OGH 1Ob146/24p

OGH1Ob146/24p19.11.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und die Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely-Kristöfel, Dr. Parzmayr und Dr. Pfurtscheller als weitere Richterinnen und Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B*, vertreten durch Dr. Manfred Palkovits, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei S*, vertreten durch Dr. Ursula Xell-Skreiner, Rechtsanwältin in Wien, wegen Ehescheidung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. Juli 2024, GZ 44 R 53/24f‑51, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Donaustadt vom 30. Oktober 2023, GZ 28 C 20/23m‑38, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00146.24P.1119.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Begründung:

[1] Die Parteien heirateten 2012 in der Türkei. Die Klägerin zog danach zum Beklagten nach Österreich. Für die Klägerin ist es die erste, für den Beklagten die zweite Ehe. Die Frau ist türkische Staatsangehörige, der Mann österreichischer Staatsbürger. Die Parteien haben drei minderjährige Kinder.

[2] Die Klägerin begehrte die Scheidung aus dem zumindest überwiegenden Verschulden des Beklagten.

[3] Er habe ihr Kontakt zu Personen außerhalb der Familie und teilweise zu ihrer eigenen Familie sowie eine Berufstätigkeit verboten. Sie habe „wie in einem Gefängnis“ gelebt, sich in Österreich allein und verloren gefühlt und sei vom Mann auch bei ihren Integrationsbemühungen nicht unterstützt worden. Er habe sich ihr gegenüber lieb- und interesselos verhalten und sie beschimpft, bedroht und eingeschüchtert. Auch seine Eltern hätten sich – mit Duldung des Mannes – aggressiv und bedrohlich verhalten. Der Beklagte habe ihr weder Haushalts- noch Taschengeld gegeben und sei außereheliche Beziehungen zu zwei Frauen eingegangen.

[4] Der Beklagte gestand die unheilbare Ehezerrüttung zu und trat dem Scheidungsbegehren nicht entgegen, beantragte aber den Ausspruch des zumindest überwiegenden Verschuldens der Frau an der Zerrüttung der Ehe.

[5] Er bestritt und relativierte die ihm vorgeworfenen Eheverfehlungen und warf der Frau seinerseits ein ehewidriges Verhalten vor. Sie habe sich in Österreich nicht integriert, sei entgegen seinem Wunsch nicht arbeiten gegangen und habe sich nicht um den Haushalt und die Kinder gekümmert, sondern sei lieber ausgegangen und habe übermäßig Alkohol konsumiert. Die Frau habe grundlos mit der Familie des Mannes gestritten, ihm mehrfach Geldbeträge von jeweils rund 1.000 EUR gestohlen, mit seiner Schwester einen Seifenhandel begonnen, ohne ihn davon zu informieren, den Geschlechtsverkehr ohne finanzielle Gegenleistung verweigert und grundlos eine Wegweisung des Mannes aus der Ehewohnung erwirkt.

[6] Das Erstgericht schied die Ehe aus dem Verschulden beider Parteien und sprach aus, dass den Mann das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung treffe, wobei es zusammengefasst folgenden Sachverhalt zugrunde legte:

[7] Der Mann und seine Eltern hätten die Frau laufend kontrolliert und ua darauf hingewirkt, dass sie kaum Kontakt zu ihrer Familie habe. Aufgrund fehlender Unterstützung des Mannes und der Kontrolle und Unterdrückung durch ihn und seine Familie habe sie sich in Österreich nicht integrieren können, was – auch wegen zahlreicher Vorwürfe und fehlenden Verständnisses des Mannes – zu einer depressiven Stimmung geführt habe. Er habe ihr eine ihren Wünschen entsprechende Berufstätigkeit verboten, ihr nur eine Arbeit in seinem Imbissstand erlaubt und ihr kein Wirtschafts- oder Taschengeld, sondern nur sporadisch Beträge von etwa 50 EUR überlassen, weshalb sie sich manchmal – ohne den Mann zu fragen – Geld aus seiner Geldbörse genommen habe. Um welche Beträge es sich dabei gehandelt habe, stehe nicht fest. Der Mann habe ihr finanzielle Vorteile nur gegen Geschlechtsverkehr angeboten, die Frau diesen ohne solche verweigert habe. Wer zuerst ein solches Angebot gemacht oder eine solche Forderung gestellt habe, stehe nicht fest. Der Mann habe die Frau regelmäßig ordinär beschimpft und ihr sonst kaum Aufmerksamkeit gewidmet, sie auch wegen ihres Aussehens abgewertet, vor ihr auf den Boden gespuckt, um seiner Abscheu Ausdruck zu verleihen, und ihr einmal folgende Kurznachricht geschrieben: „Ich schwöre, ich bringe dich um, ich drehe gerade durch.“

[8] Die Frau habe ihrerseits „keine Rücksicht auf das Wohlbefinden“ des Mannes genommen und etwa einmal einen Besuch bei Bekannten in den Niederlanden durchgesetzt, obwohl er Zahnschmerzen gehabt habe. Sie sei ihm zunehmend mit Interesselosigkeit begegnet. Um den Haushalt und die Kinder habe sie sich „in gewissem Ausmaß“ gekümmert.

[9] Im September 2021 habe der Mann einer fremden Frau Kurznachrichten mit „Kuss-Smileys“ und „Rosen‑Emojis“ geschickt und geschrieben, dass er gerne mit ihr kuscheln würde. Im Dezember 2021 habe er eine andere Frau per SMS gefragt, ob sie mit ihm auf Urlaub fahren wolle und wie sie zu einer „offenen Beziehung“ stehe, mit ihr über gemeinsame Kinder fantasiert und ihr mitgeteilt, dass ihre Lippen „heiß“ aussähen. Dass der Mann mit den beiden Frauen ein sexuelles Verhältnis gehabt habe, stehe nicht fest. Als die Frau im September 2021 von den ersten Kurznachrichten erfuhr, sei für sie „der letzte Funke Liebe“ weggewesen. Nach Kenntnis von den weiteren Kurznachrichten habe sie sich noch weiter von ihm distanziert und begonnen am Abend auszugehen und Freunde zu treffen. Für den Mann sei die Ehe mit Zustellung der Scheidungsklage unheilbar zerrüttet gewesen.

[10] In seiner Berufung bekämpfte der Beklagte beinahe alle zu seinem Nachteil getroffenen Feststellungen. Er wandte sich ua dagegen, dass er der Frau eine Berufstätigkeit verboten und ihr Geld nur gegen Geschlechtsverkehr gegeben habe; dass nicht feststehe, welche Beträge die Frau aus seiner Geldbörse genommen habe; dass er sie regelmäßig ordinär beschimpft und abgewertet habe. Auch seine Drohung mit dem Umbringen relativierte er. Er wandte sich auch gegen die Feststellung, wonach die Frau von ihm und seiner Familie unterdrückt worden sei und er vor ihr aus Abscheu auf den Boden gespuckt habe; ebenso dagegen, dass sie ihren Ehewillen erst im September 2021 verloren habe.

[11] Aus den von ihm angestrebten Ersatzfeststellungen leitete der Mann ein überwiegendes Verschulden der Frau an der Ehezerrüttung ab. Er begehrte dazu in seiner Berufung außerdem ergänzende Feststellungen.

[12] Das Berufungsgericht bestätigte das erstinstanzliche Urteil und ließ die Revision nicht zu.

[13] Die Beweisrüge ließ es weitgehend unerledigt, weil den bekämpften Feststellungen, den Ersatzfeststellungen sowie den angestrebten ergänzenden Feststellungen keine rechtliche Relevanz zukomme. Das überwiegende Verschulden des Mannes an der Zerrüttung der Ehe ergebe sich vielmehr schon aus den unbekämpft gebliebenen Feststellungen, wonach er der Frau keinen Unterhalt geleistet und ihr (mit Ausnahme sporadischer Kleinbeträge) kein Wirtschafts- oder Taschengeld gegeben, sie beschimpft und ihr sonst kaum Aufmerksamkeit gewidmet sowie mit zwei fremden Frauen per SMS „geflirtet“ habe. Demgegenüber trete das ehewidrige Verhalten der Frau (als solches wertete das Berufungsgericht ihre „Interesselosigkeit“ gegenüber dem Mann, ihr mangelndes „Eingehen auf seine Bedürfnisse“, die Entwendung von Geld und die Verweigerung des Geschlechtsverkehrs) in den Hintergrund bzw sei dieses nur eine Reaktion auf das Fehlverhaltens des Mannes gewesen. Für die Frau sei die Zerrüttung der Ehe zwar mit Kenntnis vom ersten „Flirt“ eingetreten, durch den zweiten „Flirt“ sei diese aber noch weiter vertieft worden.

Rechtliche Beurteilung

[14] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision des Mannes ist zulässig, weil das Zerrüttungsverschulden der Parteien aufgrund der weitgehend unerledigt gebliebenen Beweisrüge nicht abschließend beurteilt werden kann; sie ist mit ihrem hilfsweisen Aufhebungsantrag auch berechtigt.

[15] 1. Zu Recht wird in dritter Instanz nicht in Frage gestellt, dass nach Art 8 lit a der ROM III-Verordnung, die insoweit § 20 IPRG verdrängt, aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts beider Parteien in Österreich österreichisches Recht zur Anwendung gelangt.

[16] 2. Ein Ehegatte kann die Scheidung begehren, wenn der andere durch eine schwere Eheverfehlung oder durch ehrloses oder unsittliches Verhalten die Ehe schuldhaft so tief zerrüttet hat, dass die Wiederherstellung einer ihrem Wesen entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht erwartet werden kann (§ 49 EheG). Solche Verfehlungen müssen schuldhaft erfolgt und objektiv schwer sein (RS0056366) und zur unheilbaren Zerrüttung der Ehe beigetragen haben (RS0056921 [T3]). Für die Beurteilung des Zerrüttungsverschuldens der Ehegatten sind sämtliche Umstände in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen und einander gegenüberzustellen (RS0057303). Ein überwiegendes Verschulden liegt vor, wenn der graduelle Unterschied beider Verschuldensanteile augenscheinlich hervortritt (RS0057821), das Verschulden einer Partei also erheblich schwerer wiegt, als das der anderen, das demgegenüber fast völlig in den Hintergrund tritt (RS0057858).

[17] 3. Zweifellos träfe den Mann auf Grundlage der erstinstanzlichen Feststellungen das zumindest überwiegende Verschulden an der Ehezerrüttung. Dies schon aufgrund seiner ordinären Beschimpfungen, Beleidigungen und Abwertungen der Frau, der Bedrohung mit dem Umbringen und der ihr gegenüber – durch Ausspucken auf den Boden – zum Ausdruck gebrachten „Abscheu“ (vgl RS0056652). Auch die fehlende Unterstützung der Frau bei ihrer Integration und im Zusammenhang mit ihrer depressiven Stimmung wäre ihm als Eheverfehlung anzulasten (RS0056444); ebenso, dass er ihr eine Berufstätigkeit grundsätzlich verbot und ihr außer gelegentlichen Kleinbeträgen kein Wirtschafts- oder Taschengeld überließ (2 Ob 230/10b); auch seine „Flirts“ mit anderen Frauen per SMS wären zu berücksichtigen, da diese nach den insoweit übernommenen Feststellungen zur Zerrüttung der Ehe beitrugen (vgl RS0056408; RS0056387 [T2]). Demgegenüber wäre das vom Berufungsgericht angenommene Fehlverhalten der Frau als bloße Reaktion auf die Übergriffe des Mannes zu werten (RS0057033).

[18] 4. Den Mann träfe nach den von ihm bekämpften Feststellungen auch dann das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe, wenn die mit seiner Berufung angestrebten ergänzenden Feststellungen, aus denen er ein (weiteres) ehewidriges Verhalten der Frau ableiten will, zuträfen.

[19] 5. Wie dargelegt, wandte sich der Mann aber gegen beinahe sämtliche für ihn negativen Feststellungen und begehrte dazu umfangreiche Ersatzfeststellungen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die von ihm ersatzweise angestrebten Feststellungen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung sämtlicher für die Zerrüttung der Ehe maßgeblichen Umstände – allenfalls auch erst unter Berücksichtigung der angestrebten ergänzenden Feststellungen – eine andere Bewertung der Beiträge beider Ehegatten zum Scheitern der Ehe erforderten. Dass das Berufungsgericht die Beweisrüge weitgehend unbehandelt ließ, wird daher zu Recht als relevanter Verfahrensmangel kritisiert.

[20] 6. Entgegen der Beurteilung der zweiten Instanz reichen die tatsächlich unbekämpft gebliebenen Feststellungen für eine abschließende Beurteilung des Zerrüttungsverschuldens nicht aus. Das Berufungsgericht übersah, dass sich der Mann auch gegen die Feststellung zu regelmäßigen Beschimpfungen und Beleidigungen der Frau wandte, er der Feststellung, wonach er ihr sonst keine Aufmerksamkeit gewidmet habe, abweichende Tatsachenbehauptungen entgegenhielt und er auch der Feststellung entgegentrat, dass er der Frau so gut wie kein Wirtschafts- und Taschengeld überlassen habe. Damit verbleiben von den von der zweiten Instanz als unbekämpft angenommenen Feststellungen zum ehewidrigen Verhalten des Mannes im Wesentlichen aber nur jene zu seinen „Flirts“, wobei er sich in seiner Berufung auch dagegen wandte, dass nicht festgestellt werden habe können, dass ihm die Frau den ersten „Flirt“ verziehen habe. Die übrigen unbekämpften Feststellungen betreffen weitgehend nur das Verhalten der Frau, das aber nicht isoliert von den Eheverfehlungen des Mannes beurteilt werden kann.

[21] 7. Zusammengefasst reicht der unbekämpft gebliebene Sachverhalt für eine gesamthafte Abwägung des Zerrüttungsverschuldens der Parteien somit nicht aus. Das angefochtene Urteil ist daher zur Erledigung der Beweisrüge aufzuheben, wobei nochmals betont wird, dass bei Übernahme der erstinstanzlichen Feststellungen keine Bedenken gegen ein zumindest überwiegendes Verschuldens des Mannes bestünden.

[22] 8. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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