1.363 Verletzte) regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben, dies deutet einen Rückgang von 23% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (2.731 zivile Opfer, 905 Tote und 1.826 Verletzte) an (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018). Insgesamt waren regierungsfreundliche Kräfte für 20% aller zivilen Opfer verantwortlich. Hauptursache (53%) waren Bodenkonfrontation zwischen ihnen und regierungsfeindlichen Elementen - diesen fielen 1.120 Zivilist/innen (274 Tote und 846 Verletzte) zum Opfer; ein Rückgang von 37% Gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (UNAMA 2.2018). Luftangriffe wurden zahlenmäßig als zweite Ursache für zivile Opfer registriert (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018); diese waren für 6% ziviler Opfer verantwortlich - hierbei war im Gegensatz zum Vorjahreswert eine Zunahme von 7% zu verzeichnen gewesen. Die restlichen Opferzahlen 125 (67 Tote und 58 Verletzte) waren auf Situationen zurückzuführen, in denen Zivilist/innen fälschlicherweise für regierungsfeindliche Elemente gehalten wurden. Suchaktionen forderten 123 zivile Opfer (79 Tote und 44 Verletzte), Gewalteskalationen 52 zivile Opfer (18 Tote und 34 Verletzte), und Bedrohungen und Einschüchterungen forderten 17 verletzte Zivilist/innen (UNAMA 2.2018).

 

Ein besonderes Anliegen der ANDSF, der afghanischen Regierung und internationaler Kräfte ist das Verhindern ziviler Opfer. Internationale Berater/innen der US-amerikanischen und Koalitionskräfte arbeiten eng mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Reduzierung der Anzahl von zivilen Opfern zu schaffen. Die afghanische Regierung hält auch weiterhin ihre viertel-jährliche Vorstandssitzung zur Vermeidung ziviler Opfer (Civilian Casualty Avoidance and Mitigation Board) ab, um u. a. Präventivmethoden zu besprechen (USDOD 12.2017). Die UNAMA bemerkte den Einsatz und die positiven Schritte der afghanischen Regierung, zivile Opfer im Jahr 2017 zu reduzieren (UNAMA 2.2018).

 

Im gesamten Jahr 2017 wurden 3.484 zivile Opfer (823 Tote und 2.661 Verletzte) im Rahmen von 1.845 Bodenoffensiven registriert - ein Rückgang von 19% gegenüber dem Vorjahreswert aus 2016 (4.300 zivile Opfer, 1.072 Tote und 3.228 Verletzte in 2.008 Bodenoffensiven). Zivile Opfer, die aufgrund bewaffneter Zusammenstöße zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Kräften zu beklagen waren, sind zum ersten Mal seit 2012 zurückgegangen (UNAMA 2.2018).

 

Im Jahr 2017 forderten explosive Kampfmittelrückstände (Engl. "explosive remnants of war", Anm.) 639 zivile Opfer (164 Tote und 475 Verletzte) - ein Rückgang von 12% gegenüber dem Jahr 2016. 2017 war überhaupt das erste Jahr seit 2009, in welchem ein Rückgang verzeichnet werden konnte. Der Rückgang ziviler Opfer ist möglicherweise u.a. auf eine Verminderung des indirekten Beschusses durch Mörser, Raketen und Granaten in bevölkerten Gegenden von regierungsfreundlichen Kräfte zurückzuführen (UNAMA 2.2018).

 

[...]

 

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

 

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:

das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).

 

Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).

 

Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).

 

Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).

 

Taliban

 

Die Taliban führten auch ihre Offensive "Mansouri" weiter; diese Offensive konzentrierte sich auf den Aufbau einer "Regierungsführung" der Taliban (Engl. "governance") bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Gewalt gegen die afghanische Regierung, die ANDSF und ausländische Streitkräfte. Nichtsdestotrotz erreichten die Taliban, die Hauptziele dieser "Kampfsaison" laut US-Verteidigungsministerium nicht (USDOD 12.2017). Operation Mansouri sollte eine Mischung aus konventioneller Kriegsführung, Guerilla-Angriffen und Selbstmordattentaten auf afghanische und ausländische Streitkräfte werden (Reuters 28.4.2017). Auch wollten sich die Taliban auf jene Gegenden konzentrieren, die vom Feind befreit worden waren (LWJ 28.4.2017). Laut NATO Mission Resolute Support kann das Scheitern der Taliban-Pläne für 2017 auf aggressive ANDSF-Operationen zurückgeführt, aber auch auf den Umstand, dass die Taliban den IS und die ANDSF gleichzeitig bekämpfen müssen (USDOD 12.2017).

 

Im Jahr 2017 wurden den Taliban insgesamt 4.385 zivile Opfer (1.574 Tote und 2.811 Verletzte) zugeschrieben. Die Taliban bekannten sich nur zu 1.166 zivilen Opfern. Im Vergleich zum Vorjahreswert bedeutet dies einen Rückgang um 12% bei der Anzahl ziviler Opfer, die den Taliban zugeschrieben werden. Aufgrund der Komplexität der in Selbstmord- und komplexen Anschlägen involvierten Akteure hat die UNAMA oft Schwierigkeiten, die daraus resultierenden zivilen Opfer spezifischen regierungsfreundlichen Gruppierungen zuzuschreiben, wenn keine Erklärungen zur Verantwortungsübernahme abgegeben wurde. Im Jahr 2017 haben sich die Taliban zu 67 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen bekannt; dies führte zu 214 zivilen Opfern (113 Toten und 101 Verletzten). Auch wenn sich die Taliban insgesamt zu weniger Angriffen gegen Zivilist/innen bekannten, so haben sie dennoch die Angriffe gegen zivile Regierungsmitarbeiter/innen erhöht - es entspricht der Linie der Taliban, Regierungsinstitutionen anzugreifen (UNAMA 2.2018).

 

Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans (SIGAR 30.4.2018). Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten (ODI 6.2018). Die Taliban halten auch weiterhin großes Territorium in den nördlichen und südlichen Gegenden der Provinz Helmand (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Die ANDSF haben, unterstützt durch US-amerikanische Truppen, in den ersten Monaten des Jahres 2018 an Boden gewonnen, wenngleich die Taliban nach wie vor die Hälfte der Provinz Helmand unter Kontrolle halten (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Helmand war lange Zeit ein Hauptschlachtfeld - insbesondere in der Gegend rund um den Distrikt Sangin, der als Kernstück des Taliban-Aufstands erachtet wird (JD News 12.3.2018; vgl. Reuters 30.3.2018). Die Taliban haben unerwarteten Druck aus ihrer eigenen Hochburg in Helmand erhalten: Parallel zu der Ende März 2018 abgehaltenen Friendens-Konferenz in Uzbekistan sind hunderte Menschen auf die Straße gegangen, haben eine Sitzblockade abgehalten und geschworen, einen langen Marsch in der von den Taliban kontrollierten Stadt Musa Qala zu abzuhalten, um die Friedensgespräche einzufordern. Unter den protestierenden Menschen befanden sich auch Frauen, die in dieser konservativen Region Afghanistans selten außer Hauses gesehen werden (NYT 27.3.2018).

 

Die Taliban geben im Kurznachrichtendienst Twitter Angaben zu ihren Opfern oder Angriffen (FAZ 19.10.2017; vgl. Pajhwok 13.3.2018). Ihre Angaben sind allerdings oft übertrieben (FAZ 19.10.2017). Auch ist es sehr schwierig Ansprüche und Bekennermeldungen zu verifizieren - dies gilt sowohl für Taliban als auch für den IS (AAN 5.2.2018).

 

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

 

Höchst umstritten ist von Expert/innen die Größe und die Gefahr, die vom IS ausgeht. So wird von US-amerikanischen Sicherheitsbeamten und weiteren Länderexpert/innen die Anzahl der IS-Kämpfer in Afghanistan mit zwischen 500 und 5.000 Kämpfern beziffert. Jeglicher Versuch die tatsächliche Stärke einzuschätzen, wird durch den Umstand erschwert, dass sich die Loyalität der bewaffneten radikalen Islamisten oftmals monatlich oder gar wöchentlich ändert, je nach ideologischer Wende, Finanzierung und Kampfsituation (WSJ 21.3.2018). Auch wurde die afghanische Regierung bezichtigt, die Anzahl der IS-Kämpfer in Afghanistan aufzublasen (Tolonews 10.1.2018). Zusätzlich ist wenig über die Gruppierung und deren Kapazität, komplexe Angriffe auszuführen, bekannt. Viele afghanische und westliche Sicherheitsbeamte bezweifeln, dass die Gruppierung alleine arbeitet (Reuters 9.3.2018).

 

Die Fähigkeiten und der Einfluss des IS sind seit seiner Erscheinung im Jahr 2015 zurückgegangen. Operationen durch die ANDSF und die US-Amerikaner, Druck durch die Taliban und Schwierigkeiten die Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, störten das Wachstum des IS und verringerten dessen Operationskapazitäten. Trotz erheblicher Verluste von Territorium, Kämpfern und hochrangigen Führern, bleibt der IS nach wie vor eine Gefährdung für die Sicherheit in Afghanistan und in der Region. Er ist dazu in der Lage, öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen (HPA) in städtischen Zentren zu verüben (USDOD 12.2017). Der IS hat sich nämlich in den vergangenen Monaten zu einer Anzahl tödlicher Angriffe in unterschiedlichen Teilen des Landes bekannt - inklusive der Hauptstadt. Dies schürte die Angst, der IS könne an Kraft gewinnen (VoA 10.1.2018; vgl. AJ 30.4.2018). Auch haben örtliche IS-Gruppen die Verantwortung für Angriffe auf Schiiten im ganzen Land übernommen (USDOD 12.2017).

 

Im Jahr 2017 wurden dem IS 1.000 zivile Opfer (399 Tote und 601 Verletzte) zugeschrieben sowie die Entführung von 81 Personen; er war damit laut UNAMA für 10% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich - eine Zunahme von insgesamt 11% im Vergleich zum Jahr 2016. Im Jahr 2017 hat sich der IS zu insgesamt 18 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen oder zivile Objekte bekannt (UNAMA 2.2018); er agiert wahllos - greift Einrichtungen der afghanischen Regierung und der Koalitionskräfte an (AAN 5.2.2018), aber auch ausländische Botschaften (UNAMA 2.2.018). Fast ein Drittel der Angriffe des IS zielen auf schiitische Muslime ab (UNAMA 2.2018; vgl. AAN 5.2.2018) - sechs Angriffe waren auf schiitische Glaubensstätten (UNAMA 2.2018). Der IS begründet seine Angriffe auf die schiitische Gemeinschaft damit, dass deren Mitglieder im Kampf gegen den IS im Mittleren Osten involviert sind (AAN 5.2.2018).

 

Zusätzlich dokumentierte die UNAMA im Jahr 2017 27 zivile Opfer (24 Tote und drei Verletzte) sowie die Entführung von 41 Zivilist/innen, die von selbsternannten IS-Anhängern in Ghor, Jawzjan und Sar-e Pul ausgeführt wurden. Diese Anhänger haben keine offensichtliche Verbindung zu dem IS in der Provinz Nangarhar (UNAMA 2.2018).

 

Der IS rekrutierte auf niedriger Ebene und verteilte Propagandamaterial in vielen Provinzen Afghanistans. Führung, Kontrolle und Finanzierung des Kern-IS aus dem Irak und Syrien ist eingeschränkt, wenngleich der IS in Afghanistan nachhaltig auf externe Finanzierung angewiesen ist, sowie Schwierigkeiten hat, Finanzierungsströme in Afghanistan zu finden. Dieses Ressourcenproblem hat den IS in einen Konflikt mit den Taliban und anderen Gruppierungen gebracht, die um den Gewinn von illegalen Kontrollpunkten und den Handel mit illegalen Waren wetteifern. Der IS bezieht auch weiterhin seine Mitglieder aus unzufriedenen TTP-Kämpfern (Tehreek-e Taliban in Pakistan - TTP), ehemaligen afghanischen Taliban und anderen Aufständischen, die meinen, der Anschluss an den IS und ihm die Treue zu schwören, würde ihre Interessen vorantreiben (USDOD 12.2017).

 

Auch ist der IS nicht länger der wirtschaftliche Magnet für arbeitslose und arme Jugendliche in Ostafghanistan, der er einst war. Die Tötungen von IS-Führern im letzten Jahr (2017) durch die afghanischen und internationalen Kräfte haben dem IS einen harten Schlag versetzt, auch um Zugang zu finanziellen Mitteln im Mittleren Osten zu erhalten. Finanziell angeschlagen und mit wenigen Ressourcen, ist der IS in Afghanistan nun auf der Suche nach anderen Möglichkeiten des finanziellen Überlebens (AN 6.3.2018).

 

Haqqani-Netzwerk

 

Der Gründer des Haqqani-Netzwerkes - Jalaluddin Haqqani - hat aufgrund schlechter Gesundheit die operationale Kontrolle über das Netzwerk an seinen Sohn Sirajuddin Haqqani übergeben, der gleichzeitig der stellvertretende Führer der Taliban ist (VoA 1.7.2017). Als Stellvertreter der Taliban wurde die Rolle von Sirajuddin Haqqani innerhalb der Taliban verfestigt. Diese Rolle erlaubte dem Haqqani-Netzwerk seinen Operationsbereich in Afghanistan zu erweitern und lieferte den Taliban zusätzliche Fähigkeiten in den Bereichen Planung und Operation (USDOD 12.2017).

 

Von dem Netzwerk wird angenommen, aus den FATA-Gebieten (Federally Administered Tribal Areas) in Pakistan zu operieren. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge soll das Netzwerk zwischen 3.000 und 10.000 Mitglieder haben. Dem Netzwerk wird nachgesagt finanziell von unterschiedlichen Quellen unterstützt zu werden - inklusive reichen Personen aus den arabischen Golfstaaten (VoA 1.7.2017).

 

Zusätzlich zu der Verbindung mit den Taliban, hat das Netzwerk mit mehreren anderen Aufständischen Gruppierungen, inklusive al-Qaida, der Tehreek-e Taliban in Pakistan (TTP), der Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) und der ebenso in Pakistan ansässigen Lashkar-e-Taiba (VoA 1.7.2017).

 

Sowohl die afghanische, als auch die US-amerikanische Regierung haben Pakistan in der Vergangenheit wiederholt kritisiert, keine eindeutigen Maßnahmen gegen terroristische Elemente zu ergreifen, die darauf abzielen, die Region zu destabilisieren - zu diesen Elementen zählen auch die Taliban und das Haqqani-Netzwerk (RFE/RL 23.3.2018; vgl. AJ 8.3.2018, UNGASC 27.2.2018).

 

Al-Qaida

 

Al-Qaida konzentriert sich hauptsächlich auf das eigene Überleben und seine Bemühungen sich selbst zu erneuern. Die Organisation hat eine nachhaltige Präsenz in Ost- und Nordostafghanistan, mit kleineren Elementen im Südosten. Manche Taliban in den unteren und mittleren Rängen unterstützen die Organisation eingeschränkt. Nichtsdestotrotz konnte zwischen 1.6.-20.11.2017 keine Intensivierung der Beziehung zu den Taliban auf einem strategischen Niveau registriert werden (USDOD 12.2017).

 

[...]

 

1.3.2. Parwan

 

Die strategisch bedeutsame Provinz Parwan liegt 64 km nördlich von Kabul (Pajhwok o.D.a). Die Provinz grenzt im Norden an Baghlan, im Osten an Panjshir und Kapisa, im Süden an Kabul und (Maidan) Wardak und im Westen an (Maidan) Wardak und Bamyan (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus folgenden Distrikten: Bagram, Jabal Saraj/Jabalussaraj, Salang, Sayed Khel/Saydkhel, Shinwar/Shinwari, Shikh Ali/Shekhali, Shurk Parsha/Surkh-e-Parsa, Charikar, Koh-e-Safi und Syiah Gird/Seyagerd/Ghorband (Pajhwok o.D.b, vgl. UN OCHA 4.2014, NPS o. D., LWJ 10.11.2017). Charikar ist die Provinzhauptstadt (Pajhwok o. D.b). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 687.243 geschätzt (CSO 4.2017). In der Provinz leben Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Quizilbasch, Kuchi und Hazara (NPS o.D.).

 

Im Distrikt Bagram gibt es einen Militärflughafen (vgl. Flughafenkarte der Staatendokumentation, Kapitel 3.35.). Das Bagram Airfield liegt in der Provinz Parwan (VoA 1.2.2017; vgl. LWJ 12.11.2016); es ist der größte US-amerikanische militärische Stützpunkt der Provinz und ist manchmal von "high-profile"-Angriffen durch Aufständische betroffen (FP 20.6.2017; vgl. NYT 20.6.2017).

 

Ein Abschnitt der Autobahn Kabul-Bamyan verbindet die Provinz mit Kabul und weiter mit anderen Provinzen (Khaama Press 2.11.2015; vgl. Pajhwok 1.3.2017). Die Provinzhauptstadt von Parwan, Charikar, ist durch die Kabul-Charikar Road, auch "A76" genannt, mit Kabul verbunden (UN Habitat 3.2016).

 

In der Provinz werden Programme des Afghan Rural Enterprise Development Program (AREDP) zur Förderung der ländlichen Bevölkerung implementiert; zahlreiche Frauen profitieren von diesen Maßnahmen (Reliefweb 3.10.2017).

 

Parwan gehört zu den Opium-freien Provinzen Afghanistans (UNODC 11.2017).

 

Allgemeine Informationen zur Sicherheitslage

 

Parwan gehört zu den volatilen Provinzen Afghanistans, in der Talibanaufständische in einigen abgelegenen Distrikten aktiv sind (TN 22.2.2018; vgl. Khaama Press 22.2.2018, Khaama Press 15.11.2017, Khaama Press 9.5.2017, OI 9.5.2017). Aus unruhigen Distrikten in der Provinz Parwan wird von Straßenbomben, Selbstmordangriffen, gezielten Tötungen und anderen terroristischen Angriffen berichtet. Deshalb werden Anti-Terrorismus Operationen durchgeführt, um die Aufständischen zu verdrängen (Khaama Press 22.2.2018). Talibanaufständische führen in einigen Teilen der Provinz Angriffe auf die Sicherheitskräfte aus (ATN 6.2.2018; vgl. AP 6.9.2017, AJ 20.7.2017).

 

Im Zeitraum 1.1.2017 - 30.4.2018 wurden in der Provinz 63 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen:

 

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Im gesamten Jahr 2017 wurden 77 zivile Opfer (20 getötete Zivilisten und 57 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Blindgänger/Landminen, gefolgt von gezielten Tötungen und Bodenoffensiven. Dies bedeutet einen Rückgang von 31% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).

 

Militärische Operationen in Parwan

 

Militärische Operationen werden in der Provinz durchgeführt (Tolonews 6.2.2018; vgl. Tolonews 20.12.2017, Tolonews 9.12.2017, Tolonews 4.10.2017, Tolonews 2.10.2017); dabei werden Talibankämpfer getötet (Tolonews 6.2.2018) und Waffen gefunden (Tolonews 9.12.2017). Auch werden Luftangriffe durchgeführt (Tolonews 2.10.2017). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Taliban finden statt (Tolonews 30.9.2017; vgl. Tolonews 29.9.2017, Tolonews 27.7.2017, Tolonews 8.7.2017).

 

Regiergungsfeindliche Gruppierungen

 

Talibanaufständische sind in abgelegenen Distrikten der Provinz Parwan aktiv (Khaama Press 15.11.2017; vgl. Tolonews 30.9.2017, Khaama Press 9.5.2017). Die Distrikte Seyagerd/Ghorband und Shinwari zählten im November 2017 zu den umkämpften Distrikten der Provinz (LWJ 10.11.2017; vgl. Tolonews 2.10.2017, NYT 1.10.2017).

 

Im Zeitraum 1.1.2017 - 15.7.2017 wurden in der Provinz Parwan IS-bezogene Vorfälle (Gefechte) an der Grenze zu Kabul registriert; zwischen 16.7.2017 - 31.1.2018 wurden in der Provinz hingegen keine sicherheitsrelevanten Ereignisse bzgl. des IS gemeldet (ACLED 23.2.2018).

 

[...]

 

1.3.3. Erreichbarkeit

 

[...]

 

Internationaler Flughafen Kabul

 

Der Flughafen in Kabul ist ein internationaler Flughafen (Tolonews 18.12.2017; vgl. HKA o.D.). Ehemals bekannt als internationaler Flughafen Kabul, wurde er im Jahr 2014 in "Internationaler Flughafen Hamid Karzai" umbenannt. Er liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt (HKA o. D.). Projekte zum Ausbau des Flughafens sollen gemäß der Afghanistan's Civil Aviation Authority (ACAA) im Jahr 2018 gestartet werden (Tolonews 18.12.2017).

 

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1.3.4. Sicherheitsbehörden

 

In Afghanistan gibt es drei Ministerien, die mit der Wahrung der öffentlichen Ordnung betraut sind: das Innenministerium (MoI), das Verteidigungsministerium (MoD) und das National Directorate for Security (NDS) (USDOS 20.4.2018). Das MoD beaufsichtigt die Einheiten der afghanischen Nationalarmee (ANA), während das MoI für die Streitkräfte der afghanischen Nationalpolizei (ANP) zuständig ist (USDOD 6.2017).

 

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte (CIA 2018). Bestandteile der ANDSF sind die afghanische Nationalarmee (ANA), die afghanische Nationalpolizei (ANP) und die afghanischen Spezialsicherheitskräfte (ASSF). Die ANA beaufsichtigt alle afghanischen Boden- und Luftstreitkräfte inklusive der konventionellen ANA-Truppen, der Luftwaffe (AAF), des ANA-Kommandos für Spezialoperationen (ANASOC) des Spezialmissionsflügels (SMW) und der afghanischen Grenzpolizei (ABP) (die ABP seit November 2017, Anm.). Die ANP besteht aus der uniformierten afghanischen Polizei (AUP), der afghanischen Nationalpolizei für zivile Ordnung (ANCOP), der afghanischen Kriminalpolizei (AACP), der afghanischen Lokalpolizei (ALP), den afghanischen Kräften zum Schutz der Öffentlichkeit (APPF) und der afghanischen Polizei zur Drogenbekämpfung (CNPA) (USDOD 6.2017; vgl. USDOD 2.2018, SIGAR 30.4.2018a, Tolonews 6.11.2017). Auch das NDS ist Teil der ANDSF (USDOS 3.3.2017).

 

Die ASSF setzen sich aus Kontingenten des MoD (u. a. dem ANASOC, der Ktah Khas [Anm.: auf geheimdienstliche Anti-Terror-Maßnahmen spezialisierte Einheit] und dem SMW) und des MoI (u.a. dem General Command of Police Special Unit (GCPSU) und der ALP) zusammen (USDOD 6.2017; vgl. USDOD 2.2018).

 

Schätzungen der US-Streitkräfte zufolge betrug die Anzahl des ANDSF-Personals am 31. Jänner 2018 insgesamt 313.728 Mann; davon gehörten 184.572 Mann der ANA an und 129.156 Mann der ANP. Diese Zahlen zeigen, dass sich die Zahl der ANDSF im Vergleich zu Jänner 2017 um ungefähr 17.980 Mann verringert hat (SIGAR 30.4.2018b). Die Ausfallquote innerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte variiert innerhalb der verschiedenen Truppengattungen und Gebieten. Mit Stand Juni 2017 betrug die Ausfallquote der ANDSF insgesamt 2.31%, was im regulären Dreijahresdurchschnitt von 2.20% liegt (USDOD 6.2017).

 

Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. In einer öffentlichen Erklärung der Taliban Führung zum Beginn der Frühjahrsoffensive 2018 (25. April 2018) hieß es: "Die Operation Al-Khandak wird sich neuer, komplexer Taktiken bedienen, um amerikanische Invasoren und ihre Unterstützer zu zermalmen, zu töten und gefangen zu nehmen". Bereits der Schwerpunkt der Frühjahroffensive 2017 "Operation Mansouri" lag auf "ausländischen Streitkräften, ihrer militärischen und nachrichtendienstlichen Infrastruktur sowie auf der Eliminierung ihres heimischen Söldnerapparats." (AA 5 .2018). Afghanische Dolmetscher, die für die internationalen Streitkräfte tätig waren, wurden als Ungläubige beschimpft und waren Drohungen der Taliban und des Islamischen Staates (IS) ausgesetzt (TG 26.5.2018; vgl. E1 2.12.2017).

 

Aktuelle Tendenzen und Aktivitäten der ANDSF

 

Die afghanischen Sicherheitskräfte haben zwar im Jahr 2015 die volle Verantwortung für die Sicherheit des Landes übernommen (AA 9 .2016; vgl. USIP 5.2016); dennoch werden sie teilweise durch US-amerikanische bzw. Koalitionskräfte unterstützt (USDOD 6.2016).

Die USA erhöhten ihren militärischen Einsatz in Afghanistan: Im ersten Quartal des Jahres 2018 wurden US-amerikanische Militärflugzeuge nach Afghanistan gesandt; auch ist die erste U.S. Army Security Force Assistance Brigade, welche die NATO-Kapazität zur Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte verstärken soll, in Afghanistan angekommen (SIGAR 30.4.2018a). Während eines Treffens der NATO-Leitung am 25.5.2017 wurde verlautbart, dass sich die ANDSF-Streitkräfte zwar verbessert hätten, diese jedoch weiterhin Unterstützung benötigen würden (NATO o. D.).

 

Die ANDSF haben in den vergangenen Monaten ihren Druck auf Aufständische in den afghanischen Provinzen erhöht; dies resultierte in einem Anstieg der Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen auf Zivilisten in der Hauptstadt. Wegen der steigenden Unsicherheit in Kabul verlautbarte der für die Resolute Support Mission (RS) zuständige US-General John Nicholson, dass die Sicherheitslage in der Hauptstadt sein primärer Fokus sei (SIGAR 30.4.2018a). Die ANDSF weisen Erfolge in urbanen Zentren auf, hingegen sind die Taliban in ländlichen Gebieten, wo die Kontrolle der afghanischen Sicherheitskräfte gering ist, erfolgreich (USDOD 6.2017). Für das erste Quartal des Jahres 2018 weisen die ANDSF einige Erfolge wie die Sicherung der Konferenz zum Kabuler Prozess im Februar und den Schutz der Einweihungszeremonie des TAPI-Projekts in Herat auf (SIGAR 30.4.2018a). Nachdem die Operation Shafaq II beendet wurde, sind die ANDSF-Streitkräfte nun an der Operation Khalid beteiligt und unterstützen somit Präsident Ghanis Sicherheitsplan bis 2020 (USDOD 6.2017).

 

[...]

 

1.3.5. Allgemeine Menschenrechtslage

 

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (AA 5 .2018).

 

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u. a. von Frauen wegen "moralischer Straftaten") und sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Weitere Probleme sind Gewalt gegenüber Journalisten, Verleumdungsklagen, durchdringende Korruption und fehlende Verantwortlichkeit und Untersuchung bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Diskriminierung von Behinderten, ethnischen Minderheiten sowie aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung, besteht weiterhin mit geringem Zuschreiben von Verantwortlichkeit. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständische Gruppierungen greifen mitunter Zivilisten, Ausländer und Angestellte von medizinischen und nicht-staatlichen Organisationen an und begehen gezielte Tötungen regierungsnaher Personen (USDOS 20.4.2018). Regierungsfreundlichen Kräfte verursachen eine geringere - dennoch erhebliche - Zahl an zivilen Opfern (AI 22.2.2018).

 

Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage (AA 5 .2018). Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 5 .2018; vgl. MPI 27.1.2004). Afghanistan hat die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert (AA 5 .2018). Nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen operieren in der Regel ohne staatliche Einschränkungen und veröffentlichen ihre Ergebnisse zu Menschenrechtsfällen. Regierungsbedienstete sind in dieser Hinsicht einigermaßen kooperativ und ansprechbar (USDOS 20.4.2018). Die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Afghanistan Independent Human Rights Commission AIHRC bekämpft weiterhin Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte, das Komitee für Drogenbekämpfung, berauschende Drogen und ethischen Missbrauch sowie der Jusitz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss (USDOS 20.4.2018).

 

Im Februar 2016 hat Präsident Ghani den ehemaligen Leiter der afghanischen Menschenrechtskommission, Mohammad Farid Hamidi, zum Generalstaatsanwalt ernannt (USDOD 6.2016; vgl. auch NYT 3.9.2016).

 

Seit 1.1.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).

 

[...]

 

1.3.6. Religionsfreiheit

 

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten (CIA 2017; vgl. USCIRF 2017). Schätzungen zufolge sind etwa 10 - 19% der Bevölkerung Schiiten (AA 5 .2018; vgl. CIA 2017). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen ca. 0,3% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (USDOS 15.8.2017).

 

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 15.8.2017). Der politische Islam behält in Afghanistan die Oberhand; welche Gruppierung - die Taliban (Deobandi-Hanafismus), der IS (Salafismus) oder die afghanische Verfassung (moderater Hanafismus) - religiös korrekter ist, stellt jedoch weiterhin eine Kontroverse dar. Diese Uneinigkeit führt zwischen den involvierten Akteuren zu erheblichem Streit um die Kontrolle bestimmter Gebiete und Anhängerschaft in der Bevölkerung (BTI 2018).

 

Das afghanische Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, enthält keine Definition von Apostasie (vgl. MoJ 15.5.2017). Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion als Apostasie. Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtssprechung Proselytismus (Missionierung, Anm.) illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtssprechungnter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 15.8.2017) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung "religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist (MoJ 15.5.2017: Art. 323). Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte (USDOS 15.8.2017).

 

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformerische Muslime behindert (FH 11.4.2018).

 

Anhänger religiöser Minderheiten und Nicht-Muslime werden durch das geltende Recht diskriminiert (USDOS 15.8.2017; vgl. AA 5 .2018); so gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürger/innen unabhängig von ihrer Religion (AA 5 .2018). Wenn weder die Verfassung noch das Straf- bzw. Zivilgesetzbuch bei bestimmten Rechtsfällen angewendet werden können, gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung. Laut Verfassung sind die Gerichte dazu berechtigt, das schiitische Recht anzuwenden, wenn die betroffene Person dem schiitischen Islam angehört. Gemäß der Verfassung existieren keine eigenen, für Nicht-Muslime geltende Gesetze (USDOS 15.8.2017).

 

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten (USDOS 15.8.2017). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind legal, solange das Paar nicht öffentlich ihren nicht-muslimischen Glauben deklariert (HO U.K. 2.2017; vgl. USDOS 10.8.2016). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über die Konfession des/der Inhabers/Inhaberin. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt (USDOS 15.8.2017). Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 15.8.2017).

 

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 15.8.2017).

 

Christen berichteten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber. Mitglieder der christlichen Gemeinschaft, die meistens während ihres Aufenthalts im Ausland zum Christentum konvertierten, würden aus Furcht vor Vergeltung ihren Glauben alleine oder in kleinen Kongregationen in Privathäusern ausüben (USDOS 15.8.2017).

 

Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (CRS 13.12.2017).

 

Beobachtern zufolge sinkt die gesellschaftliche Diskriminierung gegenüber der schiitischen Minderheit weiterhin; in verschiedenen Gegenden werden dennoch Stigmatisierungsfälle gemeldet (USDOS 15.8.2017).

 

Mitglieder der Taliban und des IS töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 15.8.2017; vgl. CRS 13.12.2017, FH 11.4.2018). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 15.8.2017).

 

[...]

 

Schiiten

 

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt (CIA 2017; vgl. USCIRF 2017). Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara (USDOS 15.8.2017). Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan leben einige schiitische Belutschen (BFA Staatendokumentation 7.2016). Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran (CRS 13.12.2017).

 

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 11.4.2018). Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (USDOS 15.8.2017).

 

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime ca. 30% (AB 7.6.2017; vgl. USDOS 15.8.2017). Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 15.8.2017).

 

Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen (USDOS 15.8.2017). Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet (CRS 13.12.2017). In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS (HRW 2018; vgl. USCIRF 2017).

 

Unter den Parlamentsabgeordneten befinden sich vier Ismailiten. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten (USDOS 15.8.2017).

 

[...]

 

1.3.7. Ethnische Minderheiten

 

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen (CIA Factbook 18.1.2018). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. CIA Factbook 18.1.2018). Schätzungen zufolge, sind: 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4% der Bevölkerung ausmachen (GIZ 1.2018; vgl. CIA Factbook 18.1.2018).

 

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet." (BFA Staatendokumentation 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 5 .2018; vgl. MPI 27.1.2004). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 20.4.2018).

 

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 5 .2018). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.4.2018).

 

Hazara

 

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus (CIA Factbook 18.1.2018; CRS 12.1.2015). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden (BFA Staatendokumentation 7.2016); andererseits gehören ethnische Hazara hauptsäch dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. AJ 27.6.2016, UNAMA 15.2.2018). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (BFA Staatendokumentation 7.2016).

 

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Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (BFA Staatendokumentation 7.2016).

 

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (BFA Staatendokumentation 7.2016). Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert (AA 5 .2018; vgl. IaRBoC 20.4.2016); vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet (CRS 12.1.2015; vgl. GD 2.10.2017). Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht (BFA Staatendokumentation 7.2016). Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (GD 2.10.2017).

 

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft (IaRBoC 20.4.2016). So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt (IaRBoC 20.4.2016; vgl. BFA/EASO 1.2018); Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke (IaRBoC 20.4.2016).

 

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf (AA 9 .2016; vgl. USDOS 20.4.2018); soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (USDOS 20.4.2018).

 

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (Brookings 25.5.2017).

 

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Kutschi

 

Die Kutschi sind die Nomaden Afghanistans. Sie sind Angehörige der paschtunischen Volksgruppe und verteilen sich im ganzen Land (Telepolis 2.11.2017). Wenngleich die tatsächliche Anzahl der Nomaden in Afghanistan unbekannt ist, kann deren Anwesenheit als signifikant bezeichnet werden und wirkt sich auf die ländliche Wirtschaft aus (AREU 1.2018). Im Jahr 2004 wurde die Anzahl der "aktiv migrierenden" Nomaden in Afghanistan auf 1.5 Millionen geschätzt (AREU 1.2018; vgl. AA 5 .2018). Diese Zahl beinhaltetet sowohl alle nomadischen Haushalte als auch aktiv migrierende Mitglieder von teilweise niedergelassenen Haushalten. Dennoch wird angenommen, dass die Zahl der Nomaden heutzutage niedriger ist. Die Anzahl jener vollständig-nomadischer Haushalte, die noch in Zelten leben und kein fixes Heim haben, ist heute wahrscheinlich gering. Viele nomadische Gemeinschaften sind teilweise sesshaft. Manche Mitglieder leben in Häusern und migrieren auch saisonal nicht, während andere Mitglieder mit dem Viehbestand jährlich in grünere Regionen migrieren (AREU 1.2018).

 

Im Rahmen eines Projektes wurden zwischen 2008 und 2009 die nomadischen Migrationsrouten untersucht. Daraus ging hervor, dass der Großteil der Nomaden während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajats (zentrales Hochland) zieht (AREU 1.2018).

 

Die Beziehung zwischen Nomaden und Bauern ist komplex - noch vor dem Konflikt existierten zumindest einige symbiotische Elemente: so verkauften die Nomaden in abgelegenen Dörfern Waren, an die man dort nur schwer gelangen konnte. Nachdem sich das afghanische Straßennetz entwickelte, wurden diese Handelsaktivitäten für einen Großteil der ländlichen Gesellschaft überflüssig. Gleichzeitig kam es in bestimmten Gegenden zu Spannungen zwischen Nomaden und Bauern (AREU 1.2018).

 

Die Wurzeln des Konfliktes zwischen Kutschi-Nomaden und Hazara in Zentralafghanistan reichen bis in das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Seit 2007 hat sich der Konflikt um das Weideland in den Provinzen Wardak und Ghazni zunehmend verschärft und mündete immer wieder in gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kutschi und Hazara. Trotz der Mediationsbemühungen von Seiten der afghanischen Regierung und der Vereinten Nationen ist der Konflikt bisher, sowohl rechtlich als auch politisch, ungelöst (365 Tage 28.1.2014).

 

Trotzdem haben die Kutschi in Fragen um Ländereien einen guten Draht zur Regierung in Kabul. Einige Kutschi wie Hashmat Ghani, der Bruder des gegenwärtigen Präsidenten Ashraf Ghani und Repräsentant aller Kutschi in Afghanistan, sind reiche Geschäftsmänner. Dennoch sind die meisten Kutschi-Nomaden sehr arm, leben in einfachen Verhältnissen und sind als Hirten oder Händler tätig (Telepolis 2.11.2017). Die Regierung verfügt mit dem unabhängigen Direktorium für die Angelegenheiten der Kutschi, über eine eigene Organisationseinheit, welche die Angelegenheiten der Kutschi behandelt (RFE/RFL 18.9.2015).

 

Der afghanischen Verfassung zufolge ist die Regierung verpflichtet, den Kutschi Land für die permanente Nutzung zur Verfügung zu stellen und ihre Integration in besiedelten Gebieten zu fördern (RFE/RFL 18.9.2015).

 

Die Verfassung sieht vor, dass zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung für die Kutschi-Minderheit reserviert sind (USDOS 20.4.2018). Auch sollen laut Verfassung vom Präsidenten zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden (AAN 4.2.2016; vgl. CRS 15.1.2015, USDOS 20.4.2018).

 

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1.3.8. Frauen

 

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018). Viel hat sich seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5 .2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9 .2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5 .2018).

 

Bildung

 

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).

 

Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).

 

Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon

77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).

 

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).

 

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).

 

Berufstätigkeit

 

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5 .2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o. D.).

 

Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).

 

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts. Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

 

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9 .2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5 .2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018).

 

[...]

 

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

 

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 5 .2018; vgl. MPI 27.1.2004). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 5 .2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9 .2016).

 

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 5 .2018). Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden (USDOS 20.4.2018). Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen (AA 9 .2016). Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die FRU sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen. Im Jahr 2017 existierten 208 FRU im Land (USDOD 12.2017).

 

EVAW-Gesetz

 

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt (AA 5 .2018). Das EVAW-Gesetz ist nach wie vor in seiner Form als eigenständiges Gesetz gültig (Pajhwok 11.11.2017; vgl. UNN 22.2.2018); und bietet rechtlichen Schutz für Frauen (UNAMA 22.2.2018).

 

Das EVAW-Gesetz definiert fünf schwere Straftaten gegen Frauen:

Vergewaltigung, Zwangsprostitution, die Bekanntgabe der Identität eines Opfers, Verbrennung oder Verwendung von chemischen Substanzen und erzwungene Selbstverbrennung oder erzwungener Selbstmord. Dem EVAW-Gesetz zufolge muss der Staat genannte Verbrechen untersuchen und verfolgen, auch, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018). Das EVAW-Gesetz wird jedoch weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 5 .2018).

 

Frauenhäuser

 

Nichtregierungsorganisation in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, zu denen auch Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen, zählen. Alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Gruppen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan. Oftmals versuchen Väter ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z. B. Frauenhäuser) (UNAMA/OHCHR 5.2018).

 

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft für die Notlage (mit-)verantwortlich ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 5 .2018). Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte (AA 5 .2018; vgl. NYT 17.3.2018). Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 5 .2018). Die EVAW-Institutionen konsultieren in der Regel die Familie und das Opfer, bevor sie es in ein Frauenhaus bringen (UNAMA/OHCHR 5.2018).

 

Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung

 

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 5 .2018). Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 4.12.2017). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018).

 

Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet und die Rekrutierung von Frauen in der Polizei verstärkt. Mittlerweile existieren für Frauen 205 Spezialeinsatzeinheiten, die hauptsächlich von weiblichen Mitarbeiterinnen der afghanischen Nationalpolizei geleitet werden (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Legales Heiratsalter:

 

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5 .2018). Dem Gesetz zufolge muss vor dem Ehevertrag das Alter der Braut festgestellt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt Geburtsurkunden. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen (USDOS 20.4.2018). Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden. Berichte deuten an, dass diese "Aufschiebung" eher selten eingehalten wird. Medienberichten zufolge existiert auch das sogenannte "Opium-Braut-Phänomen", dabei verheiraten Bauern ihre Töchter, um Schulden bei Drogenschmugglern zu begleichen (USDOS 3.3.2017).

 

Familienplanung und Verhütung

 

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 5 .2018). Ohne Diskriminierung, Gewalt und Nötigung durch die Regierung steht es Paaren frei, ihren Kinderwunsch nach ihrem Zeitplan, Anzahl der Kinder usw. zu verwirklichen. Es sind u.a. die Familie und die Gemeinschaft, die Druck auf Paare zur Reproduktion ausüben (USDOS 3.3.2017). Auch existieren keine Berichte zu Zwangsabtreibungen, unfreiwilliger Sterilisation oder anderen zwangsverabreichten Verhütungsmitteln zur Geburtenkontrolle (USDOS 20.4.2018). Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 5 .2018; vgl. USDOS 3.3.2017).

 

Orale Empfängnisverhütungsmittel, Intrauterinpessare, injizierbare Verhütungsmethoden und Kondome sind erhältlich; diese werden kostenfrei in öffentlichen Gesundheitskliniken und zu subventionierten Preisen in Privatkliniken und durch Community Health Workers (CHW) zur Verfügung gestellt (USDOS 3.3.2017).

 

Ehrenmorde

 

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 3.3.2017). Laut AIHRC waren von 277 Mordfällen an Frauen im Jahr 2017 136 Eherenmorde (AIHRC 11.3.2018; vgl. Tolonews 11.3.2018).

 

Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist das Misstrauen eines Großteils der afghanischen Bevölkerung in das juristische System (KP 23.3.2016).

 

Reisefreiheit

 

Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen: Manchmal ist es der Vater, der seiner Tochter nicht erlaubt alleine zu reisen und manchmal ist es die Frau selbst, die nicht alleine reisen will. In vielen Firmen, öffentlichen Institutionen sowie NGOs ist die Meinung verbreitet, dass Frauen nicht alleine in die Distrikte reisen sollten und es daher besser sei einen Mann anzustellen. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann nach eigener Aussage eine NGO-Vertreterin selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Während früherer Regierungen (vor den Taliban) war das Tragen des Chador bzw. des Hijab nicht verpflichtend - eine Frau konnte auch ohne sie außer Haus gehen, ohne dabei mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab heute nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden. Andere Provinzen sind bei diesem Thema viel strenger. In Mazar-e Sharif könnte es in Einzelfällen sogar möglich sein, ganz auf den Hijab zu verzichten, ohne behelligt zu werden. Garantie besteht darauf natürlich keine (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Frauen in Afghanistan ist es zwar nicht verboten Auto zu fahren, dennoch tun dies nur wenige. In unzähligen afghanischen Städten und Dörfern, werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Viele Eltern unterstützen zwar grundsätzlich die Idee ihren Töchtern das Autofahren zu erlauben, haben jedoch Angst vor öffentlichen Repressalien. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind. In Kabul sowie in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Jalalabad gibt es einige Fahrschulen; in Kabul sogar mehr als 20 Stück. An ihnen sind sowohl Frauen als auch Männer eingeschrieben. In Kandahar zum Beispiel sind Frauen generell nur selten alleine außer Haus zu sehen - noch seltener als Lenkerin eines Fahrzeugs. Jene, die dennoch fahren, haben verschiedene Strategien um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Manche tragen dabei einen Niqab, um unerkannt zu bleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 5 .2018).

 

[...]

 

1.3.9. Kinder

 

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika) (AA 5 .2018). Landesweit gehen in den meisten Regionen Mädchen und Buben in der Volksschule in gemischten Klassen zur Schule; erst in der Mittel- und Oberstufe werden sie getrennt (USDOS 3.3.2017).

 

Bildungssystem in Afghanistan

 

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht (die Grundschule dauert sechs Jahre und die Unterstufe der Sekundarbildung drei Jahre). Das Gesetz sieht kostenlose Schulbildung bis zum Hochschulniveau vor (USDOS 20.4.2018).

 

Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Manchmal fehlen auch Schulen in der Nähe des Wohnortes (USDOS 3.3.2017). Auch sind in von den Taliban kontrollierten Gegenden gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. Taliban und andere Extremisten bedrohen und greifen Lehrer/innen sowie Schüler/innen an und setzen Schulen in Brand (USDOS 20.4.2018). Nichtregierungsorganisationen sind im Bildungsbereich tätig, wie z. B. UNICEF, NRC, AWEC und Save the Children. Eine der Herausforderungen für alle Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich - speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind. UNICEF unterstützt daher durch die Identifizierung von Dorfgemeinschaften, die mehr als drei Kilometer von einer ordentlichen Schule entfernt sind. Dort wird eine Dorfschule mit lediglich einer Klasse errichtet. UNICEF bezeichnet das als "classroom". Auf diese Art "kommt die Schule zu den Kindern". Auch wird eine Lehrkraft aus demselben, gegebenenfalls aus dem nächstgelegenen Dorf, ausgewählt - bevorzugt werden Frauen. Lehrkräfte müssen fortlaufend Tests des Provinzbüros des Bildungsministeriums absolvieren. Je nach Ausbildungsstand beträgt das monatliche Gehalt der Lehrkräfte zwischen US$ 90 und 120. Die Infrastruktur für diese Schulen wird von der Dorfgemeinschaft zur Verfügung gestellt, UNICEF stellt die Unterrichtsmaterialien. Aufgrund mangelnder Finanzierung sind Schulbücher knapp. Wenn keine geeignete Lehrperson gefunden werden kann, wendet sich UNICEF an den lokalen Mullah, um den Kindern des Dorfes doch noch den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. UNICEF zufolge ist es wichtig, Kindern die Möglichkeit zu geben, auch später einem öffentlichen Schulplan folgen zu können (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

In Afghanistan existieren zwei parallele Bildungssysteme; religiöse Bildung liegt in der Verantwortung des Klerus in den Moscheen, während die Regierung kostenfreie Bildung an staatlichen Einrichtungen bietet (BFA Staatendokumentation 4.2018). Nachdem in den meisten ländlichen Gemeinden konservative Einstellungen nach wie vor präsent sind, ist es hilfreich, wenn beim Versuch Modernisierungen durchzusetzen, auf die Unterstützung lokaler Meinungsträger zurückgegriffen wird - vor allem lokaler religiöser Würdenträger, denen die Dorfgemeinschaft vertraut. Im Rahmen von Projekten arbeiten unterschiedliche UN-Organisationen mit religiösen Führern in den Gemeinden zusammen, um sie in den Bereichen Frauenrechte, Bildung, Kinderehen und Gewalt, aber auch Gesundheit, Ernährung und Hygiene zu beraten. Eines dieser Projekte wurde von UNDP angeboten; als Projektteilnehmer arbeiten die Mullahs der Gemeinden, die weiterzugebenden Informationen in ihre Freitagpredigten ein. Auch halten sie Workshops zu Themen wie Bildung für Mädchen, Kinderehen und Gewalt an Frauen. Auf diesem Wege ist es ihnen möglich eine Vielzahl von Menschen zu erreichen. Im Rahmen eines Projektes hat UNICEF im Jahr 2003 mit rund 80.000 Mullahs zusammengearbeitet, mit dem Ziel Informationen zu Gesundheit, Ernährung, Hygiene, Bildung und Sicherheit in ihre Predigten einzubauen. Die tatsächliche Herausforderung dabei ist es, die Informationen in den Predigten zu vermitteln, ohne dabei Widerstand innerhalb der Gemeinschaft hervorzurufen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Der gewaltfreie Umgang mit Kindern hat sich in Afghanistan noch nicht als Normalität durchsetzen können (AA 9 .2016). Körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld (AA 9 .2016; vgl. CAN 2.2018), in Schulen oder durch die afghanische Polizei sind verbreitet. Dauerhafte und durchsetzungsfähige Mechanismen seitens des Bildungsministeriums, das Gewaltpotenzial einzudämmen, gibt es nicht. Gerade in ländlichen Gebieten gehört die Ausübung von Gewalt zu den gebräuchlichen Erziehungsmethoden an Schulen. Das Curriculum für angehende Lehrer beinhaltet immerhin Handreichungen zur Vermeidung eines gewaltsamen Umgangs mit Schülern (AA 9 .2016). Einer Befragung in drei Städten zufolge (Jalalabad, Kabul und Torkham), berichteten Kinder von physischer Gewalt - auch der Großteil der befragten Eltern gab an, physische Gewalt als Disziplinierungsmethode anzuwenden. Eltern mit höherem Bildungsabschluss und qualifizierterem Beruf wendeten weniger Gewalt an, um ihre Kinder zu disziplinieren (CAN 2.2018).

 

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Kinderarbeit

 

Das Arbeitsgesetz in Afghanistan setzt das Mindestalter für Arbeit mit 18 Jahren fest; es erlaubt Jugendlichen ab 14 Jahren als Lehrlinge zu arbeiten und solchen über 15 Jahren "einfache Arbeiten" zu verrichten. 16- und 17-Jährige dürfen bis zu 35 Stunden pro Woche arbeiten. Kinder unter 14 Jahren dürfen unter keinen Umständen arbeiten. Das Arbeitsgesetz verbietet die Anstellung von Kindern in Bereichen, die ihre Gesundheit gefährden. In Afghanistan existiert eine Liste, die gefährliche Jobs definiert; dazu zählen: Arbeit im Bergbau, Betteln, Abfallentsorgung und Müllverbrennung, arbeiten an Schmelzöfen sowie in großen Schlachthöfen, arbeiten mit Krankenhausabfall oder Drogen, arbeiten als Sicherheitspersonal und Arbeit im Kontext von Krieg (USDOS 20.4.2018).

 

Afghanistan hat die Konvention zum Schutze der Kinder ratifiziert (AA 5 .2018; vgl. UNTC 9.4.2018). Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten (AA 5 .2018). Berichten zufolge arbeiten mindestens 15% der schulpflichtigen Kinder (IRC 15.2.2018; vgl. FEWS NET 29.3.2018, IDMC 1.2018). Viele Familien sind auf die Einkünfte ihrer Kinder angewiesen (AA 5 .2018; vgl. IDMC 1.2018). Daher ist die konsequente Umsetzung eines Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt allerdings Programme, die es Kindern erlauben sollen, zumindest neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z. B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) wurden gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen für diese gesetzlichen Regelungen (AA 5 .2018). Allgemein kann gesagt werden, dass schwache staatliche Institutionen die effektive Durchsetzung des Arbeitsrechts hemmen und die Regierung zeigt nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5 .2018).

 

Kinderarbeit bleibt ein tiefgreifendes Problem (USDOS 20.4.2018; vgl. IRC 15.2.2018, FEWS NET 29.3.2018, IDMC 1.2018). Das Arbeitsministerium verweigert Schätzungen zur Zahl der arbeitenden Kinder in Afghanistan und begründet dies mit fehlenden Daten und Mängeln bei der Geburtenregistrierung. Dies schränkt die ohnehin schwachen Kapazitäten der Behörden bei der Durchsetzung des Mindestalters für Arbeit ein. Berichten zufolge werden weniger als 10% der Kinder bei Geburt registriert. Oft sind Kinder sexuellem Missbrauch durch erwachsene Arbeiter ausgesetzt (USDOS 20.4.2018).

 

[...]

 

1.3.10. Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge

 

Wegen des Konflikts wurden im Jahr 2017 insgesamt 475.433 Menschen in Afghanistan neu zu Binnenvertriebenen (IDPs) (UN GASC 27.2.2018). Im Zeitraum 2012-2017 wurden insgesamt 1.728.157 Menschen im Land zu Binnenvertriebenen (IOM/DTM 26.3.2018).

 

Zwischen 1.1.2018 und 15.5.2018 wurden 101.000 IDPs registriert. 23% davon sind erwachsene Männer, 21% erwachsene Frauen und 55% minderjährige Kinder (UN OCHA 15.5.2018).

 

[...]

 

Zwischen 1.1.2018 und 29.4.2018 waren die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Binnenvertriebenen Kunduz und Faryab (USAID 30.4.2018). Mit Stand Dezember 2017 waren die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Binnenvertriebenen Herat, Nangarhar, Kabul, Kandahar, Takhar, Baghlan, Farah, Balkh, Herat, Kunduz, Kunar, Khost, Nimroz, Logar, Laghman und Paktya (IOM 8.5.2018; vgl. IOM/DTM 26.3.2018). Vertriebene Bevölkerungsgruppen befinden sich häufig in schwer zugänglichen und unsicheren Gebieten, was die afghanischen Regierungsbehörden und Hilfsorganisationen bei der Beurteilung der Lage bzw. bei Hilfeleistungen behindert. Ungefähr 30% der 2018 vertriebenen Personen waren mit Stand 21.3.2018 in schwer zugänglichen Gebieten angesiedelt (USAID 30.4.2018).

 

[...]

 

Die meisten IDPs stammen aus unsicheren ländlichen Ortschaften und kleinen Städten und suchen nach relativ besseren Sicherheitsbedingungen sowie Regierungsdienstleistungen in größeren Gemeinden und Städten innerhalb derselben Provinz (USDOS 20.4.2018). Mit Stand Dezember 2017 lebten 54% der Binnenvertriebenen in den afghanischen Provinzhauptstädten. Dies führte zu weiterem Druck auf die bereits überlasteten Dienstleistungen sowie die Infrastruktur sowie zu einem zunehmenden Kampf um die Ressourcen zwischen den Neuankömmlingen und der einheimischen Bevölkerung (UN OCHA 12.2017).

 

Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Ein Großteil der Binnenflüchtlinge ist auf humanitäre Hilfe angewiesen (AA 5 .2018).

 

Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führt zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und rechtzeitigen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlt weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand haben oft Schwierigkeiten grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen. Berichten zufolge werden viele Binnenvertriebene diskriminiert, haben keinen Zugang zu angemessenen Sanitäranlagen sowie anderen grundlegenden Dienstleistungen und leben unter dem ständigen Risiko, aus ihren illegal besetzten Quartieren delogiert zu werden (USDOS 20.4.2018).

 

Binnenvertriebene, Flüchtlinge und Rückkehrende sind wegen des Mangels an landwirtschaftlichem Besitz und Vermögen besonders gefährdet. Berichten zufolge brauchen mehr als 80% der Binnenvertriebenen Nahrungsmittelhilfe (USAID 30.4.2018). Die afghanische Regierung kooperierte mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, Rückkehrern und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Unterstützungsfähigkeit der afghanischen Regierung gegenüber vulnerablen Personen - inklusive Rückkehrern aus Pakistan und Iran - ist beschränkt und auf die Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Die Regierung hat einen Exekutivausschuss für Vertriebene und Rückkehrer sowie einen politischen Rahmen und einen Aktionsplan eingerichtet, um die erfolgreiche Integration von Rückkehrern und Binnenvertriebenen zu fördern (USDOS 20.4.2018). Im Rahmen der humanitären Hilfe wurden IDPs je nach Region und klimatischen Bedingungen unterschiedlich unterstützt, darunter Nahrungspakete, Non-Food-Items (NFI), grundlegende Gesundheitsdienstleistungen, Hygienekits usw. (UN OCHA 27.5.2018; vgl. UN OCHA 20.5.2018, UN OCHA 21.1.2018).

 

Organisationen wie Afghanaid, Action Contre La Faim (ACF), Agency for Technical Cooperation and Development (ACTED), Afghan Red Crescent Society (ARCS), Afghanistan National Disaster Management Authority (ANDMA), CARE, Danish Committee for Aid to Afghan Refugees (DACAAR), IOM, Danish Refugee Council (DRC), New Consultancy and Relief Organization (NCRO), Save the Children International (SCI), UN's Children Fund (UNICEF), UNHCR, World Food Programme (WFP) bieten u.a. Binnenvertriebenen Hilfeleistungen in Afghanistan an (UN OCHA 27.5.2018; vgl. UN OCHA 20.5.2018).

 

[...]

 

1.3.11. Medizinische Versorgung

 

Gemäß Artikel 52 der afghanischen Verfassung muss der Staat allen Bürgern kostenfreie primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten; gleichzeitig sind im Grundgesetz die Förderung und der Schutz privater Gesundheitseinrichtungen vorgesehen (MPI 27.1.2004; Casolino 2011). Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Berichten zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Behandlung stark einkommensabhängig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung (AA 5 .2018).

 

In den letzten zehn Jahren hat die Flächendeckung der primären Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen (WHO o.D.). Das afghanische Gesundheitssystem hat in dieser Zeit ansehnliche Fortschritte gemacht (TWBG 10.2016; vgl. USAID 25.5.2018). Gründe dafür waren u. a. eine solide öffentliche Gesundheitspolitik, innovative Servicebereitstellung, Entwicklungshilfen usw. (TWBG 10.2016). Einer Umfrage der Asia Foundation (AF) zufolge hat sich 2017 die Qualität der afghanischen Ernährung sowie der Gesundheitszustand in den afghanischen Familien im Vergleich zu 2016 gebessert (AF 11.2017).

 

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Strategieplan für den Gesundheitssektor (2011-2015) und eine nationale Gesundheitspolicy (2012-2020) entwickelt, um dem Großteil der afghanischen Bevölkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung zu garantieren (WHO o.D.).

 

Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualität der Gesundheitsversorgung wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Müttern, Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren liegen die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin unter dem Durchschnitt der einkommensschwachen Länder. Des Weiteren hat Afghanistan eine der höchsten Unterernährungsraten der Welt. Etwa 41% der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel (TWBG 10.2016). In den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen: Während die Müttersterblichkeit früher bei 1.600 Todesfällen pro 100.000 Geburten lag, belief sie sich im Jahr 2015 auf 324 Todesfälle pro 100.000 Geburten. Allerdings wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer berichtet. Bei Säuglingen liegt die Sterblichkeitsrate mittlerweile bei 45 Kindern pro 100.000 Geburten und bei Kindern unter fünf Jahren sank die Rate im Zeitraum 1990 - 2016 von 177 auf 55 Sterbefälle pro 1.000 Kindern. Trotz der Fortschritte sind diese Zahlen weiterhin kritisch und liegen deutlich über dem regionalen Durchschnitt (AA 5 .2018). Weltweit sind Afghanistan und Pakistan die einzigen Länder, die im Jahr 2017 Poliomyelitis-Fälle zu verzeichnen hatten; nichtsdestotrotz ist deren Anzahl bedeutend gesunken. Impfärzte können Impfkampagnen sogar in Gegenden umsetzen, die von den Taliban kontrolliert werden. In jenen neun Provinzen, in denen UNICEF aktiv ist, sind jährlich vier Polio-Impfkampagnen angesetzt. In besonders von Polio gefährdeten Provinzen wie Kunduz, Faryab und Baghlan wurden zusätzliche Kampagnen durchgeführt (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Krankenkassen und Gesundheitsversicherung

 

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) bietet zwei Grundversorgungsmöglichkeiten an: das "Essential Package of Health Services" (EPHS) und das "Basic Package of Health Services" (BPHS), die im Jahr 2003 eingerichtet wurden (MoPH 7.2005; vgl. MedCOI 4.1.2018). Beide Programme sollen standardisierte Behandlungsmöglichkeiten in gesundheitlichen Einrichtungen und Krankenhäusern garantieren. Die im BPHS vorgesehenen Gesundheitsdienstleistungen und einige medizinische Versorgungsmöglichkeiten des EPHS sind kostenfrei. Jedoch zahlen Afghanen und Afghaninnen oft aus eigener Tasche, weil sie private medizinische Versorgungsmöglichkeiten bevorzugen, oder weil die öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen die Kosten nicht ausreichend decken (MedCOI 24.2.2017). Es gibt keine staatliche Unterstützung für den Erwerb von Medikamenten. Die Kosten dafür müssen von den Patienten getragen werden. Nur privat versicherten Patienten können die Medikamentenkosten zurückerstattet werden (IOM 5.2.2018).

 

Medizinische Versorgung wird in Afghanistan auf drei Ebenen gewährleistet: Gesundheitsposten (HP) und Gesundheitsarbeiter (CHWs) bieten ihre Dienste auf Gemeinde- oder Dorfebene an; Grundversorgungszentren (BHCs), allgemeine Gesundheitszentren (CHCs) und Bezirkskrankenhäuser operieren in den größeren Dörfern und Gemeinschaften der Distrikte. Die dritte Ebene der medizinischen Versorgung wird von Provinz- und Regionalkrankenhäusern getragen. In urbanen Gegenden bieten städtische Kliniken, Krankenhäuser und Sonderkrankenanstalten jene Dienstleistungen an, die HPs, BHCs und CHCs in ländlichen Gebieten erbringen (MoPH 7.2005; vgl. AP&C 9.2016). 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden dennoch nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (AA 5 .2018).

 

Beispiele für Behandlung psychischer erkrankter Personen in Afghanistan

 

In der afghanischen Bevölkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Jedoch ist der Fortschritt schleppend und die Leistungen außerhalb von Kabul sind dürftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen und psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden genauso wie Kranke und Alte gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gemeinschaftliche Unterstützung sicherstellen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam. So existieren z. B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in einigen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Personen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Einige dieser NGOs sind die International Psychological Organisation (IPSO) in Kabul, die Medica Afghanistan und die PARSA (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt" oder es wird ihnen durch eine "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu betreiben (AA 9 .2016; vgl. AP 18.8.2016). Beispielweise wurde in der Provinz Badakhshan durch internationale Zusammenarbeit ein Projekt durchgeführt, bei dem konventionelle und kostengünstige e-Gesundheitslösungen angewendet werden, um die vier häufigsten psychischen Erkrankungen zu behandeln: Depressionen, Psychosen, posttraumatische Belastungsstörungen und Suchterkrankungen. Erste Evaluierungen deuten darauf hin, dass in abgelegenen Regionen die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert werden konnte. Auch die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter konnte reduziert werden (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Trotzdem findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt (AA 5 .2018).

 

Krankenhäuser in Afghanistan

 

Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos. Dennoch ist es üblich, dass Patienten Ärzte und Krankenschwestern bestechen, um bessere bzw. schnellere medizinische Versorgung zu bekommen (IOM 5.2.2018). Eine begrenzte Anzahl an staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Für den Zugang zur medizinischen Versorgung sind der Besitz der afghanischen Staatsbürgerschaft und die Mitnahme eines gültigen Ausweises bzw. der Tazkira erforderlich (RFG 2017). In öffentlichen Krankenhäusern in den größeren Städten Afghanistans können leichte und saisonbedingte Krankheiten sowie medizinische Notfälle behandelt werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Beeinträchtigungen wie Herz-, Nieren-, Leber- und Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, die eine komplexe, fortgeschrittene Behandlung erfordern, wegen mangelnder technischer bzw. fachlicher Expertise nicht behandelt werden können (IOM 5.2.2018). Chirurgische Eingriffe können nur in bestimmten Orten geboten werden, die meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufweisen (RFG 2017). Wenn eine bestimmte medizinische Behandlung in Afghanistan nicht möglich ist, sehen sich Patienten gezwungen ins Ausland, meistens nach Indien, in den Iran, nach Pakistan und in die Türkei zu reisen. Da die medizinische Behandlung im Ausland kostenintensiv ist, haben zahlreiche Patienten, die es sich nicht leisten können, keinen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Behandlung (IOM 5.2.2018).

 

Es folgt eine Liste einiger staatlicher Krankenhäuser:

 

[...]

 

Es gibt zahlreiche private Kliniken, die auf verschiedene medizinische Fachbereiche spezialisiert sind. Es folgt eine Liste einiger privater Gesundheitseinrichtungen:

 

[...]

 

Beispiele für Nichtregierungsinstitutionen vor Ort

 

[...]

 

PARSA Afghanistan

 

Parsa ist seit 1996 als registrierte NGO in Afghanistan tätig. Die Organisation spezialisiert sich u.a. auf psychologische Leistungen und Ausbildung von afghanischem Fachpersonal, das in sozialen Schutzprogrammen tätig ist und mit vulnerablen Personen arbeitet. Zu diesen Fachkräften zählen Mitarbeiter in Zentren für Binnenvertriebene, Frauenhäusern und Waisenhäusern sowie Fachkräfte, die in lokalen Schulen am Projekt "Healthy Afghan Girl" mitarbeiten und andere Unterstützungsgruppen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Weitere Projekte

 

Das Telemedizinprojekt des Mobilfunkanbieters Roshan, verbindet Ärzte in ländlichen Gegenden mit Spezialisten im französischen Kindermedizininstitut in Kabul und dem Aga Khan Universitätskrankenhaus in Pakistan. Durch eine Hochgeschwindigkeits-Videoverbindung werden mittellose Patienten auf dem Land von Fachärzten diagnostiziert. Unter anderem bietet die von Roshan zur Verfügung gestellte Technologie afghanischen Ärzten die Möglichkeit, ihre medizinischen Kenntnisse zu erweitern und auf den neuesten Stand zu bringen (GI 17.12.2016; vgl. NCBI 23.3.2017).

 

[...]

 

1.3.12. Rückkehr

 

Als Rückkehrer/innen werden jene afghanische Staatsbürger/innen bezeichnet, die nach Afghanistan zurückgekehrt sind, nachdem sie mindestens sechs Monate im Ausland verbracht haben. Dazu zählen sowohl im Ausland registrierte Afghan/innen, die dann die freiwillige Rückkehr über UNHCR angetreten haben, als auch nicht-registrierte Personen, die nicht über UNHCR zurückgekehrt sind, sondern zwangsweise rückgeführt wurden. Insgesamt sind in den Jahren 2012-2017 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt. Die Anzahl der Rückkehrer/innen hat sich zunächst im Jahr 2016 im Vergleich zum Zeitraum 2012-2015, um 24% erhöht, und ist im Jahr 2017 um 52% zurückgegangen. In allen drei Zeiträumen war Nangarhar jene Provinz, die die meisten Rückkehrer/innen zu verzeichnen hatte (499.194); zweimal so viel wie Kabul (256.145) (IOM/DTM 26.3.2018). Im Jahr 2017 kehrten IOM zufolge insgesamt 98.191 Personen aus Pakistan und 462.361 Personen aus Iran zurück (sowohl freiwillig, als auch zwangsweise) (IOM 2.2018). Im Jahr 2018 kehrten mit Stand

21.3. 1.052 Personen aus angrenzenden Ländern und nicht-angrenzenden Ländern zurück (759 davon kamen aus Pakistan). Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (IOM 7.7.2017).

 

Im Rahmen des Tripartite Agreement (Drei-Parteien-Abkommen) unterstützt UNHCR die freiwillige Repatriierung von registrierten afghanischen Flüchtlingen aus Pakistan und Iran. Insgesamt erleichterte UNHCR im Jahr 2017 die freiwillige Rückkehr von 58.817 Personen (98% aus Pakistan sowie 2% aus Iran und anderen Ländern) (UNHCR 3.2018). [...]

 

Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. [...]

 

Unterschiedliche Organisationen sind für Rückkehrer/innen unterstützend tätig:

 

UNHCR ist bei der Ankunft von Rückkehrer/innen anwesend, begleitet die Ankunft und verweist Personen welche einen Rechtsbeistand benötigen an die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission). UNHCR und die Weltbank haben im November 2017 ein Abkommen zur gemeinsamen Datennutzung unterzeichnet, um die Reintegration afghanischer Rückkehrer/innen zu stärken. UNHCR leitet Initiativen, um nachhaltige Lösungen in den Provinzen Herat und Nangarhar zu erzielen, indem mit nationalen Behörden/Ministerien und internationalen Organisationen (UNICEF, WHO, IOM, UNDP, UN Habitat, WFP und FAO) zusammengearbeitet wird. Diese Initiativen setzen nationale Pläne in gemeinsame Programme in jenen Regionen um, die eine hohe Anzahl an Rückkehrer/innen und Binnenvertriebenen vorzuweisen haben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

 

Psychologische Unterstützung von Rückkehrer/innen wird über die Organisation IPSO betrieben - alle Leistungen sind kostenfrei. Diejenigen, die es benötigen und in abgelegene Provinzen zurückkehren, erhalten bis zu fünf Skype-Sitzungen von IPSO. Für psychologische Unterstützung könnte auch ein Krankenhaus aufgesucht werden; möglicherweise mangelt es diesen aber an Kapazitäten (BFA Staatendokumentation 4.2018). [...]"

 

2. Beweiswürdigung:

 

2.1. Zu den Feststellungen zu den BF:

 

2.1.1. Die Feststellungen zur Identität der BF ergeben sich aus dem Akt der belangten Behörde sowie der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität der BF getroffen wurden, gelten diese ausschließlich für die Identifizierung der Person der BF im Asylverfahren).

 

Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit der BF sowie ihrer Heimatorte gründen sich auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben; das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen - im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen der BF zu zweifeln. Diese Beurteilung kann ebenso hinsichtlich ihres Familienstandes und der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den BF getroffen werden. Aus den Angaben des BF3 ergibt sich ferner, dass es sich bei den BF1 und BF2 um Cousins handelt (BVwG 12.10.2018, S. 6) und passt diese Angabe sonstigen Angaben der BF. Aus der Erstbefragung sowie der niederschriftlichen Einvernahme durch das BFA ergibt sich, dass die BF muttersprachlich Dari sprechen. Dies bestätigte sich in der mündlichen Beschwerdeverhandlung.

 

Die BF bestätigten, dass sie der Volksgruppe der Turkmenen angehören und ergibt sich aus ihren weiteren Angaben, dass sie in Afghanistan auch als Angehörige der Volksgruppe der (schiitischen) Hazara wahrgenommen werden könnten (s. etwa BVwG 21.09.2018, S. 9, 23).

 

Die Feststellungen zu den persönlichen Umständen (Schule, Beruf) der BF1 ergeben sich aus ihren Angaben (BVwG 21.09.2018 S. 10;

Erstbefragung S. 1f.). Die Feststellungen zu den Verwandten der BF1 ergeben sich vorrangig aus den Angaben der BF1 selbst (s. BFA, S. 3;

BF3: [BVwG 12.10.2018, S. 6, 9].

 

Die Feststellungen zu den persönlichen Umständen (Sprachkenntnisse, Schule, Beruf, wirtschaftliche Situation) des BF2 ergeben sich aus seinen glaubhaften Angaben (Erstbefragung S. 1f.; BFA S. 3; BVwG 21.09.2018, S. 24, 27). Die Feststellungen zu den Verwandten des BF2 ergeben sich aus den Angaben des BF2 und BF3 (u.a. BF2: BFA, S. 3:

"Ich habe zwei Schwestern, ich habe viele Verwandte, Onkel und Tanten. Alle wohnhaft in Afghanistan. Ein Bruder ist in XXXX und zwei Schwestern leben im Iran."; BF3: BFA, S. 3).

 

Die Feststellungen zu den persönlichen Umständen (darunter Gesundheit, Schulbesuch, Beruf) des BF3 ergeben sich aus seinen glaubhaften Angaben (Erstbefragung S. 1f.; BFA S. 3; BVwG 12.10.2018, S. 4f., 8 und BF3: BVwG 12.10.2018). Dass der BF nun nicht mehr gemeinsam mit den anderen BF wohnt, ergibt sich ebenso aus den glaubhaften Angaben der BF (s. u.a. BVwG 21.09.2018, 12 sowie auch BF3 selbst: BVwG 12.10.2018). Die Feststellung, dass eine maßgebliche gesundheitliche Beeinträchtigung des BF3 nicht vorliegt, gründet sich insbesondere auf seine letzten Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 12.10.2018 (s. S. 4); medizinische Unterlagen, aus welchen sich eine maßgebliche Gesundheitsbeeinträchtigung ergeben würden, wurden nicht in Vorlage gebracht.

 

Die Feststellungen zu den persönlichen Umständen der BF4 ergeben sich aus den im Akt einliegenden Unterlagen und den Angaben der BF (u.a. Erstbefragung S. 1f.; Klinisch-Psychologischer Befund vom 23.11.2016, Arztbrief vom 07.06.2016). Aus den Angaben der BF in Zusammenschau mit dem persönlichen Eindruck der erkennenden Richterin ergibt sich weiters, dass die BF4 auf enge Betreuung angewiesen ist. Dazu ist festzuhalten, dass auf eine Einvernahme der BF4 verzichtet wurde (s. BVwG 20.04.2018, S. 4). Eine solche wäre nach den Akteninhalten und dem persönlichen Eindruck der Richterin auch nicht möglich gewesen. Der BF2 gab im Hinblick auf die Verhandlungsfähigkeit der BF4 an, dass diese nicht alleine zu Hause bleiben könne, weil die Gefahr der Selbstverletzung bestehe (s. S. 5). Die Feststellungen zu den Krankheiten der BF4 ergeben sich insbesondere aus den vorgelegten Befunden (s. u.a. Arztbrief vom 07.06.2016; Ophthalmologischer Befund vom 22.07.2016; Pflege-Entlassungsbrief vom 01.07.2016, Ambulanter Patientenbrief vom 14.12.2015, Klinisch-Psychologischer Befund vom 23.11.2016).

 

Die strafrechtliche Unbescholtenheit der BF ergibt sich aus der im Akt einliegenden Abfragen des Strafregisters der Republik Österreich und ihren Angaben.

 

Die Feststellungen zum Aufenthalt in Österreich gründen sich auf die Angaben der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie den vorgelegten Nachweisen und den eingeholten Registerauszügen. Es liegen aus Sicht der erkennenden Richterin keine Gründe vor, an den diesbezüglich nachvollziehbaren und plausiblen Angaben der BF zu zweifeln.

 

In der Bestätigung vom 19.09.2018 zum aktuellen Deutschkurs der BF1 heißt es, dass sie am Basisbildungskurs teilnimmt; es wird im Schreiben aber auch auf die Pflege der BF4 verwiesen. Die BF1 gab machte auch über Nachfrage keine konkreteren Angaben zu Häufigkeit der Kursbesuche (s. BVwG 21.09.2018, 13f.).

 

2.1.2.1 Zum behaupteten Fluchtvorbringen (betreffend die den BF drohende Gefahr, in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt auf Grund von Grundstücksstreitigkeiten und einer damit einhergehenden Blutfehde ausgesetzt zu sein) ist Folgendes festzuhalten:

 

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es auch am BF, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Begriff der "Glaubhaftmachung" im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd § 274 ZPO zu verstehen. Ausgehend von § 274 Abs. 1 letzter Satz ZPO eignet sich nur eine Beweisaufnahme, die sich sofort ausführen lässt (mit Hilfe so genannter "parater" Bescheinigungsmittel) zum Zwecke der Glaubhaftmachung (VwGH 27.05.2014, 2014/16/0003, mwN), wobei der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen seiner asylrechtlichen Spruchpraxis von dieser Einschränkung abweicht.

 

Mit der Glaubhaftmachung ist auch die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der behaupteten Voraussetzungen spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzung liefern. Insoweit trifft die Partei eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl. VwGH 17.10.2007, 2006/07/0007).

 

Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.

 

Vor diesem Hintergrund geht die zur Entscheidung berufene Richterin des Bundesverwaltungsgerichts auf Grund ihres in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks - dabei das vom Bundesverwaltungsgericht in Hinblick auf den BF2 eingeholte psychiatrisch/neurologische Sachverständigengutachten vom 26.07.2018 berücksichtigend - davon aus, dass den BF hinsichtlich ihres Fluchtvorbringens keine Glaubwürdigkeit zukommt:

 

Zunächst fällt auf, dass die BF in den Erstbefragungen zu ihren Fluchtgründen noch angaben, sie haben ihre Heimat aufgrund der schlechten Sicherheitslage verlassen. Zwei ihrer Töchter seien bei einem Anschlag der Taliban getötet worden. Tagtäglich würden Menschen bei Anschlägen sterben. Da ihre Tochter psychisch krank sei, werde sie in Afghanistan als Verrückte angesehen. Ihr werde es in Afghanistan nie möglich sein ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es gebe für sie keine medizinische Behandlung. Aus Angst um das Leben ihrer Familie haben sie beschlossen das Land zu verlassen (s. S. 6 der Erstbefragung). Die BF machten im weiteren Verfahren zu ihren Fluchtgründen davon abweichende, widersprüchliche und uneinheitliche Angaben. Es fällt besonders eklatant auf, dass die BF bei seiner Erstbefragung weder die Grundstücksstreitigkeiten noch die Forderung der verfeindeten Familie, die BF4 auszuhändigen noch die Todesdrohungen gegen den BF2 und den BF3 erwähnt haben.

 

Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 dient die Erstbefragung zwar "insbesondere" der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen (vgl. hierzu auch VfGH vom 27.06.2012, U 98/12), ein Beweisverwertungsverbot ist damit jedoch nicht normiert. Die Verwaltungsbehörde bzw. das Bundesverwaltungsgericht können im Rahmen ihrer Beweiswürdigung also durchaus die Ergebnisse der Erstbefragung in ihre Beurteilung miteinbeziehen.

 

Es wird im vorliegenden Fall zwar nicht verkannt, dass sich die Erstbefragung der BF nicht in erster Linie auf ihre Fluchtgründe bezog und diese daher nur in aller Kürze angegeben und protokolliert wurden; dass die BF ihre Fluchtgründe im weiteren Verfahrensverlauf derart anders schilderten, ist jedoch - auch unter Berücksichtigung der späteren Angaben der BF (s. BVwG 21.09.2018, S. 21ff., 29; BVwG 12.10.2018, S. 8) - nicht nachvollziehbar. Es ist festzuhalten, dass es nach den Niederschriften der Erstbefragung auch keine Verständigungsprobleme gegeben hat.

 

Das Vorbringen der BF zur Blutfehde ist insgesamt vage und wenig detailreich. So gab der BF2 vor dem BFA etwa an, der Konflikt sei mit "irgendwelchen anderen Leuten" gewesen, von deren Seite sei ein Mann getötet worden; sie wüssten aber nicht, wer ihn getötet habe (s. S. 4). Vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der BF2 etwa an, ein anderer Clan sei beteiligt gewesen (s. BVwG 21.09.2018, S. 28). Es ist weiters nicht klar, wer genau auf der Seite der BF und den gegnerischen Seiten an den Auseinandersetzungen beteiligt war; der BF2 gab vor dem BFA an, "unsere Familien" hätten gesagt, dass sie Geld aber kein Mädchen geben würden (s. S. 4). Die BF1 und der BF2 gaben in der Beschwerdeverhandlung an, dass ihr Onkel für den Mord verantwortlich gemacht worden war (s. BVwG 21.09.2018, S. 21, S. 29).

 

Der BF2 nannte auch erstmals während der Beschwerdeverhandlung Details zum Mord, der die Blutfehde ausgelöst haben sollte (s. BVwG 21.09.2018, S. 28). Es ist nicht nachvollziehbar, warum die BF nicht bereits früher detaillierter ausführten und blieben die Angaben aber auch weiterhin vage und knapp (s. etwa BF2: BFA, S. 4; BVwG 21.09.2018, S. 28ff.) und überzeugten insgesamt nicht.

 

Es ist auch nicht klar, an wen konkret die Drohung der verfeindeten Familie gerichtet wurde und rückten die BF im Verfahrensverlauf seine Familie und vor allem auch den BF3 und die BF4 ins Zentrum der Verfolgung (u.a. BVwG 21.09.2018, S. 29). Am Konflikt waren mehrere Verwandte der BF beteiligt. Dafür sprechen die Angaben des BF vor dem BFA (s. S. 4) und auch, dass laut den in der Beschwerdeverhandlung vorgebrachten Angaben des BF2 ein "Jirga", eine Versammlung, einberufen wurde. Es ist somit davon auszugehen, dass nicht nur die BF von dieser Blutfehde betroffen gewesen sind, sondern auch der erweiterte Verwandtenkreis, zumal der Onkel für den Mord verantwortlich gemacht worden sei. Die BF konnten nicht plausibel darlegen, warum sie davon ausgehen, dass sie persönlich weiterhin einer Verfolgungsgefahr unterliegen würden, zumal keine Verfolgung der in Afghanistan aufhältigen Angehörigen hervorgekommen ist. Laut den Angaben der BF bestehen Kontakte des BF2 und des BF3 zu den Verwandten im Herkunftsstaat (u.a. BF2: BFA, S. 3; BF3: BVwG 12.10.2018, S. 6). Weiters ist nicht plausibel, warum genau die BF ausgewählt wurden, die Schuld zu begleichen und ein Mädchen - nämlich die BF4 - zu übergeben. Nach den Angaben der BF haben sie einen großen Familienkreis (u.a. BF2: BFA S. 3: "Ich habe zwei Schwestern, ich habe viele Verwandte, Onkel und Tanten. Alle wohnhaft in Afghanistan."). Auf Nachfrage bei der BF1, ob die BF4 aufgrund ihrer Krankheit verfolgt wurde, gab die BF1 im Widerspruch zu den bisherigen Akteninhalten (u.a. Arztbrief vom 07.06.2016; BF2:

BFA, S. 4f.; Beschwerde, S. 11; BF3: BVwG 12.10.2018, S. 8) an, dass die Tochter damals noch gesund gewesen sei. Manche Verwandten hätten gesagt, dass sie die Tochter einem alten Mann versprechen sollten, deswegen hätten sie Afghanistan verlassen (s. BVwG 21.09.2018, S. 22).

 

Das Vorbringen ist in seiner Gesamtheit auch derart dürftig gehalten, dass man daraus kein konkretes, die BF persönlich betreffendes, zusammenhängendes und einigermaßen glaubhaftes Geschehen ableiten kann. Die BF beschränkten sich in ihren Aussagen weitgehend auf einige wenige "Eckpunkte" des Bedrohungsszenarios, ohne über nähere Details der Vorgänge oder über Einzelheiten, Auskunft zu geben. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Asylwerber, der aus Furcht um sein Leben sein Heimatland verlassen hat, versucht, von sich aus detailliert, umfangreich und lebensnah die ihm widerfahrenen Bedrohungssituationen zu schildern. Dies trifft allerdings nicht auf die BF zu, die nur wenig Einzelheiten anführen oder die Vorkommnisse nur überblicksartig schildern. Die Ausführungen zur Bedrohungssituation bleiben unpersönlich.

 

Dies gilt auch für die Angaben des BF3, welcher in der mündlichen Beschwerdeverhandlung auf die Frage nach seinen Fluchtgründen zusammengefasst angab, dass die Hauptgründe für das Verlassen des Herkunftsstaates bereits von seinen Eltern erzählt worden seien. Er wisse es persönlich nicht. Seine Eltern hätten darüber nie mit ihm gesprochen. Weiters schilderte der BF knapp und oberflächlich, dass die Verwandten gewollt hätten, dass die BF4 mit einem älteren Mann verheiratet wird. Die BF4 hätte getötet werden sollen (s. BVwG 12.10.2018, S. 8f.).

 

Weiters steigerten die BF ihre Angaben auch stetig und bleiben diese auch mit Widersprüchen behaftet bzw. waren nicht stringent und unplausibel. Der BF2 gab in der Verhandlung am 21.09.2018 zuerst an, der Mord sei vor ungefähr neun Jahren passiert. Die Menschen hätten sich einmal ein Jahr nach dem Mord rächen wollen und ein anderes Mal nach vier Jahren. Weiters gab der BF an, dass vier Jahre nach der Jirga die Feinde die Hochzeit seiner nunmehr neunjährigen Tochter verlangt hätten (s. S. 28f.). Diese zeitlichen Abläufe erscheinen so aber nicht nachvollziehbar und antwortete der BF2 auch über Vorhalt nur ausweichend und rückte weiters die angeführte Bedrohung der BF4 aufgrund ihrer Krankheit - auch durch Verwandte - in den Vordergrund. Dazu im Widerspruch stehen ferner auch die Angaben der BF1, dass ihre Tochter zu diesem Zeitpunkt noch gesund gewesen sei (s. BVwG 21.09.2018, S. 22: "RV: Wurde Ihre Tochter aufgrund ihrer Krankheit verfolgt? BF1: Damals war meine Tochter gesund. Manche Verwandten sagten, wir sollen die Hand unserer Tochter einem alten Mann versprechen. Aufgrund dieses haben wir Afghanistan verlassen.). Es fällt weiters auf und ist auch nicht lebensnah, dass der BF2 immer noch Kontakt zu Verwandten in Afghanistan pflegt, wen ihm geraten worden sei, die BF4 zu töten oder gegen den Willen des BF2 zu verheiraten (u.a. BF2: BFA, S. 3; BF3: BVwG, S. 6).

 

Der BF2 schilderte auch die Todesdrohung sehr knapp und ist eben auch eine weiträumige Verfolgung der BF nicht nachvollziehbar, wenn der Onkel des Mordes beschuldigt worden wäre und noch andere Verwandte des Täters in Afghanistan leben (BFA S. 4: "[...] Dieser drohte mir, dass wenn ich meine Tochter nicht an ihn verheiraten würde, er mich umbringen wird. Er sagte, dass er sich rächen wird. Er mich oder meinen Sohn töten wird. Er sagte, egal wo ich mich aufhalte, ob im Iran oder Pakistan, er wird mich finden. [...]").

 

Es fällt weiters auf, dass die BF zuletzt längere Zeit ohne weitere Vorfälle in Afghanistan leben konnten. Die diesbezüglichen vagen und unplausiblen Angaben der BF, sich in einer bzw. zwei Höhle(n) versteckt zu haben, überzeugten auch nach dem persönlichen Eindruck nicht (s. u.a. BF2: BFA S. 4: "Ist in den drei Jahren etwas passiert? [BF2]: Nein."; Beschwerde, S. 11: "Insoweit haben die BF maximal ein weiteres Jahr im Heimatland verbracht, wobei der BF1 dazu ausführte, dass sich die Familie ein Versteck gebaut habe, in welchem sie sich verstecken konnte.; BVwG 21.09.2018, S. 29: "In der Nähe unseres Hauses befand sich ein Friedhof. Unter diesem Friedhof haben wir eine Höhle ausgehoben. Wir haben uns in dieser Höhle versteckt, manchmal auch tagsüber und eine andere Höhle haben wir auch bei uns zu Hause im Hof unseres Hauses ausgehoben und dort versteckten wir uns auch. RI: Wann erfolgte denn die letzte Bedrohung vor Ihrer Ausreise? BF2: Manchmal haben wir diese Drohungen durch Männer erhalten und manchmal durch Frauen. Wir wurden immer wieder informiert, dass die Gefährder uns umbringen würden. Diese Familie hatte eine Hochzeit. Die Familienangehörigen und die Mitglieder der Familie waren bei dieser Hochzeit beschäftigt. Das war die Gelegenheit und wir konnten von dort fliehen. [...]"; BVwG 12.10.2018, S. 9).

 

Abschließend ist anzumerken, dass der BF2 laut dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten psychiatrisch/neurologischen Sachverständigengutachten vom 26.07.2018 an keiner psychischen Erkrankung leidet, die ihn daran hindern würde, das Erlebte wiederzugeben. Es würden sich keine Hinweise auf eine beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit erkennen lassen. Der BF2 leide an keiner psychischen Erkrankung, die mit Einschränkungen in der Gedächtnisleistung einhergeht. Die zeitliche Einordnung von Gedächtnisleistungen sei etwas erschwert, jedoch auf Nachfrage bzw. längerem Nachdenken jedoch ausreichend gut abrufbar. Der BF2 sei weiters zu allen Qualitäten ausreichend orientiert und in der Lage, schlüssige und widerspruchsfreie Angaben zu tätigen, wobei es aufgrund der Tendenz des BF2 zu umständlichen und teilweise vorbeiredenden Antworten gegebenenfalls einer widerholten bzw. gezielten Nachfrage bedürfe. Der BF2 ist aus psychiatrischer Sicht als einvernahmefähig zu beurteilen. Das Gutachten ist für das erkennende Gericht schlüssig und nachvollziehbar und wurden die darin angeführten Einschränkungen in der Verhandlung und in der Beweiswürdigung berücksichtigt.

 

Aus diesen und den oben angeführten Gründen ist das primäre Fluchtvorbringen der BF nicht glaubhaft.

 

Vor dem BFA gab der BF2 an, dass die Lage in ihrem Heimatdorf unsicher gewesen sei. Manchmal habe es Übergriffe von den Taliban, manchmal von den Kutschis gegeben (BFA S. 4). Das Vorbringen zu den Kutschis kann zwar als grundsätzlich als glaubhaft angesehen werden, jedoch ist eine ausreichend konkrete, maßgebliche asylrelvante Verfolgungswahrscheinlichkeit aus den vagen Angaben nicht zu erkennen. Weiters sind diese Angaben auch nicht asylrelevant (siehe dazu unten Pkt. 3.8.).

 

Das Vorbringen zu den zwei von den Taliban getöteten Töchtern erscheint zwar im Kern nicht unglaubhaft, ist jedoch nicht asylrelevant, weil der geschilderte Vorfall nicht zeitnah zur Flucht und somit nicht ausreichend aktuell und fluchtkausal war (zwischen diesem Vorfall und Ausreise vergingen nach den Angaben des BF2 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung mehrere Jahre; er ereignete sich vor ungefähr acht Jahren [s. BVwG 21.09.2018, S. 31]; die BF1 gab vor dem BFA im Jahr 2017 an, der Vorfall habe sich vor ungefähr sieben Jahren ereignet, s. S. 5). Eine aktuelle, asylrelevante, maßgebliche Verfolgungswahrscheinlichkeit wurde von den BF auch in diesem Zusammenhang nicht glaubhaft gemacht und ist auch auf die unterschiedlichen Schilderungen der Vorfälle zu verweisen (s. u.a. BF1: BVwG 21.09.2018, S. 7: möglicher Bombenanschlag; BF2: S BVwG 21.09.2018, S. 30f.: Schüsse bei einer Straßensperre der Taliban; Erstbefragung S. 6: Anschlag der Taliban).

 

2.1.2.2. Zum Nichtvorliegen einer westlichen Lebensweise bei der BF1:

 

Die Feststellung, dass die BF1 kein selbstbestimmtes Leben führt, die Führung eines solchen nicht anstrebt, ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft nicht im Widerspruch zu den in Afghanistan vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind, steht und sich die persönliche Werthaltung der BF1 nicht an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert, beruht auf folgenden Überlegungen:

 

Aus der Lebenssituation der BF1 vor ihrer Einreise nach Österreich ergeben sich keine Hinweise auf eine Sozialisierung - im Zusammenhang mit ihrer Herkunft, Familie, Bildungsstand, Religiosität, etc. - die den in Afghanistan überwiegend vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen entgegenstehen. Dies zeigt sich eindeutig darin, dass die BF1 keine Schulausbildung absolvierte, nur im Verband ihrer Familie lebte und in Afghanistan - von der Tätigkeit der familieneigenen Landwirtschaft/Obstgarten abgesehen - nicht erwerbstätig war. Sie hat in Afghanistan im Haushalt gearbeitet und war von der Versorgung der Familie abhängig. Diese Lebensumstände lassen mit Blick auf die Vergangenheit der BF1 keine Aspekte eines selbstbestimmten Lebens erkennen. In diesem Zusammenhang hat die BF1 im gesamten Asylverfahren nie vorgebracht, dass sie einer aktuellen und konkret geschlechtsspezifischen maßgeblichen Verfolgung im Herkunftsland ausgesetzt gewesen sei. Es ist im Verfahren nicht hervorgekommen, dass die BF1 versucht hätte, die Grenzen der sozialen Normen in ihrem Herkunftsstaat (etwa im Hinblick auf Bekleidungsvorschriften, Verhalten oder selbstbestimmtes Auftreten) auszureizen oder sie gar in Frage zu stellen. Näher zu bestimmten Verhaltensweisen aufgrund derer eine Gefährdung in Afghanistan vorliegen könnte und zu den Unterschieden in ihrem Leben im Vergleich zu Afghanistan befragt, machte die BF1 nur ausweichende Angaben (s. u.a. BVwG 21.09.2018: "BF1: Unser Leben in Österreich ist in Sicherheit. Mein Ehemann und mein Sohn konnten entkommen. Wir haben ein gutes Leben in Österreich. Wir können in Frieden in Österreich leben. RI: Haben Sie Gewohnheiten österreichischer Frauen übernommen und wenn ja, welche? BF: Ich schwöre es Ihnen, dass ich Ihre Frage nicht verstehe. RI: Wie unterscheidet sich Ihr jetziges Leben konkret von Ihrem Leben in Afghanistan. Ich spreche von Ihnen persönlich. BF1: Mein Leben hier ist besser. Ich lebe mit meinem Mann zusammen."). Vor dem BFA gab sie am 30.03.2017 an, es gebe für sie in ihrem Leben in Österreich keinen Unterschied zu Afghanistan, außer dass es in Österreich sicher sei (s. BFA S. 4: "LA: Was unterscheidet ihr Leben in Ö zu ihrem Leben in Afghanistan? VP: Mein Mann und mein Sohn sind am Leben geblieben. Es ist sonst gleich, es ist sicher hier."). Dabei ist auch darauf hinzuweisen, dass die BF1 bereits einen Werte- und Orientierungskurs des ÖIF besucht hat. Laut der vorgelegten Bestätigung deckte der Kurs u.a. Themen wie die Geschichte Österreichs und Auswirkungen auf die Gegenwart, Prinzipien und Vielfalt des Zusammenlebens (rechtliche und kulturelle Integration) ab.

 

Die eingehende Befragung der BF1 in der Beschwerdeverhandlung zu Aspekten, die Rückschlüsse auf ihre Geisteshaltung und ihre Lebensführung zulassen und der bei der Beschwerdeverhandlung gewonnene persönliche Eindruck belegen, dass sie nach wie vor kein selbstbestimmtes Leben führt und sie auch keine solche Geisteshaltung eingenommen hat. In der Gesamtheit ihrer inneren und auch nach außen tretenden Identität war daher kein Abweichen von der in Afghanistan vorherrschenden Geschlechterrolle auszumachen.

 

Die BF1 konnte auf Deutsch nur ein paar (niedrige) Zahlen nennen (s. BVwG 21.09.2018, S. 14; BFA, S. 3f.). Die fehlenden Deutschkenntnisse der BF1 stehen insofern der Glaubhaftmachung einer selbstbestimmten Lebensweise in Österreich entgegen, als daraus ersichtlich wird, dass sie während der ungefähr dreijährigen Dauer ihres Aufenthaltes in Österreich keine Möglichkeit ergriffen hat, sich zumindest gefestigte Grundkenntnisse der deutschen Sprache anzueignen, die es ihr ermöglichen würden, eine zusammenhängende Kommunikation auf einfachem Niveau zu führen. So ist die BF1 nicht in der Lage, in Situationen des Alltagslebens auf elementarer Basis auf Deutsch zu kommunizieren. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die BF1 sobald sie ihr familiäres Umfeld in Österreich verlässt, sie regelmäßig Unterstützung durch andere benötigt, um diverse Aufgaben zu erledigen. Dies drückt sich auch darin aus, dass sie nur in Geschäfte einkaufen geht, die in der Nähe ihres Wohnortes liegen und ihr einfache Kommunikation beim Einkaufen nicht möglich ist (s. BVwG 21.09.2018, S. 26f., u.a. BF2: [...] Sie geht zur Kassa und gibt entweder € 100 oder € 50 und den Rest bekommt sie von dem Kassierer zurück.").

 

Auch die in der Beschwerdeverhandlung angeführten Kontakte zu Österreichern (BVwG 21.09.2018, S. 14, 25) vermittelten der BF1 offenbar keine nachhaltigen Deutschkenntnisse und sind auch andere, über ihre Muttersprache hinausgehenden Sprachkenntnisse nicht hervorgekommen. Die Schwierigkeiten der BF1 beim Spracherwerb sind aufgrund ihrer mangelnden Vorbildung - keine Schulausbildung - und des hohen Betreuungsaufwandes in Hinblick auf die BF4 nachvollziehbar, können aber dennoch die für einfache Kommunikation fehlenden Sprachkenntnisse nach längerem Aufenthalt in Österreich nicht erklären, weil die grundsätzliche Lernunfähigkeit der BF1 im Verfahren auch unter Berücksichtigung der Angaben der BF1, nicht so aufnahmefähig zu sein (s. BVwG 21.09.2018, S. 14), nicht hervorgekommen ist. Insgesamt steht die Kommunikationsunfähigkeit der BF1 in deutscher Sprache der Annahme, sie würde nunmehr in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führen bzw. sich an einer solchen Lebensführung orientieren, entgegen, weil diese Fähigkeiten für einen freibestimmten Lebenswandel essentiell sind. Vor diesem Hintergrund hat die BF1 eine selbstbestimmte und -verantwortungsvolle Lebensweise nicht glaubhaft gemacht, weil der Mangel an Kommunikationsfähigkeit in ihrem Aufenthaltsstaat eben eine solche Lebensweise verunmöglicht. In diesem Zusammenhang ist auf die vergleichsweise guten Deutschkenntnisse des BF2 und des BF3 hinzuweisen (s. BVwG 21.09.2018, S. 24). Der BF2 spricht im Vergleich zur BF1 besser Deutsch und hat mehr Deutschkurse besucht. Die BF1 war in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 21.09.2018 gerade eingangs merkbar bemüht, die Betreuung der BF4 durch den BF2 - wie ihren aktuellen Deutschkurs - in den Vordergrund zu rücken. Aufgrund der Akteninhalte (s. u.a. BF2: BFA, S. 4: "Ich betreue [die BF4] rund um die Uhr."; BVwG 21.09.2018, S. 12, 20, 24f.), des persönlichen Eindrucks der erkennenden Richterin und in einer Gesamtbeurteilung ist aber davon auszugehen, dass der wesentliche Betreuungsaufwand sowie die wesentliche Haushaltsführung der BF1 obliegt. Die BF1 besucht nach ihren Angaben erst seit kurzem einen Deutschkurs, einen anderen Deutschkurs hat sie abgebrochen (BVwG VH S. 11, 13). Beim AMS konnte sie sich nur mit einem Dolmetscher verständigen (s. BVwG 21.09.2018, S. 20). Weiters ergibt sich aus Angaben der BF1, dass die BF1 beim AMS auf Grund der BF4 nicht vorgemerkt wurde, der BF2 hingegen schon (s. S. 19). Der BF3 wohnt mittlerweile nicht mehr gemeinsam mit den anderen BF (s. BVwG 21.09.2018, S. 12, 23). Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die BF nun im urbanen Raum leben und somit genug Möglichkeiten für Deutschkurse und Orientierungskurse zur Verfügung stünden, was auch belegt wird von den vorgelegten Unterlagen des ÖIF (darunter auch Vertiefungskurs: Modul Frauen, Angebote für Frauen in XXXX ). Weiters ist anzumerken, dass ihre Angaben zu ihrem Wissen zu Österreich sehr allgemein gehalten sind, obwohl der bereits besuchte Orientierungskurs auch dieses Thema abgedeckt hätte (s. BVwG 21.09.2018 S. 17: "BF1: Ich weiß über Österreich, dass man hier lernen gehen, studieren gehen soll und arbeiten. Derzeit kann ich das nicht tun, weil ich immer zu Hause sein muss, und mich um meine Tochter kümmern muss.").

 

Auch die sonstigen Umstände ihres Alltagslebens in Österreich lassen nicht darauf schließen, dass die BF1 eine selbstbestimmte Lebensführung und Geisteshaltung angenommen hat und dies ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden ist, die sie bei einer Rückkehr auch in ihre Herkunftsregion in einer die dortigen sozialen Normen verletzenden Weise exponieren würden. So beschreibt sie ihren gewöhnlichen Tagesablauf damit, dass sie sich um ihre Tochter und den Haushalt kümmert, seit kurzem einen Deutschkurs besucht und manchmal in den Park geht (s. BVwG 21.09.2018 S. 11-13, 19).

 

Die BF1 konnte hinsichtlich ihres in Österreich gepflegten Lebensstils einen nachhaltigen Bruch mit den in ihrem Herkunftsstaat verbreiteten gesellschaftlichen Werten nicht glaubhaft darlegen. Sie kümmert sich in Österreich um den Haushalt und die BF4. Dies entspricht im Wesentlichen auch jenen Tätigkeiten, die sie in Afghanistan ausgeübt hat. Vor dem BFA gab sie an, ihn XXXX von den Regionalbetreuern einen kleinen Garten bekommen zu haben und dort Kartoffeln angebaut zu haben, was im Wesentlichen - wie auch das Füttern eines Nutztieres - ihrer in Afghanistan ausgeübten Tätigkeit in der Landwirtschaft bzw. dem familieneigenen Obstgarten entspricht (BFA S. 4; BVwG 21.09.2018 S. 10; Empfehlungsschreiben vom 04.09.2018).

 

Die BF1 hält sich in Österreich fast ausschließlich zu Hause auf und pflegt kaum Kontakte. So gab sie an, keine afghanischen Freunde zu haben. Weiters gab sie an, dass sie ca. 1-2 Mal pro Woche eine vierstündige Fahrt mit dem Zug auf sich nehme, um ihre österreichischen Freunde, die sie unter dem Vornamen kennt, in XXXX zu besuchen, was jedoch unglaubhaft ist, weil der BF2 angab, dass die BF1 und BF2 seit ca. sieben Monaten nicht mehr in XXXX gewesen seien (BVwG 21.09.2018, S. 14ff., 26). Zwar nimmt die BF1 Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung in Anspruch (spazieren gehen) und knüpfte soziale Kontakte in Österreich, sodass sie sich grundsätzlich dem Kontakt zu Mitmenschen nicht verschließt. Es ergab sich aber auch, dass die BF1 in Österreich nur den kleinstmöglichen Bewegungsradius eines Alltagslebens wahrnimmt, obwohl sie hier nicht von gesellschaftlichen/sozialen Normen eingeschränkt ist. Ihren Angaben zu einem Verein, dem sie beitreten wolle, sind derart allgemein und vage gehalten, dass sie nicht als glaubhaft zu beurteilen sind (s. BVwG 21.09.2018, S. 16f: "BF1: Ich habe vor, zu einem Verein irgendwohin zu gehen. Ich habe auch einen Zettel, aber ich bin noch nicht hingegangen. RI: Können sie mir etwas Konkretes darüber sagen? Zu welchem Verein, wollen Sie denn wann gehen? BF1:

Es handelt sich um Österreicher; ich habe einen Zettel bzw. den Termin bekommen; der Termin wird in zwei Wochen stattfinden. [...] BF1: Mir wurde erklärt, in diesem Verein handelt sich um: Tanzen, Tee trinken und manche Lieder, aber ich bin noch nicht hingegangen. Der Termin ist erst in zwei Wochen. [...] BF1: Ich weiß es nicht. Wie ich es Ihnen bereits gesagt habe, ich bin Analphabetin. Mir wurde es gesagt, aber ich habe es vergessen. Dieser Zettel ist zu Hause."). Es ist der Vollständigkeit halber auch festzuhalten, dass die genannte Unterlage oder andere Informationen zum Verein bis dato nicht in Vorlage gebracht wurden. Sportlichen oder kulturellen Aktivitäten geht die BF1 nicht nach (s. BVwG 21.09.2018, S. 17). Insgesamt finden ihre Aktivität in einer sehr geschützten Sphäre bzw. Umgebung statt. Auch wenn sie in dieser geschützten Umgebung ihre Wohnung verlässt, um diverse Aktivitäten durchzuführen (Einkäufe erledigen, Freizeitaktivitäten und seit kurzem ein Deutschkurs), so ist aber auch erkennbar, dass sie nur den kleinstmöglichen Bewegungsradius eines Alltagslebens wahrnimmt. Insgesamt sind keine Umstände hervorgekommen, die die Annahme einer selbstbestimmten Lebensweise rechtfertigen würden und darüber hinaus die Annahme zuließen, dass eine solche bereits ein wesentlicher Bestandteil der Identität der BF geworden ist.

 

Hinsichtlich Berufsvorstellungen gab die BF1 auch an, dass sie am 11.12.2017 beim AMS gewesen sei und dass sie nicht vorgemerkt werden habe können, weil sie eine kranke Tochter zuhause habe (s. BVwG 21.09.2018, S. 19). Ihr Interesse nach einer beruflichen Tätigkeit ist nachvollziehbar, ein besonderes eigenes Engagement und eine klare Vorstellung sowie eine konkrete Planung und Umsetzung dieser Vorstellung waren in der Beschwerdeverhandlung jedoch nicht erkennbar. Die BF1 steht auch in einer gewissen finanziellen Abhängigkeit zum BF2, da sie kein eigenes Konto hat und die Leistungen aus der Grundversorgung über den BF2 erhält (s. BVwG 21.09.2018, S. 18). Die Angaben des BF2, dass die BF1 die Finanzverantwortliche der Familie sei, ist aufgrund des persönlichen Eindrucks im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung, damit im Zusammenhang stehend dem Auftreten der BF, aufgrund der Schulbildung, Berufserfahrung und Sprachkenntnis des BF2 und aufgrund der von der BF1 vorgebrachten Probleme, mit Zahlen und Preisen umzugehen, nicht glaubhaft (u.a. BVwG 21.09.2018 S. 18, 26:

"BF1: Ich nehme sehr viel Geld mit, weil ich mit den Preisen nicht gut auskenne. Ich bin Analphabetin und wenn wir was brauchen, kaufe ich ein und nehme es mit nach Hause mit.") und waren die Angaben der BF1 zu Einkäufen vor diesem Hintergrund und auf Grund weitere Angaben der BF1 auch etwas zu relativieren (s. u.a. BVwG S. 18: "Das ist das Konto meines Mannes, aber wir erledigen die Einkäufe gemeinsam").

 

Hinsichtlich ihres äußeren Erscheinungsbildes trug die BF1 in der Beschwerdeverhandlung ein blau-grünes Kopftuch, locker um den Kopf geschlagen sowie einen dunkelblauen, langärmligen Mantel bis unter die Knie, darunter eine Jeans und flache blaue Schuhe und bejahte, gläubige Muslimin zu sein (s. BVwG 21.09.208, S. 19). Sie trug auch vor dem BFA ein Kopftuch (BFA Niederschrift S. 4), wie auch sonst vor dem Bundesverwaltungsgericht und kleidete auch die BF4 entsprechend. Es ist im konkreten Fall nochmals hervorzuheben, dass die BF1 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung nicht angab, aufgrund anderer Verhaltensweisen in Afghanistan (wobei sich die BF1 nach ihrem Vorbringen dort nur im Heimatdorf aufhielt) gefährdet zu sein (s. insbesondere BVwG 21.09.2018, S. 14, zuletzt: "RI: Wie unterscheidet sich Ihr jetziges Leben konkret von Ihrem Leben in Afghanistan. Ich spreche von Ihnen persönlich. BF1: Mein Leben hier ist besser. Ich lebe mit meinem Mann zusammen."). Weiters hat die BF1 persönlich auch nicht angegeben, bestimmte Kleidungsvorschriften nicht akzeptieren zu wollen oder zu können. Eine oppositionelle Einstellung zu religiösen Bekleidungsvorschriften ist insgesamt nicht hervorgekommen.

 

Es wird nicht verkannt, dass gerade die BF1 mit der Betreuung der BF4 beschäftigt ist. Eine selbstbestimmte Lebensweise der BF1 ist im Verfahren aufgrund der oben dargelegten Erwägungen aber nicht hervorgekommen.

 

2.1.2.3. Zur Bedrohung und Verfolgung der minderjährigen BF4:

 

Zu den Antragsgründen der minderjährigen BF4 ist auszuführen, dass im gesamten Verfahren auf das Fluchtvorbringen der Eltern verwiesen wurde.

 

Zum Nichtvorliegen einer westlichen Lebensweise bei der BF4:

 

Bei der BF4 ist aufgrund ihrer Minderjährigkeit, ihren neurologisch bzw. psychischen Beeinträchtigungen, die laut den Angaben der BF zusammengefasst dazu führen, dass sie nur isst und schläft, nicht alleine gelassen werden kann und sich etwa nicht alleine anziehen kann, keine selbstbestimmte Lebensführung anzunehmen (s. etwa BVwG 21.09.2018, S. 12: "RI: Was macht Ihre Tochter unter Tags so? Wie stellt sich ein typischer Tagesablauf von ihr dar? BF1: Sie macht nichts, außer sie isst und schläft. RI: Kann Ihre Tochter alleine gelassen werden? BF1: Nein, wir können sie nicht alleine lassen."). Aufgrund der Akten des Verwaltungsverfahrens und des Bundesverwaltungsgerichts ist auch nicht von einer Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westliche Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität auszugehen. Bei der Erstbefragung verweigerte sie, trotz der Anwesenheit ihrer Eltern Angaben zu machen (s. Erstbefragung S. 6) im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde eben auf eine Einvernahme verzichtet. Laut dem klinisch-psychologischen Befund vom 23.11.2016 spricht sie kein einziges Wort Deutsch und konnten Deutschkenntnisse auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht wahrgenommen werden. Ihre Aktivitäten beschränken sich nach den Angaben der anderen BF und den Akteninhalten gerade aktuell auf den kleinstmöglichen Bewegungs- und Aktionsradius, eine Verfestigung darüber hinausgehender Einstellungen, Gewohnheiten bzw. Aktivitäten haben sich im Verfahren nicht ergeben.

 

Zur vorgebrachten Verfolgung der BF4 auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der psychisch Kranken:

 

Die BF brachten vor, dass sie aufgrund der Blutfehde die BF4 dem Sohn eines Feindes aushändigen hätten sollen. Wie aber bereits dargelegt, wurde das primäre Fluchtvorbringen der BF als nicht glaubhaft erachtet. Dies gilt auch in Hinblick auf die Forderung, die BF4 in Verbindung mit ihrer Erkrankungen auszuhändigen oder zu töten. Die Angaben blieben eben vage, nicht stringent sowie gesteigert und insgesamt nicht glaubhaft. Die BF1 gab auf die Frage nach einer Verfolgung ihrer Tochter aufgrund ihrer Krankheit, wie dargelegt, auch an, dass sie damals gesund gewesen sei und verneinte die Frage damit (s. BVwG 21.09.2018, S. 22). Dies steht allerdings im Widerspruch zu den früheren Angaben der BF bzw. den weiteren Akteninhalten.

 

Der BF4 drohte auf Grund ihrer psychischen Erkrankung in ihrem Herkunftsstaat keine konkret gegen sie gerichtete psychische bzw. physische Gewalt und geht auch das Vorbringen bzw. der Verweis auf die vorgelegten Länderberichte ins Leere. Den Länderfeststellungen zur Behandlung psychischer erkrankter Personen in Afghanistan ist zu entnehmen, dass in der afghanischen Bevölkerung viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen leiden. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter konnte reduziert werden. So gibt es Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu betreiben. Auch die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam. Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in einigen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Personen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Unter Berücksichtigung der aktuellen Lage in Afghanistan kann trotz der nach wie vor unzureichenden Behandlung von psychischen Erkrankungen nicht davon ausgegangen werden, dass die BF4 ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Umstände auf Grund ihrer psychischen Erkrankung verfolgt werden würde. Zur behaupteten Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird weiters auf die Ausführungen im Rahmen der rechtlichen Beurteilung verwiesen.

 

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes sind alle von einem Beschwerdeführer vorgebrachten Umstände "in ihrer Gesamtheit im Rahmen einer globalen Bewertung zu beurteilen, ohne einzelne Aspekte der Fluchtgeschichte ohne Rücksichtnahme auf andere Gesichtspunkte der Beurteilung zu Grunde zu legen" (VwGH 15.03.2016, Ra 2015/19/0180). Vor diesem Hintergrund wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts zwar nicht verkannt, dass bei Zusammentreffen mehrerer Risikoprofile die Gefährdung, Opfer von Diskriminierungen und Gewalthandlungen zu werden, generell steigt. Auch nach einer Gesamtbetrachtung der die BF4 betreffenden persönlichen Umstände ist jedoch nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts vor dem Hintergrund des vorliegenden Länderberichtsmaterials und den oben getroffenen Ausführungen eine asylrelevante Verfolgung der BF4 in Afghanistan nicht gegeben. Abschließend ist anzumerken, dass der BF4 bereits durch das BFA subsidiärer Schutz zuerkannt wurde.

 

2.1.2.4. Die Feststellung, dass den BF - gerade dem BF2 und BF3 - auf Grund ihres Aufenthalts im Iran und in Europa (und somit dem "westlichen" Ausland) keine konkret gegen sie gerichtete physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan droht, ergibt sich ebenso aus dem lediglich allgemein gehaltenen Vorbringen, mit dem eine Bedrohung im Falle einer Rückkehr nicht hinreichend substantiiert aufgezeigt wurde.

 

2.1.2.5. Die Feststellung, dass den BF auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit als schiitische Turkmenen bzw. Hazara bzw. in Afghanistan und auch ihrer Herkunftsregion keine konkret gegen ihre Person gerichtete physische bzw. psychische Gewalt droht, ergibt sich aus dem lediglich allgemein gehaltenen und wenig detailreichen Vorbringen zur Situation der (schiitischen) Turkmenen und (vorallem) Hazara in Afghanistan, aus dem eine konkrete Betroffenheit ihrer Person im Hinblick auf Gewalthandlungen nicht erkennbar ist. Die Feststellung, dass den BF auch keine konkret gegen ihre Person gerichtete physische bzw. psychische Gewalt durch Kutschi-Nomaden droht, ergibt sich ebenso aus dem lediglich allgemein gehaltenen Vorbringen, mit dem eine Bedrohung im Falle einer Rückkehr nicht hinreichend substantiiert aufgezeigt wurde.

 

Den BF ist es auch sonst nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete Verfolgung maßgeblicher Intensität (die ihre Ursache in einem der GFK genannten Gründen hätte) glaubhaft zu machen.

 

2.2. Zu den Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

 

2.2.1. Die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderfeststellungen gründen sich auf Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde gelegt wurden, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung von anderen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichten aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

 

2.2.2. Die Berichte wurden den BF zur Verfügung gestellt; es wurde den BF die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt. Die BF traten aber den getroffenen Länderfeststellungen nicht substantiiert entgegen; insgesamt vermochten die BF die Korrektheit der Erkenntnisquellen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht in Zweifel zu ziehen. Die Erkenntnisse ergehen weiters unter Berücksichtigung der aktuellen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018. Fallrelevant sind darin im Übrigen auch keine maßgeblichen Änderungen im Vergleich mit den Richtlinien aus April 2016 zu erblicken.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

 

Zu A) Abweisung der zulässigen Beschwerden:

 

Zum angefochtenen Spruchpunkt I.:

 

3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß den §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

 

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074, uva.). Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112, mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256, mwN).

 

Die Voraussetzung der "wohlbegründeten Furcht" vor Verfolgung wird in der Regel aber nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. u.a. VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265, mwN).

 

3.2. Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellt, kommt den BF hinsichtlich ihres konkreten Vorbringens zu ihren primären Fluchtgründen (betreffend die Gefahr, in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt, auf Grund einer Blutfehde bzw. Grundstücksstreitigkeiten ausgesetzt zu sein) keine Glaubwürdigkeit zu. Den BF ist es insgesamt nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der GFK genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Sohin kann nicht erkannt werden, dass den BF aus den von ihnen ins Treffen geführten Gründen im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht.

 

3.3. Betreffend eine geschlechtsspezifische Verfolgung in Afghanistan im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe von "westlich orientierten Frauen in einem streng muslimisch-religiösen Umfeld" wurde bereits aufgeführt, dass die Tatsache, dass die BF1 und BF4 afghanische Frauen sind, für sich alleine genommen ohne Berücksichtigung ihrer konkreten und individuellen Lebensumstände im Herkunftsstaat, ihrer persönlichen Einstellung und Wertehaltung, ihrem bisherigen Verhalten, sowie ohne gesamtheitliche Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihres individuellen Fluchtvorbringens nicht ausreicht, um jedenfalls mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer asylrelevanten Verfolgung ausschließlich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgehen zu können (vgl. AsylGH 13.11.2009, C9 317335-1/2008; AsylGH 15.02.2013, C1 422494-1/2011). In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass Frauen in Afghanistan aufgrund ihres Geschlechts auch nicht von der Inanspruchnahme von Bildungsmöglichkeiten, dem Schulbesuch, ausgeschlossen oder maßgeblich beschränkt. In Afghanistan besteht Schulpflicht. Die Herkunftsprovinz Parwan zählt zwar zu den volatilen Provinzen, ein beherrschender Einfluss der Taliban und ein allenfalls damit einhergehender Ausschluss der Frauen von Bildungsmöglichkeiten konnten vor dem Hintergrund der aktuellen Berichtslage - gerade auch im Herkunftsdistrikt der BF - aber nicht festgestellt werden.

 

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in Bezug auf die Situation von Frauen in Afghanistan sollten unter anderem afghanische Frauen, von denen angenommen wird, dass sie soziale Normen verletzen oder die dies tatsächlich tun, bei einer Rückkehr nach Afghanistan als gefährdet angesehen werden. Diese Kategorie könnte Frauen einschließen, die westliches Verhalten oder westliche Lebensführung angenommen haben, was als Verletzung der sozialen Normen angesehen werden könnte und ein solch wesentlicher Bestandteil der Identität dieser Frauen geworden ist, dass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen (VwGH 16.01.2008, 2006/19/0182; VwGH 10.12.2009, 2006/19/1197; VwGH 06.07.2011, 2008/19/0994; VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017, vgl. auch UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, S. 75 ff., 87ff.).

 

Daraus ergibt sich, dass einer Beschwerdeführerin Asyl zu gewähren ist, wenn der von ihr vorgebrachte "westliche Lebensstil" in Afghanistan einer zu den herrschenden politischen und/oder religiösen Normen eingenommenen oppositionellen Einstellung gleichgesetzt wird und ihr deshalb Verfolgung im oben dargestellten Sinn droht (VwGH 06.07.2011, 2008/19/0994).

 

Jüngst stellte der VwGH dazu nochmals klar: Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0388, mwN).

 

Im gegenständlichen Fall wurde das diesbezügliche Vorbringen einer Prüfung unterzogen und konkrete Feststellungen zur Lebensweise der BF (insbesondere der BF1 und BF4) im Entscheidungszeitpunkt getroffen. Das Bundesverwaltungsgericht verneint den "westlichen Lebensstil" auch nicht bloß aufgrund des Erscheinungsbildes der BF1 und der BF4 zur mündlichen Beschwerdeverhandlung, sondern auf Grund ihres im Entscheidungszeitpunkt gelebten Lebensstils. Es sind auch keine im weitesten Sinne "oppositionelle" Verhaltensweisen im Verfahren hervorgekommen. Die BF1 hat keine Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Auch wenn ein "westlicher Lebensstil" nicht bloß auf Grund des Erscheinens zur mündlichen Verhandlung verneint werden kann, so kann er aber auch nicht ausschließlich wegen dem Zeigen des Gesichts in der Öffentlichkeit ohne entsprechende, oben beschriebene Lebensweise und vor allem entsprechende, bereits verinnerlichte Einstellung angenommen werden. Daran fehlt es jedoch im vorliegenden Fall.

 

Im vorliegenden Fall führte das Ermittlungsverfahren zu dem Ergebnis, dass die BF1 und die BF4 seit ihrer Einreise im Juni 2016 keine "westliche" Lebensweise angenommen haben, die einen wesentlichen bzw. nachthaltigen Bestandteil ihrer Identität und einen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlich-religiösen Werten in Afghanistan darstellen würde. Den bisherigen Aktivitäten und der Lebensweise der BF1 und der BF4 seit ihrer Einreise ist insgesamt nicht zu entnehmen, dass diese einen "westlichen", selbstbestimmen Lebensstil anstreben oder bereits pflegen. Zum Entscheidungszeitpunkt konnte auch eine entsprechende innere Wertehaltung nicht glaubhaft gemacht werden. Hierzu ist auch festzuhalten, dass nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, zudem dazu führt, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss (VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0301).

 

3.4. Auch unter Berücksichtigung der strengen Anforderungen an die Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen (VfGH 11.10.2017, E 1803/2017 ua. mwN), ist aufgrund des Vorbringens ihrer Eltern (BF1 und BF2) eine individuelle Bedrohung oder Verfolgung im Verfahren der minderjährigen BF4 nicht hervorgekommen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185 m.w.N.). Im konkreten Fall gab es auch keine Anhaltspunkte dafür, dass (abstrakt mögliche) altersspezifische, geschlechtsspezifische und sonstige spezifische Gefährdungen in den Personen der minderjährigen BF4 bestehen oder sich in ihrer Person verdichten, sodass die Verwirklichung solcher nicht maßgeblich wahrscheinlich ist.

 

3.5. Es ist auch - wie bereits in der Beweiswürdigung ausgeführt - eine individuell gegen ihre Person gerichtete Verfolgung der BF4 in Bezug auf ihre Erkrankung nicht anzunehmen.

 

In Ermangelung von der BF4 individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt vor dem Hintergrund des getätigten Fluchtvorbringens zu prüfen, ob die BF4 bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat auf Grund generalisierender Merkmale, unabhängig von individuellen Aspekten, einer "Gruppenverfolgung" wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der psychisch Kranken ausgesetzt wäre. Doch geht eine soziale Gruppe "psychisch kranker Personen in Afghanistan", schon wegen der Disparität einer solchen Gruppe ohne zusätzliches Merkmals zu weit.

 

Der Verwaltungsgerichtshof sprach hinsichtlich des Vorliegens einer sozialen Gruppe Folgendes aus (vgl. VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350): "Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist im Übrigen, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht (vgl. zu diesem Erfordernis näher etwa das hg. Erkenntnis 23. Februar 2016, Ra 2015/20/0113). [...] § 2 Abs. 1 Z 12 AsylG 2005 umschreibt den Begriff des ,Verfolgungsgrundes¿ als einen in Art. 10 der Statusrichtlinie genannten Grund. Gemäß Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie liegt eine bestimmte soziale Gruppe insbesondere vor, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.¿ Nach dieser Definition gilt eine Gruppe somit insbesondere als eine ‚bestimmte soziale Gruppe', wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. das Urteil des EuGH vom 7. November 2013 in den verbundenen Rechtssachen C-199/12 bis C- 201/12 ). Bei der sozialen Gruppe handelt es sich um einen Auffangtatbestand. Eine soziale Gruppe kann aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. den hg. Beschluss vom 29. Juni 2015, Ra 2015/01/0067, und das hg. Erkenntnis vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479, mwN). Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung."

 

Die Qualifizierung der BF4 als Angehörige der obgenannten sozialen Gruppe scheitert bereits daran, dass diese Eigenschaft kein (im Sinne der obigen Definitionen) besonders geschütztes unveränderbares Merkmal (und jedenfalls auch kein angeborenes Merkmal) darstellt. Die BF4 leidet an Epilepsie und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Laut Vorbringen der BF und den in Vorlage gebrachten medizinischen Unterlagen handelt es sich dabei nicht um ein angeborenes Merkmal. Zudem macht das Vorliegen einer psychischen Erkrankung die BF4 nicht zum Mitglied einer von der Gesellschaft insgesamt hinreichend unterscheidbaren und deutlich identifizierbaren Gruppe. Als gemeinsames Merkmal wäre somit das Vorliegen einer psychischen Erkrankung zu sehen, zumal eine Gruppe "psychisch kranker Personen" die unterschiedlichsten Arten und sämtliche Schweregrade psychischer Erkrankungen erfassen würde.

 

Im vorliegenden Fall handelt es sich bei den Erkrankungen der BF4 daher weder um ein angeborenes Merkmal noch um einen unveränderbaren Hintergrund. Darüber hinaus hat gerade diese Gruppe "psychisch kranker Personen" - aufgrund der Diversität an psychischen Erkrankungen, die bei jedem daran erkrankten Menschen unterschiedlich ausgeprägt sind und zu Tage treten, und der oft mangelnden Wahrnehmbarkeit der Krankheit für Außenstehende - keine derart ausgeprägte Identität, die sie innerhalb der afghanischen Gesellschaft deutlich abgegrenzt erscheinen lassen würde. Insofern kann im konkreten Fall nicht von einer (auch nur relativ) homogenen "Gruppe" von Personen, die eine wie bereits dargelegte Verfolgung zu gewärtigen hätten, im Rechtssinn gesprochen werden. Aus diesen Erwägungen heraus scheidet die Annahme einer sozialen Gruppe aus.

 

Im Übrigen geht aus den Länderfeststellungen und dem sonstigen Berichtsmaterial auf das Wesentliche zusammengefasst zwar hervor, dass psychisch kranke Personen Diskriminierungen seitens der übrigen Bevölkerung ausgesetzt sind. Diese Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts jedoch nicht jenes Ausmaß, welches notwendig wäre, um eine spezifische Verfolgung aller afghanischen Staatsangehörigen, die psychisch erkrankt bzw. beeinträchtigt sind oder derart angesehen werden, für gegeben zu erachten. Zwar geht aus den Feststellungen hervor, dass es an einem Konzept für psychisch Kranke fehle und sie "nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen ,behandelt'" würden, doch wurde ebenso festgestellt, dass es aktuelle Bemühungen gäbe, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken. Aus der Berichtslage ist nicht ableitbar, dass Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, einer systematischen Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wären. Es ist daher nicht zu erkennen, dass das Vorliegen einer psychischen Erkrankung eine Verfolgung von erheblicher Eingriffsintensität - für den Betroffenen oder dessen Angehörige - erwarten ließe (vgl. VwGH 19.06.2018, Ra 2018/20/0262).

 

3.6. Zudem ist es den BF nicht gelungen, eine individuelle und konkret gegen sie gerichtete Verfolgung iSd GFK auf Grund der Eigenschaft als Rückkehrer aus dem aus Europa (und somit dem "westlichen Ausland") glaubhaft zu machen. Auch eine von individuellen Aspekten unabhängige "Gruppenverfolgung" ist vor dem Hintergrund des vorliegenden Länderberichtsmaterials für das Bundesverwaltungsgericht nicht erkennbar:

 

Daraus geht auf das Wesentliche zusammengefasst zwar hervor, dass in Afghanistan generell eine negative Einstellung gegenüber Rückkehrern vorherrscht und diesen vorgeworfen wird, ihr Land im Stich gelassen zu haben, dem Krieg entflohen zu sein und im Ausland ein wohlhabendes Leben geführt zu haben, dass Rückkehrer wegen ihres Akzents leicht erkannt und sozial ausgegrenzt werden sowie dass Rückkehrer Diskriminierungen seitens der übrigen Bevölkerung ausgesetzt sind. Diese Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts jedoch nicht jenes Ausmaß, das notwendig wäre, um eine spezifische Verfolgung aller afghanischen Staatsangehörigen, die einen wesentlichen Teil ihres Lebens im Iran (und in Europa) verbracht und eine "westlichere Wertehaltung" angenommen haben, bei einer Rückkehr für gegeben zu erachten.

 

3.7. Zu einer Verfolgung betreffend ihre Volksgruppenzugehörigkeit zu den (schiitischen) Turkmenen bzw. einer (angenommenen) Zugehörigkeit zur Volksgruppe der (schiitischen) Hazara ist folgendes auszuführen:

 

Eine konkrete individuelle Verfolgung des BF in Afghanistan auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der (schiitischen) Turkmenen wurde - wie bereits dargelegt - nicht hinreichend substantiiert aufgezeigt wurde. Gleiches gilt auch in Hinblick auf eine (allenfalls angenommene) Zugehörigkeit zur Volksgruppe der (schiitischen) Hazara. In Ermangelung den BF individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu prüfen, ob die BF bei einer Überstellung in ihren Herkunftsstaat auf Grund generalisierender Merkmale - konkret wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der (schiitischen) Turkmenen bzw. einer (angenommenen) Zugehörigkeit zur Volksgruppe der (schiitischen) Hazara - unabhängig von individuellen Aspekten einer über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehenden "Gruppenverfolgung" ausgesetzt wäre.

 

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung zwar nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048), jedoch ist für das Bundesverwaltungsgericht aus folgenden Gründen nicht ersichtlich, dass der BF als Angehöriger der Volksgruppe der (schiitischen) Turkmenen oder Hazara im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit befürchten müsste, alleine wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe einer Verfolgung iSd GFK ausgesetzt zu sein:

 

Aus den vorhandenen Länderberichten sowie dem notorischen Amtswissen ist bekannt, dass die Turkmenen in Afghanistan eine kleine Minderheit sind, die aber in der afghanischen Verfassung als "Völkerschaft" Afghanistans angeführt sind und damit unter dem Schutz der Verfassung stehen. Eine unabhängig von individuellen Aspekten über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehenden "Gruppenverfolgung" ist für diese auch hinsichtlich der Provinz Parwan nicht erkennbar. Die Turkmenen sind rechtlich den anderen Bevölkerungsgruppen gleichgestellt; auch eine maßgebliche gesellschaftliche Diskriminierung kann nicht festgestellt werden und wurde auch nicht substantiiert vorgebracht.

 

Den oben zitierten Länderfeststellungen ist zu entnehmen, dass Schiiten - speziell jene, die der Volksgruppe der Hazara angehören - Diskriminierungen ausgesetzt sind. In einer Gesamtschau des vorliegenden Länderberichtsmaterials erreicht diese Gefährdung nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts jedoch nicht jenes Ausmaß, welches notwendig wäre, um eine spezifische Gruppenverfolgung für Angehörige der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan für gegeben zu erachten. So stellen die (schiitischen) Hazara in Afghanistan zwar eine Minderheit dar, sie sind aber ebenfalls rechtlich den anderen Bevölkerungsgruppen gleichgestellt. Sie bekleiden politische Funktionen in Regierung und Parlament und können ihre Interessen aus eigener Kraft politisch wahren. Ihr Anteil in den Sicherheitskräften Afghanistans entspricht ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Sie dürfen als Schiiten ihre Religion ausüben. Von staatlicher Seite beschränkt sich die Benachteiligung der Hazara damit auf ihre Unterrepräsentation in der öffentlichen Verwaltung, die - selbst wenn man ihre Ursache in einer (nicht festgestellten) gegenwärtigen Benachteiligung suchen würde - eine Benachteiligung darstellt, die nicht die für eine asylrechtlich relevante Verfolgung erforderliche Intensität erreicht.

 

3.8. Wie bereits in der Beweiswürdigung dargelegt, konnten die BF eine persönliche, konkrete asylrelevante Verfolgung oder Bedrohung aufgrund des Konfliktes zwischen Kutschi-Nomaden und sesshaften Hazara nicht glaubhaft darlegen. Darüber hinaus liegen dem jährlichen Konflikt zwischen den Kutschi-Nomaden und den sesshaften Hazara u.a. liegen keine asylrelevanten Motive zugrunde, sondern beruht dieser auf der saisonalen Migration der Kutschi-Nomaden und ihrer Tiere und der mit dieser einhergehenden unterschiedlichen Interessenlage von Ackerbau gegen Tierzucht. Die Angriffe von Kutschi-Nomaden auf Sesshafte erfolgen daher nicht aus ethnischen oder religiösen (oder anderen in der GFK angeführten) Motiven und sind in diesem Zusammenhang auch nicht als "Verfolgung" zu klassifizieren. Die mit diesem Konflikt einhergehenden Kämpfe sind daher ausschließlich bei der Gewährung des subsidiären Schutzes zu berücksichtigen.

 

3.9. Zu vom BF2 angeführten Problemen in XXXX ist auf § 3 Abs. 1 AsylG 2005 hinzuweisen, der die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nur vorsieht, wenn dem Fremden im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK droht. Der Herkunftsstaat ist gemäß § 2 Abs. 1 Z. 17 AsylG 2005 jener Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Fremde besitzt; nur im Falle der Staatenlosigkeit gilt der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthaltes als Herkunftsstaat. Auf Grund der afghanischen Staatsangehörigkeit der BF kann somit sein Vorbringen im Hinblick auf Kuwait außer Betracht bleiben (vgl. VwGH 02.03.2006, 2004/20/0240).

 

Im Verfahren haben sich auch sonst keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen im Herkunftsstaat für maßgeblich wahrscheinlich erscheinen ließen. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide sind daher gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen.

 

Es ist somit spruchgemäß zu entscheiden.

 

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

 

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

 

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der darin zitierten bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist - soweit diese nicht unvertretbar ist - nicht revisibel (vgl. VwGH vom 19.04.2016, Ra 2015/01/0002, mwN).

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