VwGH Ra 2017/18/0301

VwGHRa 2017/18/030123.1.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Wech, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1. F H, 2. S F H, 3. S W H, 4. Z H, 5. N H, und 6. S N H, alle in P und vertreten durch Mag. Gerd Weidacher, Rechtsanwalt in 8200 Gleisdorf als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juni 2017, Zlen. W231 2133801- 1/20E, W231 2133803-1/18E, W231 2133806-1/20E, W231 2133808-1/18E, W231 2133811-1/18E und W231 2133814-1/18E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017180301.L00

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind Mitglieder einer afghanischen Familie aus Kabul, denen mit dem angefochtenen Erkenntnis - im Beschwerdeverfahren - jeweils der Status von subsidiär Schutzberechtigten gewährt worden ist. Ihren Anträgen auf Zuerkennung von Asyl wurde hingegen nicht stattgegeben. Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) für nicht zulässig.

2 Die Asylanträge waren unter anderem damit begründet worden, dass es sich bei der Erstrevisionswerberin und ihren in Österreich aufhältigen minderjährigen Töchtern (die Viert- und die Fünftrevisionswerberinnen) um eine Frau bzw. um Mädchen mit einer als "westlich" zu bezeichnenden Wertehaltung handle. Sie hätten sich bereits an ein freies und selbstbestimmtes Leben in Österreich gewöhnt und könnten sich nicht mehr vorstellen, sich den in Afghanistan vorherrschenden, Frauen unterdrückenden Regeln wieder unterzuordnen. Dies wäre ihnen auch nicht mehr zumutbar. Bei Rückkehr wären die Revisionswerberinnen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit massiven Einschränkungen, Diskriminierungen, einem Klima ständiger Bedrohung und struktureller Gewalt ausgesetzt. Den Mädchen drohe die Gefahr einer Zwangsverheiratung.

3 Demgegenüber gelangte das BVwG nach Durchführung mehrerer mündlicher Verhandlungen und in ausführlicher Auseinandersetzung mit den Lebensumständen der Erstrevisionswerberin und ihrer Familie in der Vergangenheit und Gegenwart zu dem Schluss, dass sich die Lebensführung der Erstrevisionswerberin in Österreich nicht wesentlich von der in Afghanistan gelebten unterscheide. Sie führe den Haushalt und kümmere sich um die Kinder, sei aber sonst in hohem Maße unselbständig und zeige wenig Engagement, dies zu ändern. Ihre (acht- und neunjährigen) Töchter gingen in Österreich zur Schule, könnten dies aber auch in ihrer Herkunftsregion (Kabul) im Herkunftsstaat weiterhin tun; eine - vorgebrachte - Zwangsverheiratung der Töchter sei aus näher dargestellten Gründen nicht zu erwarten.

4 In der rechtlichen Beurteilung führte das BVwG aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass die Erstrevisionswerberin seit ihrer Einreise nach Österreich im August 2015 eine Lebensweise angenommen habe, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Sie habe somit keine "westliche" Lebensweise angenommen, die einen wesentlichen Bestandteil ihrer Identität darstelle und aufgrund derer sie mit den sozialen Gepflogenheiten des Heimatlandes brechen würde. Die Aktivitäten der Erstrevisionswerberin und ihre aktuelle Lebensführung deuteten nicht darauf hin, dass sie einen selbstbestimmten Lebensstil anstrebe oder bereits pflege. Auch eine entsprechende innere Werterhaltung habe sie nicht glaubhaft machen können. Infolgedessen verletze die Erstrevisionswerberin mit ihrer Lebensweise die herrschenden sozialen Normen in Afghanistan nicht in einem solchen Ausmaß, dass ihr bei einer Rückkehr (unter Beibehaltung des derzeitigen Lebensstils) eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention drohen würde. Auch hinsichtlich ihrer Töchter sei auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen keine asylrelevante Verfolgung zu erwarten.

5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der geltend gemacht wird, das BVwG sei im Rahmen der Beurteilung der Asylrelevanz der "westlichen" Orientierung der Lebensweise der Erstrevisionswerberin sowie der minderjährigen Viert- und Fünftrevisionswerberinnen in mehreren Aspekten von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Das BVwG gelange zu der Auffassung, die Erstrevisionswerberin habe eine "westliche" Lebensweise nicht "bereits in einem solchen Maße" angenommen, "die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemeinverbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan" darstellen würde. Auf einen solchen "Bruch" mit den im Herkunftsstaat vorherrschenden politischen und religiösen Normen komme es allerdings genauso wenig an, wie auf die - ebenso vom BVwG ins Treffen geführte - Dauer, während der eine solche Lebensweise ausgeübt werde. Indem das BVwG also im Rahmen der Prüfung der Asylrelevanz der vorgebrachten Furcht vor Verfolgung wegen der Annahme einer "westlichen" Lebenseinstellung auf diese beiden Kriterien der Dauer des Aufenthalts in Österreich und des "deutlichen und nachhaltigen Bruchs" mit den im Herkunftsstaat der Revisionswerberinnen herrschenden Wertvorstellungen abstelle, führe es zwei Aspekte ins Treffen, die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keine Deckung fänden.

6 Auch habe das BVwG eine nachvollziehbare Prüfung unterlassen, ob die von ihm festgestellte (angestrebte) Lebensweise der Erstrevisionswerberin (bzw. der Viert- und Fünftrevisionswerberinnen) in Afghanistan zu Reaktionen führen würde, die ihrer Schwere nach als Verfolgung angesehen werden könnten. Hätte das BVwG eine solche Prüfung vorgenommen, so wäre es zum Ergebnis gekommen, dass den Revisionswerberinnen in Afghanistan asylrelevante Verfolgung drohe. Den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses zufolge übe die Erstrevisionswerberin gemeinsam mit einer Freundin ohne männliche Begleitung öffentlich Sport aus (Nordic Walking). Sie werde über Veranstaltungen ihrer Wohnortgemeinde informiert (sodass auch davon ausgegangen werden könne, dass sie diese Veranstaltungen regelmäßig besuche), engagiere sich als Köchin in einem gemeinnützigen Verein und nehme an einem Nähprojekt teil. Für ihre noch unmündigen minderjährigen Töchter wünsche sie sich eine profunde Ausbildung und wolle ihnen die freie Wahl eines Lebens- oder Ehepartners ohne Berücksichtigung der Konfession ermöglichen. Demgegenüber scheiterten Frauen in Afghanistan oft daran, einer eigenen Erwerbstätigkeit nachzugehen, weil sie ohne männliche Begleitung nur eingeschränkte Bewegungsfreiheit in Anspruch nehmen könnten. Hinzu komme, dass Frauen nach wie vor in großem Ausmaß von Bildungsmöglichkeiten ferngehalten würden. Frauen, die im Arbeitsleben Fuß fassen könnten, seien dabei mit näher dargestellten Diskriminierungen, sexuellen Belästigungen und sogar Misshandlungen konfrontiert. Selbst unter 16 Jahre alte Mädchen könnten mit Zustimmung des Gerichts verheiratet werden. All dies ergebe sich aus den Länderfeststellungen des BVwG und zeige, dass den Revisionswerberinnen bei Rückkehr nach Afghanistan asylrelevante Verfolgung drohe. Würde die Erstrevisionswerberin in Afghanistan gemeinsam mit einer anderen Frau ohne männliche Begleitung in der Öffentlichkeit Sport ausüben, würde sie schon dadurch eine gravierende Verletzung sozialer Normen begehen. Dies gelte auch insgesamt für ihre - in Österreich - gelebte Teilnahme am öffentlichen Leben. Gleiches gelte für den Fall, dass sich die Erstrevisionswerberin einer zwangsweisen Verehelichung einer ihrer Töchter widersetzen würde. Dass sich eine alleinerziehende Mutter (Erstrevisionswerberin) im Wesentlichen der Haushaltsführung und Kinderbetreuung widme, könne für sich genommen nicht dazu führen, ihr eine auf die Anerkennung, Inanspruchnahme und Ausübung von Grundrechten zum Ausdruck kommende Lebensweise abzusprechen.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Die Revision ist zulässig, um die rechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung von Asyl an Frauen wegen des von ihnen gelebten Lebensstils, wie sie in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bereits dargelegt worden ist, zu präzisieren und klarzustellen.

Die Revision ist aber nicht begründet.

8 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388, mit weiteren Nachweisen).

9 Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 6.7.2011, 2008/19/0994-1000).

10 Die Revision weist zwar zu Recht darauf hin, dass in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keine (Mindest‑)Dauer festgelegt worden ist, während derer eine Asylwerberin einen "westlich-orientierten" Lebensstil im soeben dargestellten Sinn gelebt haben muss, um davon ausgehen zu können, dass dieser ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden ist. Diese Beurteilung erfordert stets eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles.

Das BVwG hat der Erstrevisionswerberin aber nicht entgegengehalten, sie habe einen selbstbestimmten Lebensstil nicht ausreichend lange gelebt, sondern es ging davon aus, dass die Erstrevisionswerberin einen Lebensstil, wie er in der zuvor dargelegten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes als Voraussetzung zur Gewährung von Asyl gefordert ist, noch gar nicht angenommen hat.

11 Auch die Kritik der Revision, das BVwG habe mit dem Erfordernis eines "deutlichen und nachhaltigen Bruches" der Erstrevisionswerberin mit den im Herkunftsstaat herrschenden Wertvorstellungen ein asylrelevantes Kriterium eingeführt, das in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung keine Deckung findet, ist im Ergebnis nicht berechtigt:

12 Um davon ausgehen zu können, dass der Asylwerberin bei Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung wegen ihres von den dort herrschenden politischen und/oder religiösen Normen abweichenden Lebensstils droht, bedarf es selbstverständlich einer Abkehr der Asylwerberin von eben diesen herrschenden politischen und/oder religiösen Normen. Dass diese Abkehr, wie das BVwG argumentiert, deutlich und nachhaltig sein muss, wurde in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zwar nicht gefordert, steht mit dieser aber auch nicht im Widerspruch:

13 Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, führt dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Aus diesem Grund ist etwa das Revisionsvorbringen, die Erstrevisionswerberin könne im Falle einer Rückkehr nach Kabul - ohne männliche Begleitung - nicht mehr den Freizeitsport Nordic Walking ausüben, für sich betrachtet jedenfalls kein Grund, ihr asylrechtlichen Schutz zu gewähren. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. idS VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388). In diesem Sinne ist auch die rechtliche Argumentation des BVwG zu verstehen, der Bruch mit den gesellschaftlichen Normen des Heimatlandes muss "deutlich und nachhaltig" erfolgt sein.

14 Zuzustimmen ist der Revision, dass auch einer alleinerziehenden Mutter von mehreren minderjährigen Kindern nicht deshalb die Annahme einer selbstbestimmten Lebensweise in Österreich, die zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden ist, abgesprochen werden kann, weil sie den Haushalt führt und sich um die Kindererziehung kümmert. Das hat das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis aber auch nicht getan. Es hat bei seiner Einschätzung, die Erstrevisionswerberin habe keinen zum Asylschutz führenden Lebensstil angenommen, auf die Lebenssituation der Erstrevisionswerberin als alleinerziehender Mutter durchaus Bedacht genommen. Es hat allerdings hervorgehoben, dass die Erstrevisionswerberin in ihrer Lebensführung in hohem Maße unselbständig sei und in Österreich keine Lebensweise angenommen habe, die sie bei Rückkehr nach Afghanistan in dieser Weise nicht mehr aufrecht erhalten könnte.

15 Der Revision gelingt es nicht, diese Einschätzung des BVwG nachvollziehbar in Zweifel zu ziehen. Sie vermag keine überzeugenden Beispiele dafür zu bringen, dass die Erstrevisionswerberin einen selbstbestimmten Lebensstil angenommen hätte, der zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden ist, und den sie deshalb in Afghanistan nicht mehr leben könnte, ohne "Verfolgung" zu erfahren. Soweit die Revision auch reduzierte Bildungschancen der minderjährigen Viert- und Fünftrevisionswerberinnen in Afghanistan anspricht und eine drohende Zwangsverheiratung in den Raum stellt, entfernt es sich von den gegenteiligen - auf die Umstände des Einzelfalles bezogenen - Feststellungen des BVwG, die auf einer - nach dem Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes - nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung beruhen.

16 Da somit schon der Inhalt der Revision erkennen lässt, dass die von den revisionswerbenden Parteien behaupteten Rechtsverletzungen nicht vorliegen, war die Revision ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung gemäß § 35 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 23. Jänner 2018

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