VwGH 2009/11/0032

VwGH2009/11/003220.10.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des A L in H, vertreten durch Dr. Philipp Gruber, Rechtsanwalt in 9900 Lienz, Rosengasse 13, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten vom 30. Jänner 2009, Zl. 41.550/1082- 9/08, betreffend Zusatzeintragung in den Behindertenpass, zu Recht erkannt:

Normen

BBG 1990 §40;
BBG 1990 §42 Abs1;
BBG 1990 §45;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
BBG 1990 §40;
BBG 1990 §42 Abs1;
BBG 1990 §45;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers vom 12. Juni 2008 auf Eintragung des Zusatzvermerks "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel" in den Behindertenpass gemäß § 66 Abs. 4 AVG iVm § 42 Abs. 1 des Bundesbehindertengesetzes (BBG) ab.

In der Begründung gab die belangte Behörde die Beurteilung des im Berufungsverfahren bestellten Amtsachverständigen Dr. W. (Arzt für Allgemeinmedizin) wieder. Diese lautet:

"Diagnosen:

  1. 1) Degenerative Wirbelsäulenveränderungen
  2. 2) Degenerative Veränderungen des rechten Schultergelenks
  3. 3) Zustand nach Mittelfußtrümmerbruch rechts
  4. 4) Degenerative Veränderungen des rechten Sprunggelenks
  5. 5) Hüftgelenksarthrosen beidseits
  6. 6) Degenerative Kniegelenksveränderungen beidseits

    Beurteilung:

    Der Untersuchte kann eine kurze Wegstrecke aus eigener Kraft, allenfalls unter Verwendung einer Unterarmstützkrücke zurücklegen, die Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittels ist durch die Verwendung einer Unterarmstützkrücke nicht in einem hohen Maße erschwert. Bei Vorhandensein eines Handlaufs (in Bus oder Bahn üblich) ist das Ein- und Aussteigen in öffentliche Verkehrsmittel auch unter der Verwendung einer Unterarmstützkrücke möglich. Hinsichtlich des Gutachtens 1. Instanz besteht lediglich hinsichtlich Diagnose 6 eine Abweichung, was allerdings auf die Gesamteinschätzung keinen Einfluss hat. Der Untersuchte wendet aus seiner Sicht berechtigterweise ein, dass er unter ungünstigen örtlichen Verhältnissen in Hinblick auf Verkehrsverbindungen und Weg zum öffentlichen Verkehrsmittel wohnt. Die von ihm anamnestisch und auch in den Einwendungsschreiben angeführten vegetativen Beschwerden beim Bus fahren (Übelkeit, Erbrechen) sind allgemeinmedizinisch nicht diagnostizierbar oder verifizierbar. ..."

    Dieses Ergebnis der Beweisaufnahme sei dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht worden; dagegen habe er keinen Einwand erhoben. Das Gutachten sei schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei, in ihm werde auf die Art der Leiden, deren Ausmaß und Auswirkung auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ausführlich eingegangen und diese schlüssig beurteilt. Die Angaben des Beschwerdeführers hätten "nicht über den erstellten Befund hinaus objektiviert werden" können. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers seien für die Beurteilung andere Umstände, welche die Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln erschwerten, wie etwa Entfernung und Fahrplangestaltung, nicht maßgebend.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Akten des Verwaltungsverfahrens und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

1. Im Beschwerdefall sind folgende Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes, BGBl. Nr. 283/1990 idF BGBl. I Nr. 109/2008, BBG, maßgebend:

"Ziel

§ 1. Behinderten und von konkreter Behinderung bedrohten Menschen soll durch die in diesem Bundesgesetz vorgesehenen Maßnahmen die bestmögliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gesichert werden.

...

BEHINDERTENPASS

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihrer Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

...

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach den Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Bestimmungen keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.

...

§ 42. (1) Der Behindertenpaß hat den Vor- und Familiennamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

(2) Der Behindertenpaß ist unbefristet auszustellen, wenn keine Änderung in den Voraussetzungen zu erwarten ist.

§ 43. (1) Treten Änderungen ein, durch die behördliche Eintragungen im Behindertenpaß berührt werden, hat das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen diese zu berichtigen oder erforderlichenfalls einen neuen Behindertenpaß auszustellen. Bei Wegfall der Voraussetzungen ist der Behindertenpaß einzuziehen.

...

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluß der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben oder der Paß eingezogen wird.

(3) (Verfassungsbestimmung) Über Berufungen gegen Bescheide des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen gemäß Abs. 2 entscheidet die Bundesberufungskommission nach dem Bundesberufungskommissionsgesetz, BGBl. I Nr. 150/2002.

(4) Gegen die Entscheidung der Bundesberufungskommission ist eine weitere Berufung unzulässig. …

§ 46. Auf das Verfahren zur Ausstellung und Einziehung eines Behindertenpasses finden, soweit dieses Bundesgesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. Nr. 51, und des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes 1991, BGBl. Nr. 53, mit der Maßgabe Anwendung, dass die Berufungsfrist sechs Wochen beträgt."

2. Die Beschwerde ist begründet.

2.1. Gemäß § 42 Abs. 1 BBG hat der behinderten Menschen unter den Voraussetzungen des § 40 BBG auszustellende Behindertenpass den Vor- und Familiennamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig.

Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 23. Februar 2011, Zl. 2007/11/0142, mwN.).

2.2. Die Beschwerde macht unter anderem als Verfahrensmangel geltend, die belangte Behörde habe sich mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers, die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihm nicht zumutbar, weil er das Busfahren nicht vertrage, ihm dabei immer schlecht werde und er nach längerem Sitzen im Bus nicht mehr gehfähig sei, nicht ausreichend auseinandergesetzt. Zwar habe der beigezogene Amtssachverständige Dr. W. eine Verschlechterung der Kniefunktion (degenerative Kniegelenksveränderungen) festgestellt, sei aber auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer nach längerem Stehen oder Sitzen in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr bewegungsfähig sei bzw. nicht mehr ohne fremde Hilfe und nur mit großem Zeitaufwand aussteigen könne, nicht eingegangen. Besonders bei längerem Sitzen und Stehen träten aber jene Probleme auf, welche die Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittels als unzumutbar erscheinen ließen. Mit dem Betrieb eines öffentlichen Verkehrsmittels sei es nicht vereinbar, dass der Beschwerdeführer Zeit benötige, um wieder mobil zu werden, und beim Aussteigen auf fremde Hilfe angewiesen sei. Sowohl das Ein- wie auch das Aussteigen müsse nämlich rasch geschehen und müsse auch damit gerechnet werden, dass dabei Behinderungen durch andere Mitfahrer bestünden, die unter Zeitdruck überwunden werden müssten.

Hinsichtlich der geltend gemachten vegetativen Beschwerden habe der Sachverständige lediglich die Meinung geäußert, diese seien "nicht diagnostizierbar oder verifizierbar"; für diese Annahme fehle jedoch jede fachlich nachvollziehbare Begründung.

2.3. Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde einen relevanten Verfahrensmangel auf.

Der Beschwerdeführer hatte bereits in seinem Antrag vom 12. Juni 2008 nicht nur vorgebracht, dass er das "Busfahren nicht vertrage", weil ihm schlecht werde, sondern auch, dass ihm längeres Sitzen im Bus große Schmerzen im Lenden- und Fußbereich bereite. Ähnlich in seinem Schreiben vom 10. Juli 2008, in dem er unter Bezugnahme auf seinen Antrag vorbringt, "dass länger Sitzen eine reine Qual" für ihn sei.

Die Erstbehörde hat sich mit diesem Vorbringen nicht auseinandergesetzt. Dieser Mangel wurde auch im Berufungsverfahren nicht behoben:

Der Sachverständige, Arzt für Allgemeinmedizin, Dr. W., gab zwar die im Rahmen der Untersuchung des Beschwerdeführers vom 11. Oktober 2008 von diesem wiedergegebenen "derzeitigen Beschwerden" wieder, wonach (u.a.) es bei langem Sitzen zu verstärkten Lendenwirbelsäulenschmerzen komme, und der Beschwerdeführer das Busfahren schlecht vertrage, weil er erbrechen müsse. Er setzte sich aber damit nur insoweit auseinander, dass er ausführte, die "anamnestisch und auch in den Einwendungsschreiben angeführten vegetativen Beschwerden beim Busfahren (Übelkeit, Erbrechen) (seien) allgemein medizinisch nicht diagnostizierbar oder verifizierbar."

Die belangte Behörde hat im angefochtenen Bescheid diese Ausführungen als schlüssig und nachvollziehbar gewertet. In der Gegenschrift vertritt sie hingegen die Auffassung, dass die angegebenen vegetativen Beschwerden "nicht in Zweifel gezogen" würden, auch wenn sie nicht diagnostiziert bzw. verifiziert hätten werden können; sie könnten aber bei rechtzeitiger Einnahme von Medikamenten bzw. ausreichender Flüssigkeitszufuhr vermieden werden.

Entscheidend für die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist, wie sich eine bestehende Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Der von der belangten Behörde beigezogene Sachverständige Dr. W. hat den Einfluss der geltend gemachten vegetativen Beschwerden auf die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht behandelt, dies ausgehend davon, dass seiner Auffassung nach die geltend gemachten Beschwerden nicht vorlägen - anders kann die dargestellte Wendung ("nicht diagnostizierbar oder verifizierbar") im Sachverständigengutachten in ihrem Zusammenhang nicht verstanden werden. Demgegenüber geht die belangte Behörde, wie in der Gegenschrift klargestellt wird, davon aus, dass die geltend gemachten Beschwerden zwar bestünden, sie aber wegen Zumutbarkeit einer erfolgversprechenden Medikation nicht relevant seien.

Eine abschließende Beurteilung, ob diese Vorgangsweise der belangten Behörde (zu den Fragen der Möglichkeit, Zumutbarkeit und Erfolgsaussichten einer entsprechenden Medikation wurde Parteiengehör nicht eingeräumt) einen relevanten Verfahrensmangel begründet, kann im Beschwerdefall unterbleiben:

Die belangte Behörde hat sich nämlich mit der Frage, ob die geltend gemachten Schmerzen im Lenden- und Fußbereich bei - in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht vermeidbarem - längerem Sitzen tatsächlich auftreten, ebenso wenig auseinander gesetzt wie mit Art und Ausmaß dieser Schmerzen und dem Umstand, inwieweit der Beschwerdeführer dadurch, wie er geltend gemacht hat, an der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel (insbesondere beim Ein- und Aussteigen) gehindert ist, was die Beschwerde insofern zutreffend rügt. Damit fehlt es aber an einer nachvollziehbaren Begründung für die Annahme, dem Beschwerdeführer sei die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar.

2.4. Der angefochtene Bescheid erweist sich demnach als mit einem relevanten Verfahrensmangel behaftet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben war.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 20. Oktober 2011

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