VwGH 2012/18/0100

VwGH2012/18/010012.12.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Merl und Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde des H Ö in W, vertreten durch Mag. Andreas Duensing, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 23. Mai 2012, Zl. UVS-FRG/4/10643/2011-27, betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrÄG 2011;
FrPolG 2005 §52 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
MRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrÄG 2011;
FrPolG 2005 §52 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
MRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

I.

Mit Bescheid vom 22. August 2011 erließ die Bundespolizeidirektion Wien gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG). Unter einem verband sie diesen Ausspruch gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 7 FPG mit der Erlassung eines auf die Dauer von fünf Jahren befristeten Einreiseverbotes.

Mit dem nunmehr beim Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der dagegen erhobenen Berufung keine Folge und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid mit der Maßgabe, dass das Einreiseverbot auf die Dauer von zwei Jahren befristet werde.

In ihrer Begründung führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei am 7. Oktober 1989 in das Bundesgebiet eingereist und habe zwischen Februar 1990 und 28. April 2000 Aufenthaltstitel als türkischer Gastarbeiter innegehabt. Am 20. April 2000 habe der Beschwerdeführer die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung beantragt, das diesbezügliche Verfahren sei jedoch mit 4. Mai 2000 eingestellt worden.

Mit Urteil des Bezirksgerichtes Favoriten vom 1. Dezember 1997 sei der Beschwerdeführer gemäß § 83 Abs. 1 und § 146 StGB zu einer Geldstrafe und mit Urteil des Landesgerichtes Wien vom 30. Oktober 1998 gemäß § 15, § 105 Abs. 1 und § 83 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden.

Unter Hinweis auf diese Verurteilungen sei gegen den Beschwerdeführer mit Bescheid der Bundespolizeidirektion vom 27. Jänner 1999 ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot verhängt worden. Der Berufung gegen diesen Bescheid sei keine Folge gegeben worden. Der diesbezüglichen Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof sei zunächst die aufschiebende Wirkung zuerkannt worden; mit Erkenntnis vom 24. April 2002, Zl. 99/18/0237, sei die Beschwerde als unbegründet abgewiesen worden.

Am 2. April 2003 sei der Beschwerdeführer durch das Zollamt Krems beim Verlegen von Betoneisen ohne arbeitsmarktbehördliche Bewilligung angetroffen worden. Aus der sodann verhängten Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung sei der der Beschwerdeführer am 27. April 2003 wegen Haftunfähigkeit infolge Hungerstreiks entlassen worden.

Im Zuge einer niederschriftlichen Vernehmung durch die Bundespolizeidirektion Wien am 8. April 2003 sei dem Beschwerdeführer mitgeteilt worden, dass sein Schriftsatz vom 21. Juni 2002 (in den Verwaltungsakten befinde sich ein an das Bundesasylamt adressierter, mit "Asylantrag" bezeichneter Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 21. Juni 2002) nie beim Bundesasylamt eingelangt sei. Die Bundespolizeidirektion Wien habe sodann diesen Antrag des Beschwerdeführers noch am gleichen Tag an das Bundesasylamt weitergeleitet. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 24. Juni 2004 sei dieser abgewiesen worden. Die abweisende Berufungsentscheidung des Asylgerichtshofes sei mit 30. März 2010 rechtskräftig geworden. Die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde sei mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 8. Juni 2010 abgelehnt worden.

Ein Antrag des Beschwerdeführers auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes sei mit Bescheid vom 29. Oktober 2004 rechtskräftig abgewiesen worden.

Am 14. Oktober 2010 habe der Beschwerdeführer einen Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassung gestellt. Das diesbezügliche Verfahren sei noch anhängig.

Der Beschwerdeführer sei mittlerweile strafgerichtlich und verwaltungsstrafrechtlich unbescholten. Er verfüge in Österreich über keine familiären Beziehungen, den Kontakt zu seiner Familie in der Türkei habe er vor Jahren abgebrochen.

Der Beschwerdeführer sei seit Jänner 1991 - abgesehen von kurzen Unterbrechungen - von verschiedenen Unternehmen als Arbeiter bei der Sozialversicherung gemeldet gewesen, wobei er bis zum 19. Jänner 2001 über eine arbeitsmarktbehördliche Bewilligung verfügt habe. Im Zeitraum vom 18. April 1994 bis zum 18. August 1995 sei er bei der H. GmbH beschäftigt gewesen und habe zum damaligen Zeitpunkt die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB erfüllt. Mit der Erlassung des rechtskräftigen Aufenthaltsverbotes sei jedoch eine Maßnahme gemäß Art. 14 ARB getroffen worden, aufgrund derer der Beschwerdeführer seine Berechtigung nach Art. 6 ARB verloren habe.

Bis 28. April 2000 habe der Beschwerdeführer über eine Niederlassungsbewilligung verfügt. Das Verfahren hinsichtlich des vom Beschwerdeführer gestellten Verlängerungsantrages sei am 4. Mai 2000 eingestellt worden. Der Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot sei zunächst die aufschiebende Wirkung zuerkannt worden, mit Erkenntnis vom 24. April 2002 sei die Beschwerde jedoch als unbegründet abgewiesen worden. Der mit 21. Juni 2002 datierte Asylantrag des Beschwerdeführers sei erst am 8. April 2003 beim Bundesasylamt eingelangt, der Beschwerdeführer habe sich daher zumindest von Juli 2002 bis 8. April 2003 unrechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Am 30. März 2010 sei das Asylverfahren rechtskräftig negativ abgeschlossen worden. Ab diesem Zeitpunkt sei der Aufenthalt des Beschwerdeführers wieder unrechtmäßig gewesen.

Die Voraussetzungen des § 52 Abs. 1 erster Satz FPG seien daher erfüllt.

Der Beschwerdeführer habe lediglich bis Jänner 2001 über eine arbeitsmarktbehördliche Bewilligung verfügt, er sei jedoch dem Sozialversicherungsauszug zufolge - von kurzen Unterbrechungen abgesehen - durchgehend von verschiedenen Arbeitgebern als Arbeitnehmer zur Sozialversicherung gemeldet gewesen. Dieser Umstand erfülle den Tatbestand des § 53 Abs. 2 Z. 7 FPG.

Der Beschwerdeführer halte sich zudem seit über zwei Jahren unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Dies laufe dem öffentlichen Interesse eines geordneten Fremdenwesens zuwider. Die Ausübung einer illegalen Beschäftigung über zehn Jahre hindurch beeinträchtige das öffentliche Interesse eines geregelten Arbeitsmarktes erheblich. Der Beschwerdeführer lasse durch sein Verhalten seine mangelnde Verbundenheit mit rechtlich geschützten Werten erkennen. Die Voraussetzungen der §§ 52 und 53 FPG für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes lägen daher vor.

Auch die im Lichte des § 61 FPG gebotene Abwägung der privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers an seinem Verbleib im Bundesgebiet mit den entgegenstehenden öffentlichen Interessen habe eine Abstandnahme von der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht rechtfertigen können. Der Beschwerdeführer spreche einigermaßen gut Deutsch, es sei daher "von einer gewissen sprachlichen Integration auszugehen". Er sei zwar seit 1991 in Österreich einer Beschäftigung nachgegangen, diese sei jedoch ab 2001 illegal gewesen. Der Beschwerdeführer verfüge über keine familiären Beziehungen in Österreich, allerdings sei auch der Kontakt zur Familie in der Türkei noch (gemeint: nicht) gegeben. Der Beschwerdeführer spreche nach wie vor Türkisch.

Der langjährige Aufenthalt des Beschwerdeführers alleine reiche auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK oder des Ermessens nicht aus, dass von einer Rückkehrentscheidung und einem Einreiseverbot hätte Abstand genommen werden können. Dabei sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer auf Grund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung während des Asylverfahrens nicht sicher mit einem Verbleib in Österreich habe rechnen dürfen. Aufgrund der nunmehr vorliegenden strafgerichtlichen und verwaltungsstrafrechtlichen Unbescholtenheit sei das Einreiseverbot auf die Dauer von zwei Jahren herabgesetzt worden.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

Der Beschwerdeführer hält sich unbestritten unrechtmäßig im Bundesgebiet auf, weshalb der Tatbestand des § 52 Abs. 1 erster Satz FPG erfüllt ist.

Er wendet sich jedoch gegen das Ergebnis der von der belangten Behörde durchgeführten Interessenabwägung und führt aus, die belangte Behörde hätte im Hinblick auf seinen jahrzehntelangen Aufenthalt in Österreich zu einem Überwiegen seiner privaten Interessen kommen müssen.

Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner zu Ausweisungen gemäß § 53 Abs. 1 FPG idF vor dem FrÄG 2011 ergangenen, aber auch für Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 1 FPG (in der Fassung des FrÄG 2011) maßgeblichen Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass es zwar zutrifft, dass den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Normen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - und damit eines von Art. 8 Abs. 2 EMRK erfassten Interesses - ein hoher Stellenwert zukommt. Demgegenüber wurde in der bisherigen Judikatur aber auch bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden wiederholt von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich und damit von der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung ausgegangen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden ausnahmsweise Ausweisungen (gemäß § 53 Abs. 1 FPG idF vor dem FrÄG 2011) auch nach so einem langen Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 19. Juni 2012, Zl. 2012/18/0027, zu einer Rückkehrentscheidung sowie das darin zitierte hg. Erkenntnis vom 30. August 2011, Zl. 2008/21/0605, mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtslage vor dem FrÄG 2011).

Von einem Fehlen jeglicher Integration kann aber im vorliegenden Fall keine Rede sein. Nach den Feststellungen im angefochtenen Bescheid hat sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits 23 Jahre beinahe durchgehend und über erhebliche Zeit rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. In dieser Zeit war er auch - mit kurzen Unterbrechungen - beschäftigt und sozialversichert, wobei er bis April 2001 auch über entsprechende Beschäftigungsbewilligungen verfügt hat. Darüber hinaus ist er nunmehr unbescholten und spricht Deutsch.

Dem hält die belangte Behörde einen zuletzt unrechtmäßigen Aufenthalt sowie jahrelange illegale Beschäftigungen entgegen.

Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Bestimmungen und der Verhinderung von "Schwarzarbeit" ist zwar eine erhebliche Bedeutung zuzugestehen. Im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles kommt jedoch den privaten Interessen des Beschwerdeführers ein so großes Gewicht zu, dass die Ansicht der belangten Behörde, wonach die Auswirkung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers nicht schwerer wögen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung, vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilt wird (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 21. November 2011, Zl. 2009/18/0162).

Da die belangte Behörde insofern die Rechtslage verkannt hat, als sie die Interessenabwägung gemäß § 61 FPG trotz seines sehr langen und über erhebliche Zeit rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet und seiner beinahe durchgehenden, teilweise legalen Beschäftigungen zu Lasten des Beschwerdeführers vorgenommen hat, hat sie ihren Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil die Umsatzsteuer für den Schriftsatzaufwand vom dafür zugesprochenen Pauschalbetrag bereits erfasst ist.

Wien, am 12. Dezember 2012

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