VwGH 2008/20/0563

VwGH2008/20/056311.11.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hahnl, über die Beschwerde der Q, vertreten durch Dr. Michael Velik, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Alserstraße 32/15, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 15. Mai 2008, Zl. 318.831-1/2E-XV/54/08, betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine nigerianische Staatsangehörige, beantragte am 23. November 2005 Asyl. Zu ihren Fluchtgründen gab sie im Wesentlichen an, seit dem Tod ihres Vaters 2002 mit ihrer Mutter bei deren reichem Bruder gewohnt zu haben. Eines Tages habe der Onkel der Beschwerdeführerin dieser, als sie von der Schule gekommen sei, mitgeteilt, dass ihre Mutter tot sei und ihr deren Grab gezeigt; er habe der Beschwerdeführerin das Betreten eines Raumes im Haus verboten, in dem er sich regelmäßig mit Freunden, darunter auch Polizisten, getroffen habe; als die Beschwerdeführerin den Raum trotzdem betreten habe, habe sie mehrere mit blutigen weißen Tüchern bedeckte Leichen, darunter auch die ihrer Mutter entdeckt. Als sie im Schock geschrien habe, habe ein Nachbar den Onkel der Beschwerdeführerin geholt, der mit der Polizei gekommen sei und diese angewiesen habe, die Beschwerdeführerin zu suchen. Sie habe sich zunächst versteckt und sei dann weggelaufen. Ein Mann, "auch ein Kultmitglied", habe sie mit dem Auto verfolgt, ihr jedoch in der Folge zur Flucht verholfen. An die Polizei habe sich die Beschwerdeführerin nicht wenden können, da ihr Onkel mit den Polizisten befreundet sei.

Das Bundesasylamt ersuchte daraufhin die Österreichische Botschaft in Abuja um Informationen zum Onkel und zur Mutter der Beschwerdeführerin unter Anführung der von der Beschwerdeführerin genannten Namen von Mutter und Onkel sowie der gemeinsamen Wohnadresse in Benin City. Auf Vorhalt der Antwort der Botschaft, dass man die Adresse nicht gefunden habe und keine Informationen über Onkel und Mutter vorlägen, gab die Beschwerdeführerin an, man hätte "noch mal schauen" oder jemand fragen sollen.

Mit Bescheid vom 3. April 2008 wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin ab, gewährte ihr keinen Refoulementschutz und wies sie nach Nigeria aus. Beweiswürdigend stützte sich das Bundesasylamt ausschließlich darauf, dass das Haus des Onkels der Beschwerdeführerin nicht habe ausfindig gemacht werden können. Es schloss aus diesem Umstand, dass die Beschwerdeführerin die Existenz des Onkels nicht glaubhaft gemacht habe, woraus sich die Unglaubwürdigkeit des gesamten Fluchtvorbringens ergebe.

In ihrer dagegen erhobenen Berufung wandte sich die Beschwerdeführerin substantiiert gegen die erstinstanzliche Beweiswürdigung und brachte insbesondere vor, "nur aus der Nichtauffindung der Hausnummer" könne "nicht der Rückschluss der 'Nicht-Existenz' meines Onkels gezogen werden". Auch betonte sie, sich angesichts der Freundschaft ihres Onkels mit der Polizei nicht an diese um Schutz wenden zu können.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Sie schloss sich den Ergebnissen des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens an und erhob sie zum Inhalt ihrer Entscheidung. Darüber hinaus führte die belangte Behörde jedoch mehrere neue Argumente für die von ihr angenommene Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin an, wie (nach Ansicht der Behörde vorliegende und näher dargelegte) Widersprüche, "nicht verifizierbare Angaben" und Implausibilitäten im Fluchtvorbringen. Weiters ging die belangte Behörde davon aus, die Beschwerdeführerin hätte staatlichen Schutz erlangen können. Einer Berufungsverhandlung habe es nicht bedurft, weil auch die Berufung keine Angaben enthalten habe, die geeignet gewesen wären, die von der Erstbehörde richtig konstatierte Unglaubwürdigkeit des Vorbringens in Zweifel zu ziehen.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen hat:

Die Beschwerde wendet sich gegen die Beweiswürdigung und macht als Verfahrensmangel eine Verletzung der Verhandlungspflicht der belangten Behörde geltend. Damit ist sie im Recht.

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalts gemäß Art. II Abs. 2 Z 43 a EGVG, der eine Berufungsverhandlung entbehrlich macht, dann erfüllt ist, wenn der Sachverhalt nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und schlüssiger Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz festgestellt wurde; auch dann ist aber nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung auszugehen, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante und zulässige Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 17. Oktober 2006, Zl. 2005/20/0198, mwN, sowie die in den hg. Erkenntnissen vom 11. Juni 2008, Zlen. 2008/19/0216, 0217, und vom 15. Jänner 2009, Zl. 2007/01/0352, zitierte Judikatur).

Die belangte Behörde führte zunächst aus, die eben genannten Voraussetzungen für das Absehen von einer mündlichen Verhandlung seien erfüllt. Dieser Beurteilung kann schon angesichts des einzigen Arguments des Bundesasylamtes (die erfolglose Suche nach dem Haus des Onkels mache die Existenz des Onkels und damit das gesamte Vorbringen unglaubwürdig), nicht gefolgt werden, da es aufgrund seiner - in der Berufung richtig aufgezeigten - Unschlüssigkeit die Beweiswürdigung nicht zu tragen vermag. An der Mangelhaftigkeit des Verfahrens ändert auch die von der belangten Behörde vorgenommene umfangreiche Bewertung der - vom Bundesasylamt nicht herangezogenen - Aussagen der Beschwerdeführerin nichts. Vielmehr hätte sie, da ihr die Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Vorbringens (zu Recht) ergänzungsbedürftig erschien, eine mündliche Berufungsverhandlung durchzuführen gehabt. Dazu kommt, dass in der Berufung die erstinstanzliche Beweiswürdigung substantiiert bestritten und in diesem Zusammenhang auch die staatliche Schutzwilligkeit Nigerias konkret für die Beschwerdeführerin in Abrede gestellt worden war. Das Berufungsvorbringen allein hätte somit auch schon eine mündliche Verhandlung erfordert.

Da die Asylrelevanz des Fluchtvorbringens nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, ist der aufgezeigte Verfahrensmangel auch wesentlich. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 11. November 2010

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