VwGH 2008/01/0456

VwGH2008/01/045628.6.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek und Dr. Kleiser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde der A K (geboren 1985) in I, vertreten durch Czernich Hofstädter Guggenberger & Partner, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Bozner Platz 4, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 26. Mai 2008, Zl. 318.103-1/2E-XV/54/08, betreffend §§ 3, 8, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §18;
AsylG 2005 §3;
AVG §37;
AVG §67d;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
AsylG 2005 §18;
AsylG 2005 §3;
AVG §37;
AVG §67d;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Sierra Leone, stellte am 25. August 2007 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Zu ihren Fluchtgründen gab die Beschwerdeführerin (bei Einvernahmen vor dem Bundesasylamt) zusammengefasst an, sie habe eine (sexuelle) Beziehung zu Edward Kamara (EK), einem Politiker der Partei SLPP, gehabt; sie habe EK regelmäßig besucht und sie sei von ihm auch finanziell unterstützt worden. Die SLPP habe bei den bevorstehenden Wahlen im Jahr 2007 den Wahlsieg angestrebt. Als sie ein Wochenende bei EK verbracht habe, seien Leute (Politiker) zu Besuch gekommen. Aus dem mit diesen Personen über Politik, Regierung und bevorstehende Wahlen geführten Gespräch habe sie entnommen, dass ein "Opfer" gebraucht würde, um die Wahlen nicht zu verlieren. Ihr sei bekannt, dass immer wieder Menschen und deren Körperteile für verschieden Kulte in Sierra Leone geopfert würden. Im Zuge des Gespräches zwischen EK und diesen Besuchern habe sie mitbekommen, dass sie "geopfert" werden sollte, um den Wahlerfolg zu erreichen. Daraufhin sei sie geflohen und habe Sierra Leone verlassen.

Mit Bescheid vom 11. Februar 2006 wies das Bundesasylamt den Antrag der Beschwerdeführerin gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 Z. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab und erkannte ihr weder den Status einer Asylberechtigten noch den einer subsidiär Schutzberechtigten zu. Gleichzeitig wies die Behörde die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 aus dem Bundesgebiet nach Sierra Leone aus.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Berufung. Sie legte darin (ua) die Gründe, die sie bewogen hätten, ihr Heimatland zu verlassen, ausführlich (vier Seiten in englischer Sprache) dar.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung der Beschwerdeführerin ohne Durchführung einer Verhandlung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab (I.), erkannte ihr gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 den Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Sierra Leone nicht zu (Spruchpunkt II.) und wies die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 2 Z. 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Sierra Leone aus (Spruchpunkt III.).

Begründend führte die belangte Behörde zur Beweiswürdigung aus, sie schließe sich der Beurteilung der Erstbehörde an und komme (auch) zum Ergebnis, dass dem Vorbringen der Beschwerdeführerin mangels Glaubwürdigkeit keine Asylrelevanz zukomme; "im Ergebnis" teile die belangte Behörde die Beurteilung der Erstbehörde. Durch die in ihrer Berufung angeführten Umstände und Begründungen sei die Beschwerdeführerin der "Ansicht" der Erstbehörde nicht ausreichend substantiiert entgegengetreten und habe die belangte Behörde "nicht vom Wahrheitsgehalt ihrer Angaben zu überzeugen vermocht". Insoweit sie in ihrer Berufung die Fluchtgründe "detaillierter ausführte, war dies allein auf Grund des Neuerungsverbotes nicht von Relevanz". Ihr größtenteils widersprüchliches Vorbringen im Laufe des bisherigen Asylverfahrens gebe der belangten Behörde "berechtigten Anlass, die behauptete Bedrohungssituation in Zweifel zu ziehen". Danach führte die belangte Behörde Argumente für die von ihr angenommene Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin an, wie (nach Ansicht der belangten Behörde vorliegende und näher dargelegte) Widersprüche und (näher dargelegte) Implausibilitäten, die "den gewonnenen Eindruck der erkennenden Behörde verstärkte, wonach sich gegenständliches Vorbringen als reines Konstrukt präsentierte". Auch die Darstellung der Beschwerdeführerin betreffend ihre Reise nach Österreich "entbehrte jeder Logik und rundete den bisher gewonnenen Eindruck der Berufungsbehörde betreffend die gänzliche Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens ab".

Aufgrund dieser Erwägungen gelangte die belangte Behörde zu dem Ergebnis, dass der von der Beschwerdeführerin vorgetragene Sachverhalt der rechtlichen Beurteilung nicht zu Grunde gelegt werden könne. In einer "rein hypothetischen Betrachtungsweise" ergäbe sich für die Beschwerdeführerin die zumutbare Möglichkeit, sich "in einem anderen Landesteil von Sierra Leone niederzulassen, um der sie betreffenden Gefährdung zu entgehen".

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Beschwerde macht als Verfahrensmangel eine Verletzung der Verhandlungspflicht der belangten Behörde geltend und ist damit im Recht.

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalts gemäß Art. II Abs. 2 Z. 43a EGVG, der eine Berufungsverhandlung entbehrlich macht, dann nicht erfüllt ist, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante und zulässige Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (vgl. etwa das - bereits zum AsylG 2005 ergangene - hg. Erkenntnis vom 11. Juni 2008, Zlen. 2008/19/0216, 0217, und die darin angegebene, zum AsylG ergangene Judikatur).

Die belangte Behörde führte in ihren Erwägungen zur Beweiswürdigung zunächst aus, sie schließe sich der erstinstanzlichen Beurteilung an und teile "im Ergebnis" die Beurteilung betreffend die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens der Beschwerdeführerin. Sie erachtete die beweiswürdigenden Überlegungen der Erstbehörde allerdings nicht für ausreichend, sondern nahm eine eigene Bewertung der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Ausreisegründe vor. Ihre eigene Beweiswürdigung hätte die belangte Behörde aber nicht ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung vornehmen dürfen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 15. Jänner 2009, Zl. 2007/01/0352; vom 15. September 2010, Zl. 2008/23/0849; und vom 11. November 2010, Zl. 2008/20/0563).

Die Beschwerdeführerin ist - entgegen der Darstellung im angefochtenen Bescheid - der Beurteilung der Erstbehörde ausreichend entgegengetreten. Mit ihren mit der Berufung vorgelegten Ausführungen, in denen die Beschwerdeführerin ihre Fluchtgründe ausführlich vorbrachte, setzt sich die belangte Behörde allein mit der Begründung nicht auseinander, diese Ausführungen seien "schon auf Grund des Neuerungsverbotes nicht von Relevanz". Inwieweit diese Ausführungen aber "neue Tatsachen" enthielten, wurde nicht begründet, ging die belangte Behörde doch davon aus, die Beschwerdeführerin habe ihre (schon bisher vorgebrachten) Gründe "nunmehr detaillierter ausgeführt". Die handschriftlichen Ausführungen der Beschwerdeführerin wurden zwar aus der englischen Sprache übersetzt, von der belangten Behörde aber nicht berücksichtigt.

Insoweit die belangte Behörde (auch) für die Beschwerdeführerin die zumutbare Möglichkeit, sich "in einem anderen Landesteil von Sierra Leone niederzulassen, um der sie betreffenden Gefährdung zu entgehen" annimmt, fehlt dazu jedwede Begründung.

Anzumerken ist, dass die belangte Behörde zur "Lage in Sierra Leone" allein auf den erstinstanzlichen Bescheid verwies. Den derart übernommenen Länderfeststellungen sind jedoch zu den fallbezogen relevanten Sachverhalten keine Ausführungen entnehmbar.

Der angefochtene Bescheid ist schon im Umfang des Asylteils mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Diese Rechtswidrigkeit schlägt auf die Absprüche über das Refoulement und die Ausweisung durch, sodass der angefochtene Bescheid insgesamt gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 28. Juni 2011

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