VwGH 2008/11/0128

VwGH2008/11/012823.5.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des HK in L, vertreten durch Mag. Dieter Schnetzinger, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Volksfeststraße 17, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 17. April 2008, Zl. 41.550/926- 9/07, betreffend Zusatzeintragung in den Behindertenpass, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §52;
BBG 1990 §40 Abs1;
BBG 1990 §40;
BBG 1990 §42 Abs1;
BBG 1990 §45 Abs1;
BBG 1990 §45 Abs2;
KfzStG 1992 §2 Abs1 Z12 litb;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AVG §52;
BBG 1990 §40 Abs1;
BBG 1990 §40;
BBG 1990 §42 Abs1;
BBG 1990 §45 Abs1;
BBG 1990 §45 Abs2;
KfzStG 1992 §2 Abs1 Z12 litb;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist nach der Aktenlage Inhaber eines Behindertenpasses, laut Mitteilung des Bundessozialamtes vom 8. Februar 2005 betrug sein Grad der Behinderung 80 v.H. Dieser Behinderungsgrad resultiert nach dem ärztlichen Gutachten vom 28. Jänner 2005 unter anderem aus einem Zustand nach Aortenklappenersatz und einer diabetischen Polyneuropathie.

Mit Formular vom 14. März 2007 beantragte der Beschwerdeführer, in seinen Behindertenpass die "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung (Befreiung von der KFZ-Steuer bzw. für die Gratisautobahnvignette)" einzutragen.

Im Rahmen der amtsärztlichen Untersuchung vom 7. Mai 2007 gab der Beschwerdeführer u.a. Atemnot bei Belastungen an, die besonders schlimm beim Treppensteigen sei, sodass er nur ein Stockwerk bewältigen könne (Akt S.56). Im zugehörigen Untersuchungsbefund ist u.a. festgehalten: "Gehstrecke:

anamnetisch reduzierte Gehstrecke bei diabetischer Polyneuropathie", laut Gutachten sei die Gehstrecke für die Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittels ausreichend, das Ein- und Aussteigen sei noch gut möglich.

In seiner Stellungnahme vom 9. Juli 2007 führte der Beschwerdeführer aus, das Erreichen des nächsten öffentlichen Verkehrsmittels in ca. 400 Metern Entfernung sei ihm nur mit Gehhilfe und mehrmaligen Unterbrechungen möglich, weil ihm die diabetische Polyneuropathie das Bewältigen kurzer Wegstrecken "zum Martyrium" mache. Das Einsteigen in das öffentliche Verkehrsmittel erfolge "durch Hinaufziehen". Wenn er die Fahrt mangels freien Sitzplatzes im Stehen absolvieren müsse, werde diese infolge Bremsmanöver und Kurvenfahrten ebenfalls "zum Martyrium".

Mit Bescheid des Bundessozialamtes vom 3. August 2007 wurde der Antrag auf Eintragung des genannten Zusatzvermerkes in den Behindertenpass gemäß den §§ 42 und 45 Bundesbehindertengesetz (BBG) abgewiesen.

In seiner als Einspruch bezeichneten Berufung wendete der Beschwerdeführer ein, bei der erstinstanzlichen Entscheidung sei die von ihm als Hauptleiden angegebene diabetische Polyneuropathie schlichtweg vergessen worden, aufgrund der ihm wegen starker Schmerzen in beiden Beinen nur eine maximale Gehstrecke von 100 Metern möglich sei. Ebenso unberücksichtigt geblieben sei seine Kurzatmigkeit, die Ausdruck seiner minimalen Belastbarkeit bei kurzen Gehstrecken, leichten Steigungen und beim Treppensteigen sei.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 42 Abs. 1 BBG in Verbindung mit § 66 Abs. 4 AVG ab.

In der Begründung gab sie zwei von ihr eingeholte Gutachten der Amtssachverständigen für Neurologie und für Innere Medizin wieder. In diesen Gutachten seien hinsichtlich des Beschwerdeführers mehrere Diagnosen aufgelistet, unter anderem sein Zustand nach Ersatz einer Herzklappe sowie "diabetische Polyneuropathie mit distalsymmetrischen sensiblen Ausfällen und erheblicher Schmerzsymptomatik". In seiner fachlichen Beurteilung sei der Facharzt für Innere Medizin (hier auf das Wesentliche zusammengefasst) zum Ergebnis gelangt, dass dem Beschwerdeführer die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel aus internistischer Sicht "möglich" und dass kardiopulmonal sowohl eine Gehstrecke von 400-500 Metern als auch das Ein- und Aussteigen "bewältigbar" seien. Das Symptom der Kurzatmigkeit sei internistisch ausreichend berücksichtigt worden.

Auch die neurologische Beurteilung habe ergeben, dass eine kurze Wegstrecke von etwa 300 - 400 Metern vom Beschwerdeführer "durchaus aus eigener Kraft bewältigt werden" könne, insbesondere bestünden keine motorischen Ausfälle, Behelfe seien nicht erforderlich. Beim Ein- und Aussteigen in ein öffentliches Verkehrsmittel sei der Beschwerdeführer "nicht behindert", Schwierigkeiten bei der Benützung eines Stehplatzes seien zwar grundsätzlich nachvollziehbar, "aber wohl kein wirkliches Hindernis". Aus neurologischer Sicht bestehe kein Handicap in einem Ausmaß, das die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel "unmöglich machen würde".

Aufgrund der Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 9. Juli 2007, in welcher dieser ausführte, dass ihm die Wegstrecken zu den Haltstellen und die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur mit großen Schmerzen und ständigen Unterbrechungen möglich sei, holte die belangte Behörde die Stellungnahme eines Sachverständigen für Allgemeinmedizin ein. Dieser verwies im Wesentlichen auf die bisherigen Gutachtensergebnisse und meinte, es gebe keine Hinweise, dass dem Beschwerdeführer die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar sei. Diese Stellungnahme unterzog die belangte Behörde nicht dem Parteiengehör.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sei dann unzumutbar, wenn eine kurze Wegstrecke nicht aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe, allenfalls unter Verwendung der zweckmäßigen Behelfe, ohne Unterbrechung zurückgelegt werden könne oder wenn die Verwendung der erforderlichen Behelfe die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in hohem Maße erschwere. Die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel liege auch dann vor, wenn sich die dauernde Gesundheitsschädigung auf die Möglichkeit des Ein- und Aussteigens und auf die sichere Beförderung unter Berücksichtigung der beim üblichen Betrieb dieser Verkehrsmittel gegebenen Bedingungen auswirke.

Ausgehend von den genannten Gutachten, die die belangte Behörde als schlüssig und widerspruchsfrei wertete und in freier Beweiswürdigung ihrer Entscheidung zugrunde legte, sei es dem Beschwerdeführer nicht unzumutbar, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, zu der die belangte Behörde die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 42 Abs. 1 BBG hat der Behindertenpass den Vor- und Familiennamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig.

Im Zusammenhang mit der vom Beschwerdeführer begehrten Eintragung ist zu beachten, dass diese etwa einen der Nachweise der für die Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer maßgeblichen Körperbehinderung gemäß § 2 Abs. 1 Z. 12 lit. b Kraftfahrzeugsteuergesetz 1992 darstellt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 23. Februar 2011, Zl. 2007/11/0142, mwN). Nach der genannten Bestimmung sind von der Kraftfahrzeugsteuer Kraftfahrzeuge befreit, die für Körperbehinderte zugelassen sind und von diesen infolge körperlicher Schädigung zur persönlichen Fortbewegung verwendet werden müssen, wenn z.B. der Nachweis der Körperbehinderung durch die Eintragung der "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" im Behindertenpass erfolgt.

Der Beschwerdeführer bringt in seiner Beschwerde im Wesentlichen vor, die belangte Behörde habe sich mit der Rechtsfrage, ob ihm die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel "zumutbar" sei, gar nicht auseinander gesetzt, sondern lediglich die Ausführungen der Sachverständigen übernommen. Diese hätten aber in ihren Gutachten lediglich ausgeführt, dass der Anmarschweg zu den Haltestellen und die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel durch den Beschwerdeführer bewältigbar bzw. machbar sei, ohne dabei die entscheidende Frage zu klären, mit welchen Leiden und Gesundheitsbeeinträchtigungen dies beim Beschwerdeführer verbunden sei.

Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. auch dazu das Erkenntnis vom 23. Februar 2011, Zl. 2007/11/0142, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 18. Dezember 2006, Zl. 2006/11/0211, und vom 17. November 2009, Zl. 2006/11/0178, jeweils mwN.).

Ausgehend von dieser Rechtsprechung ist für den vorliegenden Fall zunächst festzuhalten, dass im Fall des Beschwerdeführers die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel keineswegs auf der Hand liegt. Unstrittig ist nämlich, dass dem Beschwerdeführer eine Herzklappe ersetzt wurde und dass er außerdem (u.a.) unter diabetischer Polyneuropathie leidet, was nach den erwähnten Gutachten nicht nur mit einer Kurzatmigkeit, sondern auch mit einer reduzierten Gehstrecke und vor allem - so die im angefochtenen Bescheid wiedergegebene Diagnose - mit "distalsymmetrischen sensiblen Ausfällen und einer erheblichen Schmerzsymptomatik" verbunden ist.

Daher hätte die belangte Behörde nach der zitierten Judikatur bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel durch den Beschwerdeführer prüfen müssen, wie sich die Gesundheitsschädigung des Beschwerdeführers nach ihrer Art und Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Entgegen dieser Rechtsprechung hat sie jedoch, den Ausführungen der Sachverständigen folgend, nur darauf abgestellt, dass eine bestimmte Gehstrecke wie auch das Ein- und Aussteigen in öffentliche Verkehrsmittel für den Beschwerdeführer "bewältigbar" sei, ohne dabei zu klären, mit welchen Auswirkungen, insbesondere mit welchen Schmerzen dies beim Beschwerdeführer verbunden ist (vgl. zur rechtlichen Bedeutung der Art und des Ausmaßes von Schmerzen im Zusammenhang mit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auch das hg. Erkenntnis vom 20. Oktober 2011, Zl. 2009/11/0032).

Nach der zitierten Rechtsprechung genügte es daher nicht, in den ärztlichen Sachverständigengutachten bloß die dauernde Gesundheitsschädigung darzustellen, vielmehr hätten in den Gutachten die Auswirkungen der Gesundheitsschädigungen des Beschwerdeführers auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise aufgezeigt werden müssen. Im konkreten Fall hätte daher mit Hilfe der ärztlichen Sachverständigen festgestellt werden müssen, ab welcher Gehstrecke beim Beschwerdeführer angesichts der genannten Gesundheitsschädigungen Schmerzen oder andere Leidenszustände (etwa die erwähnten sensiblen Ausfälle) auftreten und welches Ausmaß diese Auswirkungen im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer zu bewältigende Distanz bis zur nächsten Haltestelle öffentlicher Verkehrsmittel erreichen. Gleiches gilt hinsichtlich möglicher Schmerzen oder anderer wesentlicher Auswirkungen bei der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wird dabei, wie gegenständlich, vom Beschwerdeführer die in den Gutachten genannte Gehstrecke, die er ohne Schmerzen zurücklegen kann, bestritten, so ist es überdies Aufgabe der Behörde, im Rahmen einer schlüssigen Beweiswürdigung darzulegen, von welchen Angaben sie diesbezüglich ausgeht, um ihre Entscheidung nachvollziehbar zu machen.

Anschließend hätte sich die belangte Behörde mit der Rechtsfrage auseinander setzen müssen, ob die festgestellten Auswirkungen der Gesundheitsschädigungen beim Benützen öffentlicher Verkehrsmittel dem Beschwerdeführer "zumutbar" sind.

Da die belangte Behörde somit bei der Beurteilung des vorliegenden Beschwerdefalles nicht die maßgebenden rechtlichen Voraussetzungen berücksichtigt hat, ist der angefochtene Bescheid inhaltlich rechtswidrig.

Bei diesem Ergebnis erübrigt sich eine nähere Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass (wie die Beschwerde zutreffend einwendet) der angefochtene Bescheid überdies mit einem Verfahrensmangel behaftet ist, weil die belangte Behörde auch die von ihr zuletzt eingeholte Stellungnahme des Sachverständigen für Allgemeinmedizin dem Parteiengehör hätte unterziehen müssen.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen vorrangiger inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455. Das über die Pauschalbeträge der genannten Verordnung hinausgehende Mehrbegehren war abzuweisen.

Wien, am 23. Mai 2012

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