VwGH 2004/20/0240

VwGH2004/20/02402.3.2006

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl sowie die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher und Dr. Berger und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des D in W, geboren 1988, vertreten durch Dr. Christoph Lassmann-Wichtl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kohlmarkt 1, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 8. April 2004, Zl. 248.638/0-III/07/04, betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §1 Z4;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FrG 1997 §57;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
AsylG 1997 §1 Z4;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FrG 1997 §57;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird hinsichtlich seines Spruchpunktes 2. (Feststellung nach § 8 Asylgesetz 1997) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der nach seinen Angaben damals 15 Jahre alte Beschwerdeführer reiste am 17. November 2003 in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Asylantrag. Als seine Staatsangehörigkeit führte er in dem bei der Stellung des Asylantrages ausgefüllten Formular Liberia an. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 19. März 2004 gab er an, in Monrovia (Liberia) geboren zu sein; er wisse nicht, ob er liberianischer oder nigerianischer Staatsbürger sei. Sein Vater sei Liberianer, seine Mutter Nigerianerin, beide seien verstorben. Er sei im Alter von 6 Jahren von Liberia nach Nigeria gezogen. Auf die Frage, mit welchem Land er sich "mehr verbunden fühle", gab der Beschwerdeführer an: "Ich werde die Heimat meines Vaters nicht vergessen. Ich bin Liberianer." Zur Frage, warum er Nigeria verlassen habe, führte er aus, sein Onkel sei Vorsitzender einer Geheimgesellschaft der "Yuruba", die "Oduwa" heiße. Sein Onkel habe gewollt, dass der Beschwerdeführer dieser Geheimgesellschaft beitrete, doch sei seine Mutter "unter anderem immer dagegen (gewesen), weil ich kein Nigerianer bin". Nach dem Tod seiner Mutter habe man ihm damit gedroht, dass man ihn opfern würde, falls er der Gesellschaft nicht beitrete. Auf die Frage, warum er, wenn er liberianischer Staatsbürger sei, nicht nach Liberia gehe, gab der Beschwerdeführer an: "Wo soll ich hingehen? Niemand könnte auf mich aufpassen." Nochmals zu seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit befragt, führte er (erneut) aus, er sei Liberianer, habe aber "nur in Lagos" gelebt. Nach Liberia könne er nicht zurückkehren, weil dort keine Ordnung herrsche; er habe gehört, "dass viele Leute getötet worden sind". Auf den Hinweis, dass sich die Situation in Liberia nach dem Sturz des Präsidenten Charles Taylor und dem Ende des Bürgerkrieges grundlegend geändert habe und die Hauptstadt Monrovia als sicher gelte, und die Frage, ob er sich vorstellen könne, "unter diesen Umständen in Monrovia eine neue Existenz zu beginnen", antwortete der Beschwerdeführer:

"Ich habe keinen Vater mehr. Wer soll sich um mich kümmern?"

Mit Bescheid vom 22. März 2004 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Liberia gemäß § 8 AsylG für zulässig. Begründend führte die Behörde aus, die Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers stehe nicht fest. Festgestellt werde, dass der Beschwerdeführer für den Fall seiner Abschiebung nach Liberia weder mit asylrelevanter Verfolgung noch mit einer unmenschlichen Behandlung oder Bestrafung oder der Todesstrafe zu rechnen habe. Zur Lage in Liberia traf das Bundesasylamt u.a. Feststellungen über den Rücktritt des früheren Präsidenten Charles Taylor am 2. August 2003, die darauf folgende Unterzeichnung eines Friedensvertrages zwischen der liberianischen Regierung und Rebellengruppen, die Amtseinführung der neuen Regierung im Oktober 2003 und die Unterstützung der Regierung bei der "Befriedung Liberias" und bei der Entwaffnung der Rebellen und Regierungsmilizen durch eine bis zu 15.000 Mann starke Friedenstruppe der Vereinten Nationen. Der "symbolische Auftakt" des UN-Programmes zur Entwaffnung und Wiedereingliederung sei am 1. Dezember 2003 erfolgt, umgesetzt werde das Programm "aber erst seit Sonntag", wobei "etwa vier Monate nach dem Rücktritt Taylors" die UN-Truppen "fast 2000 Waffen eingesammelt" hätten. In einem "Bericht vom 8.12.2003" werde von einer Verbesserung der allgemeinen Lage in Liberia gesprochen, "weil viele Flüchtlinge in ihre Häuser zurückgekehrt seien und die Bauern wieder ihre Felder bestellen können". Es seien Camps für innerstaatlich vertriebene Personen ("IDP Camps") eingerichtet worden, um die Wiederansiedelung in den Ursprungsgebieten voranzutreiben, und laut einem Bericht des UNHCR vom 30. September 2003 seien vom "UN-Flüchtlingskommissar" die "merklichen Verbesserungen" in Liberia begrüßt worden. "World Vision" habe seit dem Friedensabkommen seine Hilfe für die Not leidende Bevölkerung "verstärkt". Es seien mehrere tausend Kinder in Gesundheitszentren innerhalb und außerhalb der Hauptstadt Monrovia "untersucht" worden, wobei stark unterernährte Kinder (in Kooperation mit UNICEF) auch Zusatznahrung bekommen hätten. Im Umland von Monrovia habe ein "weiteres Gesundheitszentrum" seinen Betrieb aufgenommen. "World Vision" sorge für die medizinische Versorgung der Flüchtlinge im Sportstadion von Monrovia und habe mittlerweile durch "WORLD VISION Deutschland" 30 Tonnen Hilfsgüter nach Monrovia gebracht.

Die Abweisung des Asylantrages ebenso wie die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers nach Liberia begründete das Bundesasylamt - wortgleich - damit, dass aufgrund der aktuellen Lage - "speziell der westliche Teil Liberias, insbesondere die Hauptstadt Monrovia und die weitere Umgebung" könnten als "befriedet eingestuft werden" und internationale Friedens- und Hilfstruppen hätten ihre Arbeit aufgenommen - im Zusammenhang mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht abzusehen sei, dass dieser mit einer "asylrelevanten" Bedrohung zu rechnen hätte.

Die dagegen erhobene Berufung wies die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid vom 8. April 2004 gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt 1.) und stellte gemäß § 8 AsylG iVm § 57 FrG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Liberia zulässig sei (Spruchpunkt 2.).

Begründend schloss sich die belangte Behörde den Ausführungen des Bundesasylamtes im erstinstanzlichen Bescheid "vollinhaltlich" an und erhob diese zum Inhalt des angefochtenen Bescheides. Ergänzend führte die belangte Behörde zu Spruchpunkt 2. des erstinstanzlichen Bescheides aus, vor dem Hintergrund der Feststellungen zur humanitären Situation könne nicht erkannt werden, dass in Liberia landesweit eine derart extreme Gefährdungssituation vorliege, dass "gleichsam jeder, der sich dorthin begibt", in seine Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK verletzt wäre. Durch die Tätigkeit internationaler Hilfsorganisationen (etwa World Vision teilweise in Kooperation mit UNICEF und UNHCR) wäre dem Beschwerdeführer nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit seine Existenzgrundlage entzogen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde gegen diesen Bescheid erwogen:

1. Dass die belangte Behörde das Vorliegen von Fluchtgründen und die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in Bezug auf Liberia geprüft hat, ist nicht zu beanstanden. § 1 Z 4 AsylG bestimmt als Herkunftsstaat den Staat, dessen Staatsangehörigkeit Fremde besitzen, oder - im Falle der Staatenlosigkeit - den Staat ihres früheren gewöhnlichen Aufenthaltes. Herkunftsstaat im Sinn des § 1 Z 4 AsylG ist somit primär jener Staat, zu dem ein formelles Band der Staatsbürgerschaft besteht; nur wenn ein solcher Staat nicht existiert, wird subsidiär auf sonstige feste Bindungen zu einem Staat in Form eines dauernden (gewöhnlichen) Aufenthaltes zurückgegriffen (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 22. Oktober 2002, Zl. 2001/01/0089, vom 30. September 2004, Zl. 2001/20/0410, und vom 4. November 2004, Zl. 2002/20/0159). Der Beschwerdeführer hat nicht nur im erstinstanzlichen Verfahren mehrmals angegeben, Staatsbürger von Liberia zu sein, sondern hat auch in seiner Berufung ausdrücklich angeführt, er sei "Staatsbürger von Liberia". Die belangte Behörde durfte daher im vorliegenden Fall (der insofern mit jenen Fällen, die den zuvor zitierten Erkenntnissen zugrunde lagen, nicht vergleichbar ist) von der Unstrittigkeit der liberianischen Staatsangehörigkeit ausgehen und war nicht gehalten, weitere Ermittlungen über die Staatsbürgerschaft des Beschwerdeführers anzustellen. Auch in der Beschwerde wird im Übrigen nicht aufgezeigt, aus welchen Gründen beim Beschwerdeführer eine andere als die liberianische Staatsbürgerschaft gegeben sein sollte.

2. Ausgehend davon ist auch die Abweisung des Asylantrages gemäß § 7 AsylG nicht als rechtswidrig zu erkennen, weil sich die vom Beschwerdeführer konkret geschilderten, seine Person betreffenden Fluchtgründe im Zusammenhang mit der in Nigeria tätigen "Geheimgesellschaft" nicht auf eine Bedrohung in seinem Herkunftsstaat beziehen, sodass insofern keine Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat behauptet wurde. Dass in Bezug auf Liberia eine Verfolgungsgefahr, die auf einen in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Grund zurückzuführen ist, bestünde, hat die belangte Behörde im Ergebnis ebenfalls zutreffend verneint, weil weder behauptet wurde noch sonst ein Hinweis darauf erkennbar ist, dass es maßgeblich wahrscheinlich wäre, dass der Beschwerdeführer aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung in Liberia verfolgt würde.

Die Beschwerde war daher in Bezug auf die Abweisung des Asylantrages (Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides) gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

3. Der in Spruchpunkt 2. des angefochtenen Bescheides festgestellten Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers nach Liberia hat die belangte Behörde, die insoweit auf die Feststellungen des erstinstanzlichen Bescheides verwiesen hat, zugrunde gelegt, dass sich die politische Situation in Liberia geändert und die "allgemeinen Lage" sich verbessert habe, weil viele Flüchtlinge in ihre Häuser zurückgekehrt seien, die Bauern wieder ihre Felder bestellen könnten und Camps für innerstaatlich vertriebene Personen ("IDP Camps") eingerichtet worden seien. In einem - im vorgelegten Verwaltungsakt nicht enthaltenen - Bericht des UNHCR vom 30. September 2003 sei von - nicht näher ausgeführten - "merklichen Verbesserungen" in Liberia die Rede. "World Vision" habe seit dem Friedensabkommen seine Hilfe für die Not leidende Bevölkerung "verstärkt", sorge für die medizinische Versorgung von Kindern und der Flüchtlinge im Sportstadion von Monrovia und habe "30 Tonnen Hilfsgüter" nach Monrovia gebracht. Da die Hauptstadt Monrovia und die weitere Umgebung - wie das Bundesasylamt ausgeführt hatte - als "befriedet eingestuft werden" könnten und internationale Hilfsorganisationen ihre Tätigkeit aufgenommen hätten, bestehe keine landesweite "extreme Gefährdungssituation" und es sei nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass dem Beschwerdeführer seine Existenzgrundlage (in Liberia) entzogen wäre.

Diese - mangels Vorlage der den erstinstanzlichen Feststellungen zugrunde liegenden Dokumente für den Verwaltungsgerichtshof auch nicht im Einzelnen nachvollziehbaren - Feststellungen reichen angesichts des notorischen langjährigen Bürgerkrieges in Liberia (der erst etwa ein halbes Jahr vor Ergehen des angefochtenen Bescheides durch ein Friedensabkommen beendet wurde, wobei die Entwaffnung der Rebellengruppen und Milizen offenbar noch keinesfalls abgeschlossen war) und des geringen Alters des Beschwerdeführers - dieser war im Zeitpunkt der Entscheidung der belangten Behörde seinen Angaben zufolge noch nicht einmal 16 Jahre alt - nicht aus, um die Zulässigkeit der Abschiebung beurteilen zu können. Die belangte Behörde hätte vielmehr die zu erwartende konkrete Situation des minderjährigen alleinstehenden Beschwerdeführers, der nach seinen Angaben in Nigeria aufgewachsen und seit seinem sechsten Lebensjahr nicht mehr in Liberia aufhältig gewesen war, im Falle von dessen Abschiebung aus Österreich zu beurteilen und dabei auf die Sicherheitslage und die humanitären Verhältnisse in Liberia Bedacht zu nehmen gehabt (vgl. hinsichtlich der Abschiebung eines minderjährigen Asylwerbers etwa das Erkenntnis vom 24. Mai 2005, Zl. 2002/01/0061, sowie in Bezug auf die Lage in Liberia die Erkenntnisse vom 29. September 2005, Zl. 2003/20/0228, vom 23. September 2004, Zl. 2004/21/0134, und vom heutigen Tag, Zl. 2004/20/0415; siehe im Übrigen auch die Stellungnahme des UNHCR zur Behandlung von Asylsuchenden aus und Rückkehr nach Liberia vom 3. August 2005, in der sogar noch zu diesem Zeitpunkt "weiterhin die Gewährung komplementärer Schutzformen in großzügiger Weise" nahegelegt wird).

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde bei einer den dargestellten Erfordernissen gerecht werdenden Prüfung hinsichtlich der Zulässigkeit des Refoulements des minderjährigen Beschwerdeführers nach Liberia zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, war Spruchpunkt 2. des bekämpften Bescheides gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

4. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003. Wien, am 2. März 2006

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