OGH 16Ok6/23b

OGH16Ok6/23b16.10.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Kartellobergericht nach öffentlicher mündlicher Verhandlung durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Parzmayr, die Hofrätin Dr. Faber und die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Herzele und KR Dr. Dernoscheg als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, Wien 3, Radetzkystraße 2, gegen die Antragsgegnerinnen 1. J* Gesellschaft m.b.H. u. Co KG, *, 2. J* Gesellschaft m.b.H., *, beide *, beide vertreten durch Mag. Volkert Sackmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Verhängung einer Geldbuße nach § 29 KartG, über die Rekurse der Antragstellerin, des Bundeskartellanwalts, 1011 Wien, Schmerlingplatz 11, und der Antragsgegnerinnen gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom 23. März 2023, GZ 127 Kt 9/22v‑29, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0160OK00006.23B.1016.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

I. Den Rekursen der Antragstellerin und des Bundeskartellanwalts wird Folge gegeben.

Hingegen wird dem Rekurs der Antragsgegnerinnen nicht Folge gegeben.

II. Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass er insgesamt lautet:

„Über die Antragsgegnerinnen wird wegen der Beteiligung an einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen § 1 Abs 1 KartG in Form von kartellrechtswidrigen Preisabsprachen, Marktaufteilungen und Informationsaustausch mit Wettbewerbern, insbesondere durch die Einigung über den Zuschlagsempfänger und die daran anschließende Abgabe von Deckangeboten, und zwar in Bezug auf Ausschreibungen im Bereich Bau- und Möbeltischlereiarbeiten in Niederösterreich und Wien im Zeitraum von Februar 2011 bis einschließlich Oktober 2016 zur ungeteilten Hand eine Geldbuße in Höhe von 65.000 EUR verhängt.“

 

Begründung:

I. Zu den Antragsgegnerinnen:

[1] Die Erstantragsgegnerin betreibt eine Bau- und Möbeltischlerei. Die Zweitantragsgegnerin ist selbst nicht operativ tätig. Sie ist die unbeschränkt haftende Gesellschafterin der Erstantragsgegnerin. Der einzige Kommanditist der Erstantragsgegnerin ist mit 25 % an der Zweitantragsgegnerin beteiligt, er ist auch einer der beiden Geschäftsführer der Zweit- und damit (im Ergebnis) auch der Erstantragsgegnerin.

[2] Das Erstgericht traf Feststellungen zu den Umsatzerlösen sowie dem Gewinn beziehungsweise Verlust der Erstantragsgegnerin für die – jeweils am 1. März beginnenden – Geschäftsjahre 2015/2016 (Umsatzerlöse 1.350.922,41 EUR, 194.738,68 EUR Verlust), 2016/2017 (Umsatzerlöse 1.214.996,57 EUR, 48.770,21 EUR Gewinn) und 2019/2020 (Umsatzerlöse 1.319.729,90 EUR, 87.949,04 EUR Verlust), 2020/2021 (Umsatzerlöse 995.131,67 EUR sowie als sonstige betriebliche Erträge COVID-19-Hilfsmaßnahmen in Form von AMS‑Kurzarbeitszeitvergütung, Fixkostenzuschuss und Ausfallsbonus; 114.864,83 EUR Verlust) und 2021/2022 (Umsatzerlöse 1.348.396,41 EUR sowie als sonstige betriebliche Erträge COVID-19-Hilfsmaßnahmen in Form von AMS‑Kurzarbeitszeitvergütung, Fixkostenzuschuss und Ausfallsbonus; 151.092,20 EUR Verlust) sowie zu den Erlöspositionen der Saldenliste zum 28. 2. 2023 und zu dem sich für das Geschäftsjahr 2022/2023 daraus ergebende Verlust der Erstantragsgegnerin (Umsatzerlöse von insgesamt 1.035.945,87 EUR, 230.844,36 EUR Verlust). Deren Jahresabschluss per 28. 2. 2023 war zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Erstgerichts noch nicht erstellt.

[3] Nach den in der mündlichen Verhandlung am 16. 10. 2024 vorgelegten Jahresabschlüssen zum 28. 2. 2023 und zum 29. 2. 2024 erzielte die Erstantragsgegnerin im Geschäftsjahr 2022/2023 Umsatzerlöse von 990.378,34 EUR und erwirtschaftete einen Verlust von 130.290,68 EUR. Im Geschäftsjahr 2023/2024 erzielte sie demnach Umsatzerlöse von 1.123.724,49 EUR und erwirtschaftete einen Gewinn von 2.596,45 EUR.

 

II. Zu den Wettbewerbsverstößen:

[4] Zu einem nicht näher feststellbaren, vor Februar 2011 liegenden Zeitpunkt kamen der (bis 2013 einzige und auch danach weiter selbständig vertretungsbefugte) Geschäftsführer der Zweitantragsgegnerin (künftig: der Geschäftsführer der Antragsgegnerinnen), und der Geschäftsführer einer im Nachbarort gelegenen Mitbewerberin mündlich überein, dass sich die Gesellschaften wechselseitig durch Abgabe von Deckangeboten bei Ausschreibungen im Bereich Bau- und Möbeltischlereiarbeiten unterstützen sollten. Aufgrund dieser Einigung erteilte der Geschäftsführer der Antragsgegnerinnen der Sekretärin der Antragsgegnerinnen die Anweisung, derartige Deckangebote auf dem Briefpapier der Erstantragsgegnerin zu erstellen, abzustempeln und für die Erstantragsgegnerin zu unterfertigen.

[5] Dabei wurde von der Mitbewerberin üblicherweise ein fertiges Angebot an die Sekretärin der Antragsgegnerinnen übermittelt, das diese auf dem Briefpapier der Erstantragsgegnerin ausdruckte, abstempelte und unterfertigte und für den Geschäftsführer der Mitbewerberin zur Abholung bereit hielt oder per E-Mail an die Mitbewerberin oder direkt an den Auftraggeber übermittelte. In anderen Fällen kam der Geschäftsführer der Mitbewerberin im Büro der Antragsgegnerinnen vorbei und forderte die Sekretärin auf, ein bereits erstelltes Deckangebot für die Erstantragsgegnerin abzustempeln und zu unterschreiben. Aufgrund der generellen Anweisung des Geschäftsführers der Antragsgegnerinnen, derartige Deckangebote zu erstellen, kam die Sekretärin den Ersuchen der Mitbewerberin nach, ohne jeweils beim Geschäftsführer der Antragsgegnerinnen nachzufragen. Umgekehrt forderte der Geschäftsführer der Antragsgegnerinnen die Sekretärin mehrfach auf, von ihm bereits vollständig kalkulierte Deckangebote an die Mitbewerberin zu übermitteln, damit diese ein Deckangebot für die Erstantragsgegnerin lege. Auch derartigen Anweisungen kam die Sekretärin nach.

[6] Dem Geschäftsführer der Antragsgegnerinnen war im Zeitpunkt der Absprache mit dem Geschäftsführer der Mitbewerberin, der Anordnung an die Sekretärin sowie während des gesamten Zeitraums von Februar 2011 bis Oktober 2016 bewusst, dass das Einholen oder Legen von Deckangeboten rechtswidrig ist. Durch die Abgabe eines jeweils höheren Deckangebots beabsichtigten der Geschäftsführer der Antragsgegnerinnen und der Geschäftsführer der Mitbewerberin, dem Unternehmen, das um ein Deckangebot ersuchte, zur Auftragserteilung zu verhelfen. Die Vereinbarung zwischen den beiden Geschäftsführern und die darauf folgende Anweisung an die Sekretärin war von der einheitlichen Absicht geprägt, im Sinn eines Gesamtplans den Wettbewerb bei Ausschreibungen durch das Legen von Deckangeboten auszuschalten.

[7] Das Kartellgericht traf detaillierte Feststellungen zu den in Umsetzung des Tatplans im Rahmen einer Gesamtzuwiderhandlung abgewickelten einzelnen Geschäftsfällen (Seiten 14 bis 24 des angefochtenen Beschlusses). Die zeitlich jüngste Handlung datiert vom Oktober 2016.

 

III. Verfahrensgang:

1. Mitteilung der Beschwerdepunkte

[8] Am 14. 1. 2021 übermittelte die Antragstellerin der anwaltlichen Vertreterin der Antragsgegnerinnen eine Mitteilung der Beschwerdepunkte nach § 13 Abs 1 WettbG samt einem Auskunftsersuchen. Dieses Schreiben enthielt sämtliche dem gegenständlichen Antrag zugrunde liegenden Fakten und nahm auch auf die angenommene Gesamtzuwiderhandlung Bezug.

2. Strafverfahren, Teileinstellung

[9] Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA) führte zu * ein Ermittlungsverfahren gegen die Erstantragsgegnerin – nicht auch gegen die Zweitantragsgegnerin – wegen § 3 Abs 1 Z 2 VbVG, § 168b Abs 1 StGB. Dieses wurde am 30. 5. 2022 hinsichtlich konkret festgestellter Fakten gemäß § 190 Z 1 StPO (teil-)eingestellt. Die Einstellung umfasst insgesamt sechs der 44 vom vorliegenden Geldbußenantrag erfassten Fakten. Es handelte sich dabei um die – der Nummerierung des Antrags folgend – Fakten Nr 24, 25, 26, 27, 29 (wobei dieses Faktum im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren in zwei Einzelfakten unterteilt war, einmal betreffend ein Angebot für Fensterbretter, hinsichtlich dessen eine Einstellung erfolgte, einmal betreffend ein Angebot für Wandverkleidungen, hinsichtlich dessen eine Diversion stattfand) und 38.

[10] Zur Einstellung teilte die WKStA mit, gegen die Erstantragsgegnerin habe der Verdacht bestanden, Verantwortliche oder Mitarbeiter der Erstantragsgegnerin hätten bei Vergabeverfahren eines bestimmten Auftraggebers Angebote gelegt, die auf rechtswidrigen Absprachen beruht und darauf abgezielt hätten, den Auftraggeber zur Annahme eines bestimmten Angebots zu veranlassen. Zu mehreren – im einzelnen bezeichneten – Fakten habe durch das Ermittlungsverfahren nicht belegt werden können, dass zu diesen Fakten für die Erstantragsgegnerin Angebote gelegt worden seien, die auf einer konkreten Absprache beruht hätten; zu einem Faktum liege ein strafloser Beitragsversuch vor; zu einem weiteren Faktum lägen keine fassbaren Hinweise darauf vor, dass es zu einer auf einer Absprache beruhenden Angebotslegung gekommen sei.

3. Strafverfahren, Diversion

[11] Zu anderen Fakten stellte die WKStA beim Landesgericht * einen Antrag auf Verhängung einer Verbandsgeldbuße gegen die Erstantragsgegnerin. Nach Durchführung einer Hauptverhandlungs-Tagsatzung richtete das Landesgericht mit Note vom 27. 2. 2023 ein Diversionsangebot an die Erstantragsgegnerin, das sämtliche Fakten laut dem Strafantrag der WKStA umfasste. Darin wurde ausgeführt, der Sachverhalt sei hinreichend geklärt, das Verfahren auf Verhängung einer Verbandsgeldbuße werde eingestellt, wenn die Erstantragsgegnerin einen Geldbetrag von 2.500 EUR, der einen Pauschalkostenbeitrag von 150 EUR enthalte, zahle. Das Diversionsangebot umfasste 13 der von der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren beanstandeten Fakten. Dabei handelte es sich – wiederum der Nummerierung des Antrags folgend – um die Fakten Nr 5.2.1., Nr 2, 4 bis 7, 10, 19, 29 (betreffend ein Angebot für Wandverkleidungen), 30, 32, 34 und 36.

[12] Nach Leistung dieses Geldbetrags durch die Erstantragsgegnerin stellte das Landesgericht * das Verfahren mit Beschluss vom 7. 3. 2023 gemäß § 19 Abs 1 Z 1, Abs 2 VbVG iVm § 200 Abs 5 StPO im Rahmen der Diversion ein. Dieser Beschluss erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

[13] Die Antragstellerin beantragte die Verhängung einer angemessenen Geldbuße über die Antragsgegnerinnen wegen der Beteiligung an einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen § 1 Abs 1 KartG in Form von kartellrechtswidrigen Preisabsprachen, Marktaufteilungen und Informationsaustausch mit Wettbewerbern, insbesondere durch die Einigung über den Zuschlagsempfänger und die daran anschließende Abgabe von Deckangeboten, und zwar in Bezug auf Ausschreibungen im Bereich Bau- und Möbeltischlereiarbeiten in Niederösterreich und Wien im Zeitraum von Februar 2011 bis einschließlich Oktober 2016.

[14] Sie brachte vor, zwischen den Antragsgegnerinnen und ihren Mitbewerberinnen im Bereich Bau- und Möbeltischlerei habe sich ein Gesamtsystem etabliert, wobei ein Grundverständnis darüber geherrscht habe, sich bei Vergabeverfahren gegenseitig zu unterstützen, indem Deckangebote an Mitbewerberinnen zur Abgabe übermittelt oder solche erhalten und für Mitbewerberinnen abgegeben worden seien. Die Antragsgegnerinnen seien an über 40 Projekten unmittelbar an kartellrechtswidrigen Absprachen beteiligt gewesen, wobei 44 Bauvorhaben konkret genannt wurden (bezeichnet mit den Nummern 5.2.1., 5.2.2., 5.2.3., 5.2.4. sowie den laufenden Nummern 1 bis 40). Die Verfolgung trotz der rechtskräftigen Erledigung des Strafverfahrens wegen § 168b StGB iVm dem VbVG begründe keinen Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem.

[15] Hilfsweise beantragte sie die Verhängung einer Geldbuße wegen der einheitlichen Zuwiderhandlung, sowie die Feststellung der Zuwiderhandlung gemäß § 28 Abs 1 iVm Abs 1a Z 2 KartG wegen der einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung in Bezug auf die von der diversionellen Erledigung erfassten Ausschreibungen (Erster Eventualantrag).

[16] Der zweite Eventualantrag ist darauf gerichtet, dass „jedenfalls“ hinsichtlich jener Fakten, hinsichtlich derer die Ab- oder Zurückweisung des Antrags wegen Verstoßes gegen das Doppelbestrafungsverbot erfolge, die Feststellung der Zuwiderhandlung erfolgen möge.

[17] Als dritten Eventualantrag beantragte die Bundeswettbewerbsbehörde für den Fall der Abweisung oder Zurückweisung des auf Verhängung einer Geldbuße gerichteten Antrags wegen Verstoßes gegen das Doppelbestrafungsverbot die Feststellung der Gesamtzuwiderhandlung „laut Antrag“.

[18] Das rechtliche Interesse an den Eventualanträgen auf Feststellungen liege darin, Schadenersatzklagen aufgrund der Zuwiderhandlungen zu erleichtern, sowie darin, einen Einklang mit bereits rechtskräftig erledigten Verfahren zum Tischlerei-Kartell herzustellen.

[19] Der Bundeskartellanwalt schloss sich den Anträgen und dem Vorbringen der Antragstellerin an.

[20] Die Antragsgegnerinnen brachten im Verfahren erster Instanz vor, ihr Geschäftsführer habe bis auf ein einziges Deckangebot, das er erst nach erfolgter Entscheidung über die Auftragsvergabe abgegeben habe, ohne die Rechtswidrigkeit des Vorgangs zu erkennen, keine Kenntnis von den vorgeworfenen Fakten gehabt. Vielmehr habe die Sekretärin auf Veranlassung der Mitbewerberin selbständig gehandelt. Sollte eine Zuwiderhandlung angenommen werden, sei auf das Doppelbestrafungsverbot Rücksicht zu nehmen.

[21] Im Rekursverfahren ist die Qualifikation der festgestellten Abläufe als in Form einer Gesamtzuwiderhandlung gegen § 1 KartG verstoßend nicht mehr strittig.

 

IV. Entscheidung ds Kartellgerichts:

[22] Das Kartellgericht wies den Antrag auf Verhängung einer Geldbuße zurück, soweit er sich auf die (im Einzelnen bezeichneten) durch Einstellung gemäß § 190 StPO erledigten und die von der diversionellen Erledigung erfassten Bauvorhaben bezog (Spruchpunkt A.).

[23] Es wies weiters die Eventualanträge auf Feststellung der Beteiligung der Antragsgegnerinnen an den unter Punkt A. genannten Verstößen zurück (Spruchpunkt B.).

[24] Im Übrigen, also hinsichtlich jener weiteren 26 Verstöße, die nicht Gegenstand des angesprochenen Strafverfahrens waren, verhängte es über die Antragsgegnerinnen wegen der Beteiligung an einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen § 1 Abs 1 KartG in Form von kartellrechtswidrigen Preisabsprachen, Marktaufteilungen und Informationsaustausch mit Wettbewerbern, insbesondere durch die Einigung über den Zuschlagsempfänger und die daran anschließende Abgabe von Deckangeboten, und zwar in Bezug auf Ausschreibungen im Bereich Bau- und Möbeltischlereiarbeiten in Niederösterreich und Wien im Zeitraum von Februar 2011 bis einschließlich Juni 2016 eine Geldbuße von 55.000 EUR zur ungeteilten Hand.

[25] Es erörterte rechtlich, der vorliegende Fall sei ausschließlich nach nationalem Kartellrecht zu beurteilen. Bei der Auslegung von § 1 Abs 1 und 2 KartG sei allerdings die Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsorgane zu Art 101 AEUV zu berücksichtigen. Bei der Einigung der Erstantragsgegnerin mit der Mitbewerberin, sich gegenseitig durch die Abgabe von Deckangeboten zu unterstützen, handle es sich um eine Willensübereinstimmung über die Regelung des Marktverhaltens, nämlich eine Festsetzung der Angebotspreise und Aufteilung der Märkte (§ 1 Abs 2 Z 1 und 3 KartG) sowie um einen verpönten Informationsaustausch. Es liege eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung vor. Die festgestellten Verhaltensweisen seien als einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung zu qualifizieren. An der Zurechnung des Verhaltens der Erstantragsgegnerin auch zur Zweitantragsgegnerin bestehe kein Zweifel. Das für die Verhängung einer Geldbuße erforderliche Verschulden sei gegeben, weil einen Entscheidungsträger (iSd § 2 Abs 1 VbVG) der Antragsgegnerinnen, nämlich den Geschäftsführer, ein Verschulden treffe. Verjährung sei nicht eingetreten.

[26] Zum Doppelbestrafungsverbot gemäß Art 4 7. ZPEMRK erörterte das Kartellgericht, es handle sich um einen tragenden Grundsatz des nationalen wie des Unionsrechts, der für das Unionsrecht auch in Art 50 GRC niedergelegt und auch in auf die Verhängung von Geldbußen gerichteten wettbewerbsrechtlichen Verfahren zu beachten sei. Im konkreten Fall sei zu prüfen, ob der gegenständliche Antrag gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoße.

[27] Nach Darstellung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR; insbesondere EGMR [Große Kammer] vom 15. 11. 2016, A und B/Norwegen, 24130/11 und 29758/11) und des EuGH (insbesondere der Rechtssachen C-117/20 , bpost, und C‑151/20 , Nordzucker) führte es aus, auch im vorliegenden, ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fall solle ein Gleichklang mit der – auf die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Bezug nehmenden – Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) erreicht werden. Es erörterte weiters die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs und des Obersten Gerichtshofs zum Doppelbestrafungsverbot sowie die in der Literatur vertretenen Auffassungen zur Frage, ob die Verfolgung derselben Handlung gegen denselben Verband nach § 29 KartG und nach § 168b StGB gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoße.

[28] Daraus schloss es als Zwischenergebnis, die parallele Verfolgung und Sanktionierung nach § 29 KartG und nach § 168b StGB iVm dem VbVG sei nicht das Produkt eines integrierten Systems im Sinn der Rechtsprechung des EGMR, das verschiedene Aspekte des Fehlverhaltens auf vorhersehbare und verhältnismäßige Weise anspreche und ein zusammenhängendes Ganzes bilde. Auch eine Rechtfertigung der Doppelverfolgung nach der Rechtsprechung des EuGH sei ausgeschlossen, weil die beiden Verfahren dieselben und nicht komplementäre Ziele verfolgten, die Führung beider Verfahren nicht zur Erreichung dieser Ziele erforderlich sei und keine hinreichende Koordinierung der Verfahren stattfinde. Daraus folge, dass die parallele Führung eines kartellgerichtlichen Geldbußenverfahrens nach § 29 KartG und eines strafgerichtlichen Verfahrens nach § 168b StGB iVm dem VbVG gegen das Doppelbestrafungsverbot des Art 4 7. ZPEMRK verstoße.

[29] Es bestehe allerdings ein Vorrang des kartellgerichtlichen Verfahrens gegenüber dem Strafverfahren nach § 168b StGB, der von der WKStA im Rahmen ihres Verfolgungsermessens zu berücksichtigen sei. Komme es dennoch zu einer rechtskräftigen strafrechtlichen Erledigung des Vorwurfs nach § 168b StGB, so sei jedenfalls in Verfahren, die ausschließlich nach nationalem Kartellrecht zu beurteilen seien, in verfassungskonformer Auslegung das Doppelbestrafungsverbot zu beachten. Das führe gleichzeitig mit der Rechtskraft der verfahrensbeendenden Entscheidung im Strafverfahren zur Unzulässigkeit des Antrags auf Verhängung einer Geldbuße, soweit die Tat Gegenstand des Strafverfahrens gewesen sei. Dies führe zur Zurückweisung des Antrags in jeder Lage des Verfahrens.

[30] Im vorliegenden Fall seien die Teileinstellung des Ermittlungsverfahrens durch die WKStA und die diversionelle Erledigung des Hauptverfahrens durch rechtskräftigen Beschluss des Landesgerichts * rechtskräftige strafrechtliche Entscheidungen, die nach Prüfung in der Sache ergangen seien. Das Doppelbestrafungsverbot stehe daher der nochmaligen Verfolgung und Sanktionierung der Erstantragsgegnerin für die betroffenen Fakten entgegen.

[31] Da die Antragsgegnerinnen eine wirtschaftliche Einheit bildeten, sei das Doppelbestrafungsverbot auch gegenüber der Zweitantragsgegnerin zu berücksichtigen.

[32] Davon seien jedoch die weiteren 26 geltend gemachten Fakten und das Vorliegen einer Gesamtzuwiderhandlung nicht betroffen. In diesem Umfang sei der Antrag weiter zulässig, der Zeitraum der Gesamtzuwiderhandlung sei allerdings mit dem letzten verbliebenen Faktum, das vom Juni 2016 datiere, begrenzt.

[33] Zu den Eventualanträgen führte es aus, auch der Feststellung der Zuwiderhandlung auf Antrag einer Amtspartei komme strafrechtlicher Charakter iSd Art 4 7. ZPEMRK zu. Das auf eine solche Feststellung gerichtete Verfahren diene auch keinen komplementären Zwecken, sondern sei vom Zweck des geführten Strafverfahrens erfasst. Daher seien die ersten zwei Eventualanträge ebenfalls zurückzuweisen.

[34] Hinsichtlich der auf den übrigen, also den nicht von der Einstellung nach § 190 StPO und der diversionellen Erledigung erfassten Fakten beruhenden Gesamtzuwiderhandlung verhängte es eine Geldbuße gemäß § 29 KartG.

[35] Zur Frage, welcher Umsatz als Basis der Bemessung heranzuziehen sei, bestehe aufgrund der konkreten Umsatzzahlen kein wesentlicher Unterschied darin, auf das letzte Jahr der Zuwiderhandlung, also das Geschäftsjahr 2016/2017, oder auf das diesem Jahr vorausgegangene Geschäftsjahr 2015/2016 abzustellen. Ausgehend vom Gesamtumsatz des Geschäftsjahrs 2016/2017 ergebe sich ein Geldbußenrahmen von 121.499,66 EUR. Unter Berücksichtigung der Schwere der Gesamtzuwiderhandlung, der nur geringen regionalen Ausprägung und kumulierten Marktanteile der beteiligten Unternehmen, der allerdings beträchtlichen Dauer der Zuwiderhandlung, des schweren Grades des Verschuldens, der nur in drei Fällen feststellbaren Bereicherung der Antragsgegnerinnen sowie unter Betrachtung ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sei eine Geldbuße von 55.000 EUR angemessen.

 

V. Rekursverfahren:

[36] Dagegen erhoben die Antragstellerin, der Bundeskartellanwalt und die Antragsgegnerinnen Rekurse.

[37] Die Antragstellerin und der Bundeskartellanwalt beantragen jeweils die Aufhebung der zurückweisenden Spruchpunkte des erstgerichtlichen Beschlusses und die Abänderung von Spruchpunkt C. (der Verhängung der Geldbuße) dahin, dass der Zeitraum der Gesamtzuwiderhandlung bis Oktober (und nicht Juni) 2016 reiche und dafür eine angemessene, höhere Geldbuße verhängt werde.

[38] Hilfsweise beantragt die Antragstellerin die Verhängung einer angemessenen, höheren Geldbuße für die Gesamtzuwiderhandlung basierend auf den nicht zurückgewiesenen Fakten sowie zusätzlich die Feststellung der Zuwiderhandlung im Hinblick auf die von der Antragszurückweisung erfassten Fakten.

[39] Beide Amtsparteien stellen hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

[40] Sie rügen, das Kartellgericht habe zu Unrecht einen Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot (hinsichtlich der von der Einstellung nach § 190 StPO und der diversionellen Erledigung erfassten Fakten) angenommen. Die Gesamtzuwiderhandlung habe alle beanstandeten Fakten zu umfassen, was zu einer höheren Geldbuße zu führen habe.

[41] Die Antragsgegnerinnen wenden sich nicht gegen die Beurteilung der festgestellten Vorgänge als Kartellverstöße. Sie beantragen die Verhängung einer angemessenen, niedrigeren Geldbuße.

[42] Die Antragstellerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs der Antragsgegnerinnen nicht Folge zu geben.

 

VI. Rechtliche Beurteilung:

Rechtliche Beurteilung

[43] Die Rekurse der Amtsparteien sind berechtigt. Hingegen ist der Rekurs der Antragsgegnerinnen nicht berechtigt.

[44] Bei der Behandlung der Rekurse wird zunächst auf die in den Rekursen der Antragstellerin und des Bundeskartellanwalts vorgebrachten Argumente zum Doppelverfolgungs- und Bestrafungsverbot eingegangen; in der Folge wird zur konkreten Ausmessung der Höhe der Geldbuße, die in sämtlichen Rekursen angesprochen ist, Stellung genommen.

1. Kartellsanktionen und ne bis in idem

[45] 1.1. Der Oberste Gerichtshof hat jüngst grundlegend zu Kartellsanktionen und dem Doppelbestrafungs- und verfolgungsverbot (ne bis in idem) Stellung genommen (16 Ok 5/23f). In dieser Entscheidung war die Anwendung des Doppelbestrafungs- und Doppelverfolgungsverbots des Art 4 7. ZPEMRK in einem Fall zu beurteilen, in dem nach erfolgter diversioneller Einstellung eines wegen § 168b StGB geführten Strafverfahrens im gegen die selbe Partei geführten Kartellverfahren die Feststellung der Zuwiderhandlung gemäß § 28 KartG begehrt war. Die dort dargestellten Grundsätze sind auch im vorliegenden Verfahren maßgeblich.

[46] Ausgangspunkt der Beurteilung des vorliegenden Falls sind daher die Erwägungen, die in der Entscheidung 16 Ok 5/23f zu Kartellsanktionen (ErwGr 1: Grundsätzliches zu Kartellsanktionen) und zum Grundsatz ne bis in idem (ErwGr 2), konkret nach Art 4 7. ZPEMRK (ErwGr 2.2.), nach § 17 StPO (ErwGr 2.3.), nach Art 50 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC; ErwGr 2.4.) und nach Art 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ; ErwGr 2.5.) angestellt wurden.

[47] 1.2. Im vorliegenden Fall kommt, wie in der Entscheidung 16 Ok 5/23f, ausschließlich Art 4 7. ZPEMRK zur Anwendung.

[48] Hingegen bietet § 17 StPO keine taugliche Grundlage für die Beurteilung eines Verstoßes gegen das Doppelbestrafungs- und -verfolgungsverbot durch Verhängung einer Sanktion nach dem KartG, weil sich § 17 StPO nur auf Strafverfahren nach der StPO bezieht (16 Ok 5/23f [ErwGr 2.3.]).

[49] Der Anwendungsbereich der GRC ist nicht eröffnet, weil im vorliegenden Fall keine vom Unionsrecht geregelte Situation zu beurteilen ist (so auch zu 16 Ok 5/23f [ErwGr 2.4.2.]).

[50] Art 54 SDÜ statuiert ein staatenübergreifendes Doppelverfolgungsverbot für den Schengen-Raum und ist auf einen rein nationalen Sachverhalt, wie er hier zu beurteilen ist, nicht anzuwenden (vgl 16 Ok 5/23f [ErwGr 2.5.]).

[51] Ob das vorliegende Kartellverfahren, in dem die Antragstellerin die Verhängung einer Geldbuße nach § 29 KartG, hilfsweise die Feststellung der Zuwiderhandlung nach § 28 KartG anstrebt, hinsichtlich jener Fakten, die Gegenstand des gegen die Erstantragsgegnerin geführten Strafverfahrens waren, gegen den Grundsatz ne bis in idem verstößt, ist daher anhand von Art 4 7. ZPEMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung zu beurteilen.

2. Beurteilung des konkreten Falls

2.1. Vorliegen der „selben Tat“

[52] 2.1.1. Für die Beurteilung nach Art 4 7. ZPEMRK ist im konkreten Fall zunächst zu prüfen, ob eine Verfolgung wegen „derselben strafbaren Handlung“ im Sinn dieser Bestimmung vorliegt.

[53] Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 16 Ok 5/23f (ErwGr 3.1.) zu Absprachen bei der Ausschreibung öffentlicher Aufträge ausgesprochen, dass Gegenstand sowohl des Strafverfahrens nach § 168b StGB als auch des Kartellverfahrens jeweils dasselbe Verhalten (im Sinn der Entscheidung des EGMR vom 23. 10. 1995, 15523/89, Gradinger/Österreich; in diese Richtung auch EGMR vom 10. 2. 2009, 14939/03, Zolotukhin/Russland) der dortigen Antragsgegnerin war. Er bejahte eine Tatidentität darüber hinaus auch unter der Prämisse, dass nicht allein auf den historischen Lebenssachverhalt, sondern im Sinn der jüngeren Rechtsprechung des EGMR auf das „sachverhaltsmäßig festgestellte Subsumtionsmaterial“ (etwa EGMR 14. 1. 2010, 2376/03, Tsonyo Tsonev/Bulgarien, Rn 52: „facts of the two offences“) – also auch auf die rechtliche Qualifikation – abzustellen sei. Dieses Ergebnis leitete er daraus ab, dass die nach § 1 KartG verbotene Absprache zentrale Voraussetzung des Straftatbestands des § 168b StGB ist (16 Ok 5/23f [ErwGr 3.1.3.]).

[54] 2.1.2. Diese Erwägungen treffen auch auf den vorliegenden Fall hinsichtlich jener Fakten zu, die bereits Gegenstand des – teils durch Einstellungen des Ermittlungsverfahrens nach § 190 StPO, teils durch diversionelle Erledigung (Rücktritt von der Verfolgung nach Zahlung eines Geldbetrags gemäß § 200 StPO) beendeten – Strafverfahrens waren.

2.2. Verfahrensbeendigung durch Einstellung nach § 190 StPO

2.2.1. Grundsätzliches

[55] 2.2.1.1. § 190 StPO verpflichtet die Staatsanwaltschaft, das Ermittlungsverfahren unter den näher bezeichneten rechtlichen (Z 1) oder tatsächlichen (Z 2) Umständen einzustellen (Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [Stand 1. 9. 2022, rdb.at] § 190 Rz 6): Nach § 190 Z 1 StPO ist das Ermittlungsverfahren insoweit einzustellen, als die dem Ermittlungsverfahren zugrunde liegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist oder sonst die weitere Verfolgung des Beschuldigten aus rechtlichen Gründen unzulässig wäre. Nach § 190 Z 2 StPO ist die Einstellung geboten, wenn kein tatsächlicher Grund zur weiteren Verfolgung des Beschuldigten besteht.

[56] Rechtliche Einstellungsgründe liegen vor, wenn auf Basis des geklärten Sachverhalts feststeht, dass die dem Ermittlungsverfahren zugrunde liegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist oder die weitere Verfolgung sonst aus rechtlichen Gründen unzulässig wäre. Das ist der Fall, wenn die Tatbestandsmäßigkeit des geprüften Verhaltens fehlt, eine objektive Strafbarkeitsvoraussetzung fehlt, das geprüfte Verhalten nur verwaltungsrechtlich strafbar ist, nicht in den Geltungsbereich inländischer Gerichtsbarkeit fällt oder zufolge des strafrechtlichen Günstigkeitsprinzips nicht (mehr) strafbar ist. Sonstige rechtliche Einstellungsgründe finden sich insbesondere in Rechtfertigungsgründen, Schuldausschließungsgründen, Strafausschließungsgründen, Strafaufhebungsgründen und prozessualen Verfolgungshindernissen (Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 190 StPO Rz 12 ff; vgl Steiner in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/Wess, Linzer Kommentar zur StPO [2020] § 190 Rz 14 ff).

[57] Kein tatsächlicher Grund zur weiteren Verfolgung besteht, wenn auf Basis der nicht mehr erweiterbaren Beweisergebnisse des Ermittlungsverfahrens eine Verurteilung nicht naheliegend, also ein Schuldspruch nicht wahrscheinlicher als ein Freispruch ist (Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 190 StPO Rz 14; vgl Steiner in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/Wess, Linzer Kommentar zur StPO § 190 Rz 6 ff).

[58] Voraussetzung einer Einstellung nach § 190 StPO ist ein begonnenes Ermittlungsverfahren (Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 190 StPO Rz 11/1; RS0127791 [T3] = 17 Os 13/13k).

[59] 2.2.1.2. Von der Einstellung nach § 190 StPO zu unterscheiden ist die Bestimmung des § 35c StAG, nach der die Staatsanwaltschaft von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen hat, sofern kein Anfangsverdacht besteht (siehe im Einzelnen Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 190 StPO Rz 50 ff). Anders als bei der Einstellung bedarf es für spätere Ermittlungen keines contrarius actus in Form einer staatsanwaltschaftlichen Anordnung (Nordmeyer aaO § 190 StPO Rz 63).

[60] 2.2.1.3. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 190 StPO entfaltet rechtliche Wirkungen, die allerdings von der Intensität des zuvor geführten Ermittlungsverfahrens abhängen (Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 190 StPO Rz 20). So ist unter den Bedingungen des § 193 Abs 2 Z 1 StPO, wenn also der Beschuldigte wegen dieser Tat nicht vernommen und kein Zwang gegen ihn ausgeübt wurde, eine Fortführung durch die Staatsanwaltschaft ohne weitere Voraussetzungen möglich (Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 190 StPO Rz 20, dort auch zur Missverständlichkeit des Begriffs der „formlosen“ Fortführung, weil auch eine solche Fortführung einer staatsanwaltschaftlichen Anordnung bedarf).

[61] Andernfalls kann die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren aus einem Grund des § 193 Abs 2 Z 2 StPO, also dann anordnen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel entstehen oder bekannt werden, die für sich allein oder im Zusammenhalt mit den übrigen Verfahrensergebnissen geeignet erscheinen, die Bestrafung des Beschuldigten oder ein diversionelles Vorgehen zu begründen.

[62] In beiden Fällen (§ 193 Abs 2 Z 1 und Z 2 StPO) ist die Anordnung der Fortführung des Strafverfahrens nur solange zulässig, als die Strafbarkeit der Tat nicht verjährt ist (Steiner in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/Wess, Linzer Kommentar zur StPO § 193 Rz 9).

[63] Die Einstellung nach § 190 StPO entfaltet keine Bindungswirkung im Zivilprozess (4 Ob 124/12g; RS0106015 [T8]).

2.2.2. Rechtsprechung zu ne bis in idem bei einer Einstellung nach § 190 StPO

[64] 2.2.2.1. Der Verwaltungsgerichtshof judiziert, für die Frage, ob eine Einstellung nach § 190 StPO ein Wiederholungsverbot iSd Art 4 7. ZPEMRK auslöse, sei zunächst zu prüfen, ob die Entscheidung (formell und materiell) rechtskräftig im Sinn von unwiderruflich geworden sei, somit keine formlose Fortführungsmöglichkeit mehr bestehe und daher ein Anklageverbrauch stattgefunden habe. In einem zweiten Schritt sei mit Blick auf den Umfang einer Sperrwirkung zu prüfen, auf welcher inhaltlichen Basis und aufgrund welcher Prüfungstiefe die Entscheidung ergangen sei. Eine Bindungswirkung sei nur hinsichtlich jener Fakten anzunehmen, welche auch den Ausgangspunkt des vorangegangenen Strafverfahrens gebildet hätten. Der bloße Hinweis auf eine nicht näher begründete Einstellung könne nicht ohne weiteres eine dem Art 4 7. ZPEMRK entgegenstehende (gemeint wohl: entsprechende) Sperrwirkung entfalten (VwGH Ra 2016/02/0230 [Rz 8]; Ra 2016/03/0083 [ErwGr III.D.]; Ra 2012/02/0238 [ErwGr 5.7.]).

[65] Im Weg einer Zurückweisung billigte der VwGH – ausgehend von der Annahme eines „idem“ – die Annahme einer Sperrwirkung einer Verfahrenseinstellung nach § 190 StPO, nachdem der im Verwaltungsverfahren Mitbeteiligte von der Staatsanwaltschaft als Beschuldigter vernommen worden war (Ra 2023/09/0073 [Rz 21]: Einstellung nach § 190 Z 2 StPO).

[66] 2.2.2.2. Der Oberste Gerichtshof hat ausgesprochen, dass eine gemäß § 190 StPO erfolgte Einstellung eines Ermittlungsverfahrens, dessen „formlose“ Fortführung über Anordnung der Staatsanwaltschaft mit Blick auf § 193 Abs 2 Z 1 StPO nicht mehr möglich ist, Sperrwirkung im Sinn des Prinzips „ne bis in idem (§ 17 Abs 1 StPO; vgl auch Art 4 des 7. ZPMRK)“ entfaltet (13 Os 134/17f; 15 Os 94/13g; RS0129011).

[67] Zu betonen ist, dass es sich bei den genannten Entscheidungen, in denen Art 4 7. ZPEMRK im Klammerausdruck neben § 17 StPO genannt wurde, um Fälle handelte, in denen konkret § 17 StPO anzuwenden war (13 Os 134/17f; 15 Os 94/13g). Die Erwähnung von Art 4 7. ZPEMRK in diesem Zusammenhang bildet daher keine tragfähige Grundlage dafür, der Verfahrenseinstellung nach § 190 StPO, nach der eine „formlose“ Fortführung über Anordnung der Staatsanwaltschaft gemäß § 193 Abs 2 Z 1 StPO nicht mehr möglich ist, im vorliegenden Kartellverfahren, in dem § 17 StPO nicht zur Anwendung kommt, Sperrwirkung im Hinblick auf Anträge nach § 29 KartG oder § 28 KartG zuzuerkennen.

[68] 2.2.2.3. Die Rechtsprechung des EGMR zu Verfahrenseinstellungen durch die Staatsanwaltschaft und den Grundsatz ne bis in idem wurde bereits in der Entscheidung 16 Ok 5/23f wie folgt dargestellt (16 Ok 5/23f ErwGr 2.2.2.5. und 3.2.2.3.):

„2.2.2.5. Art 4 7. ZP-EMRK setzt eine (rechtskräftige) Verurteilung ('conviction') oder einen Freispruch ('acquittal') im ersten Verfahren voraus.

Dass die Einstellung ('discontinuance') eines Strafverfahrens durch den Staatsanwalt weder einer Verurteilung noch einem Freispruch iSd Art 4 7. ZP-EMRK entspreche, legte der EGMR bereits mehrfach dar (etwa 27.5.2014, 4455/10, Margus/Kroatien, Rn 120; 8.7.2019, 54012/10, Mihalache/Rumänien, Rn 96). Zu Mihalache/Rumänien (aaO Rn 95) ging der EGMR allerdings davon aus, dass eine Verurteilung oder ein Freispruch nicht durch ein Gericht erfolgen müsse, sondern es darauf ankomme, ob es sich um die Entscheidung einer Behörde mit judiziellen Aufgaben im Rahmen der Strafrechtspflege gehandelt habe, der nach nationalem Recht die Befugnis zukomme, das einer Person vorgeworfene rechtswidrige Verhalten festzustellen und gegebenenfalls zu bestrafen ('competent under domestic law to establish and, as appropriate, punish the unlawful behaviour of which the person has been accused'; vgl eingehend Pkt. 3.2.2.3.).

Der EGMR stellte in dieser Entscheidung (aaO Rn 97) außerdem klar, dass einer behördlichen Entscheidung nur dann die Qualität einer Verurteilung oder eines Freispruchs iSd Art 4 7. ZP-EMRK zukommen könne, wenn eine inhaltliche Beurteilung des Falls in der Sache ('a determination as to the merits of the case') erfolgt sei. Dies bestätigte er auch in seiner Entscheidung Smokovic/Kroatien (12.11.2019, 57849/12, Rn 37 f) und (wohl) auch in der Rechtssache Horhat/Rumänien (3.3.2020, 53173/10, Rn 34).“

„3.2.2.3. […] Der EGMR hob auch hervor, dass die Nichtfortsetzung eines Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft grundsätzlich keinem Freispruch und keiner Verurteilung entspreche ('[…] the discontinuance of criminal proceedings by a public prosecutor does not amount to either a conviction or an acquittal'), was besonders für eine einfache Einstellungsverfügung ('simple discontinuance order') gelte (aaO Rn 99). Außerdem könne einer behördlichen Entscheidung nur dann die Qualität einer Verurteilung oder eines Freispruchs iSd Art 4 7. ZP-EMRK zukommen, wenn sie eine inhaltliche Beurteilung in der Sache ('on the merits') enthalte.“

[69] 2.2.2.4. Ergänzend zu der bereits in der Entscheidung 16 Ok 5/23f dargestellten Rechtsprechung des EGMR ist auf die Entscheidung der Großen Kammer des EGMR P16-2023-002 vom 19. 2. 2024 („Decision on a request for an advisory opinion under Protocol No 16 concerning the interpretation of Article 4 of Protocol No 7 to the Convention“) hinzuweisen.

[70] Darin nahm der EGMR ein Ersuchen des estnischen Höchstgerichts um Erstattung eines Gutachtens gemäß Art 1 des 16. ZPEMRK betreffend zwei Fragen zur Auslegung des Begriffs „acquittal“ iSd Art 4 7. ZPEMRK nicht an, weil sie auf Grundlage seiner ständigen Rechtsprechung beantwortbar seien.

[71] Die erste vom estnischen Höchstgericht an den EGMR herangetragene Frage lautete: „Can acquittal within the meaning of Article 4 § 1 No 7 of the [Convention] be interpreted as including an order issued by the prosecutor‘s office, by which – after assessment on the merits of the facts concerning a suspicion of a criminal offence and the evidence relating thereto – pre-trial criminal proceedings are terminated because the prosecutor‘s office believes that the accused has not committed the offence or the act committed by the accused does not correspond to the elements of a criminal offence?“

[72] Das estnische Höchstgericht fragte also an, ob der Begriff des „acquittal“ iSd Art 4 7. ZPEMRK dahin auszulegen sei, dass er eine Einstellungsentscheidung einer Staatsanwaltschaft erfasse, durch die nach einer Würdigung in der Sache und unter Berücksichtigung der Beweismittel ein Ermittlungsverfahren („pre-trial-proceedings“) aus dem Grund beendet wurde, dass die Staatsanwaltschaft der Meinung war, dass der Beschuldigte den Verstoß nicht begangen habe oder dass die vom Beschuldigten begangene Handlung keinen Straftatbestand erfülle.

[73] Die an den EGMR herangetragene Frage bildet eine nationale Rechtslage ab, die im Kern den Einstellungsgründen des § 190 StPO entspricht, sodass der Beantwortung durch den EGMR Bedeutung für die Behandlung der Verfahrenseinstellungen nach § 190 StPO zukommt.

[74] In seiner Entscheidung (P16-2023-002 vom 19. 2. 2024) geht der EGMR davon aus, dass der Grundsatz, wonach die Einstellung („discontinuance“) eines Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft keinen Freispruch („acquittal“) iSd Art 4 7. ZPEMRK darstellt, gesichert und Ergebnis seiner ständigen Rechtsprechung sei (Rz 22 ff, insb Rz 27, 29, 30). Zur Entscheidung in der Rechtssache Mihalache wird betont, dass dort eine Sonderkonstellation im Hinblick auf die Strafverfolgung vorgelegen sei („a special prosecutorial situation“, Rz 26). Aus diesem Anlass seien in der Entscheidung Mihalache die grundlegenden Erwägungen zur Auslegung der Begriffe des Frei- oder Schuldspruchs („acquittal oder conviction“) festgehalten worden. Diese seien a), ob die Entscheidung von einer Behörde, die nach dem nationalen Recht an der Rechtspflege teilnehme („participation in the administration of justice“), sowie b), ob diese Behörde – unabhängig davon, ob es sich förmlich um ein Gericht („a judicial authority“) handle, nach nationalem Recht die Befugnis habe, gesetzwidrige Handlungen, derer die betroffene Person beschuldigt wurde, festzustellen und zu beurteilen („competent under domestic law to establish, and, as appropriate, punish the unlawful conduct of which the person concerned had beed accused“). Darüber hinaus müsse eine Prüfung in der Sache stattgefunden haben (Rz 27).

[75] Eine konkrete Anwendung dieser Grundsätze auf die vom estnischen Höchstgericht dargestellte Rechtslage enthält die Entscheidung nicht.

[76] Ihr ist aber deutlich zu entnehmen, dass der EGMR einer Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft nur in Sonderkonstellationen, wie sie in § 190 StPO nicht grundgelegt sind, eine Sperrwirkung nach Art 4 7. ZPEMRK zugesteht.

[77] Der Vollständigkeit halber ist auf die Entscheidung der Großen Kammer des EGMR im Fall Nealon and Hallam v United Kingdom vom 11. 6. 2024 (Application no 32483/19 und 35049/19) zu verweisen. Diese Entscheidung geht von der Differenzierung zwischen „acquittals“ und „discontinuances“ in der bisherigen Rechtsprechung ab. Diese Entscheidung betrifft jedoch ausschließlich die Tragweite der Unschuldsvermutung, sodass daraus für das im vorliegenden Kontext allein maßgebliche Doppelbestrafungsverbot nichts abgeleitet werden kann.

2.2.3. Literatur zu ne bis in idem bei einer Einstellung nach § 190 StPO

[78] 2.2.3.1. Nordmeyer (in Fuchs/Ratz, WK‑StPO § 190 Rz 28) führt unter Hinweis auf die Entscheidung Mihalache des EGMR aus, während die Sperrwirkung einer Einstellung nach Vernehmung des Beschuldigten oder Zwangsausübung gegen diesen (§ 193 Abs 2 Z 1 StPO) innerstaatlich von Rechtsprechung und Lehre anerkannt sei (so auch Kirchbacher, StPO15 [2023] § 190 StPO Rz 1/1), scheine der EGMR den Begriff „rechtskräftig freigesprochen“ deutlich enger auszulegen und verlange eine vorangegangene inhaltliche Prüfung des Vorwurfs und die Befugnis der verfügenden Behörde, über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschuldigten selbst in der Sache zu entscheiden.

[79] Auch Harta (Anforderungen für die Sperrwirkung gem Art 4 7. ZPEMRK, JSt 2020, 473 [473]) misst den in der Rechtssache Mihalache formulierten Voraussetzungen zentrale Bedeutung zu und verneint eine Sperrwirkung iSd Art 4 7. ZPEMRK von Entscheidungen einer österreichischen Staatsanwaltschaft, weil dieser die vom EGMR als entscheidend angesehene allgemeine Sanktionsbefugnis fehle. Konkret für Einstellungsentscheidungen nach § 190 StPO begründet er die Ablehnung einer Sperrwirkung nach Art 4 7. ZPEMRK zusätzlich damit, dass der EGMR eine Sperrwirkung „einfacher Einstellungsverfügungen“ („simple discontinuance orders“) nach seiner Entscheidung Mihalache (Rz 99) ablehnt.

[80] Andere Literaturstimmen behandeln die vom EGMR formulierten Anforderungen an die Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis der Staatsanwaltschaft nicht als zentral, sondern rücken die inhaltliche Prüfung des Tatvorwurfs in den Mittelpunkt:

[81] Nach Giese (in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht [2021] Art 4 7. ZP‑EMRK Rz 10) ist bei Verfahrenseinstellungen gemäß § 190 StPO die vom EGMR in der Rechtssache Mihalache geforderte inhaltliche Prüfung des Tatvorwurfs „grundsätzlich“ gegeben, wenn die Einstellung einer formlosen Weiterführung gemäß § 193 Abs 2 Z 1 StPO nicht mehr zugänglich ist. Auch nach dieser Rechtsansicht kommt eine Sperrwirkung daher nicht in Betracht, wenn im Strafverfahren keine Vernehmung des Beschuldigten oder Zwangsausübung stattgefunden haben. Hingegen werden die Befugnisse der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die in der Rechtssache Mihalache geforderte Sanktionsbefugnis nicht diskutiert.

[82] Auch Lewisch (Quo vadis „ne bis in idem“? Neues zur Sperrwirkung in [Wirtschafts-]Strafverfahren, in Lewisch [Hrsg], Handbuch Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit [2019] 183 ff) geht auf den Aspekt der Strafbefugnis nicht ein, sondern führt lediglich aus, staatsanwaltschaftliche Entscheidungen könnten, wenn sie auf einer Prüfung in der Sache beruhten, die Qualität eines „acquittals“ entfalten. Verfahrenseinstellungen nach § 190 StPO würden bestandskräftig im Sinn des Erfordernisses „final“ gemäß Art 4 7. ZPEMRK, nicht hingegen die bloße Zurücklegung von Anzeigen ohne Einleitung eines Strafverfahrens.

[83] Steiner (in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/Wess, Linzer Kommentar zur StPO, § 190 Rz 38 ff) bezieht zur Sperrwirkung von Verfahrenseinstellungen im Lichte des Art 4 7. ZPEMRK primär unter dem Gesichtspunkt des „idem“ Stellung und diskutiert weitere Voraussetzungen einer Sperrwirkung, wie etwa eine allfällige, der einstellenden Behörde zukommenden Strafkompetenz, nicht.

2.2.4. Zwischenergebnis

[84] 2.2.4.1. Wie bereits in der Entscheidung 16 Ok 5/23f (ErwGr 3.2.4.) zu diversionellen Erledigungen erörtert, spricht der Umstand, dass der Staatsanwaltschaft keine allgemeine Sanktionsbefugnis zukommt, gegen die Annahme, eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 190 StPO könnte eine Sperrwirkungnach Art 4 7. ZPEMRK in der Auslegung durch den EGMR in der Rechtssache Mihalache entfalten.

[85] Dieser Befund wird durch die Entscheidung des EGMR P16-2023-002 erhärtet, die einer staatsanwaltschaftlichen Entscheidung nur unter außergewöhnlichen Umständen („special prosecutorial situation“), wie sie in der Rechtssache Mihalache aufgrund der Befugnis der Staatsanwaltschaft, eine Verwaltungsstrafe zu verhängen, vorlagen, Sperrwirkung zubilligt. Dass die Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft nach § 190 StPO nicht als eine mit der Rechtssache Mihalache vergleichbare Sonderkonstellation im Hinblick auf die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden zu werten ist, kann daraus geschlossen werden, dass der EGMR die vom estnischen Höchstgericht an ihn herangetragene Ausgestaltung der Verfahrenseinstellung, die im Wesentlichen § 190 StPO entspricht, nicht als Sonderkonstellation wertete.

[86] Ausgehend von der dargestellten Rechtsprechung des EGMR ergibt sich als Zwischenergebnis, dass die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 190 StPO schon deshalb keine Sperrwirkung im Sinn des Grundsatzes ne bis in idem gemäß Art 4 7. ZPEMRK auslöst, weil der Staatsanwaltschaft keine allgemeine Sanktionsbefugnis – im Sinn einer Sonderkonstellation bei der Strafverfolgung – zukommt.

[87] Die Verfolgung der von einer Einstellung nach § 190 StPO erfassten Fakten im Weg eines kartellrechtlichen Geldbußenantrags nach § 29 KartG widerspricht daher – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts – wegen der fehlenden Strafbefugnis der Staatsanwaltschaft nicht dem Doppelverfolgungs- und -bestrafungsverbot (ne bis in idem) nach Art 4 7. ZPEMRK.

[88] Der Deutlichkeit halber ist zu betonen, dass damit keine Beurteilung der allfälligen Sperrwirkung einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 190 StPO im Hinblick auf andere, den Grundsatz ne bis in idem enthaltende Normen (§ 17 StPO, Art 50 GRC, Art 54 SDÜ) vorgenommen wird.

[89] Die Fakten, hinsichtlich derer das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen § 168b StGB nach § 190 StPO eingestellt wurde, dürfen den Antragsgegnerinnen nach den dargestellten Grundsätzen als Teil der antragsgegenständlichen Gesamtzuwiderhandlung zur Last gelegt werden. Sie werden daher bei der für die Ausmessung der Geldbuße nach § 29 KartG zu beachtenden Schwere der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen sein.

2.3. Verfahrensbeendigung durch Diversion

2.3.1. Grundsätze

[90] 2.3.1.1. In der Entscheidung 16 Ok 5/23f hat der Oberste Gerichtshof bereits zur Anwendung des Art 4 7. ZPEMRK im Hinblick auf diversionelle Erledigungen Stellung genommen.

[91] Er kam zum Ergebnis, dass entsprechend der Auslegung des Art 4 7. ZPEMRK durch den EGMR in der Rechtssache Mihalache vieles dafür spreche, der diversionellen Erledigung des gegen die dortige Antragsgegnerin geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens keine Sperrwirkung nach Art 4 7. ZPEMRK zuzugestehen (16 Ok 5/23f [ErwGr 3.2.4.]).

[92] Selbst dann, wenn man der diversionellen Erledigung des Strafverfahrens die Wirkung einer rechtskräftigen Verurteilung oder eines solchen Freispruchs iSd Art 4 7. ZPEMRK zuerkennen wollte, liege kein Verstoß gegen diese Bestimmung vor, weil (zusammengefasst) die im Verfahren 16 Ok 5/23f allein begehrte Feststellung nach § 28 KartG im Vergleich zur Diversion eine komplementäre Reaktion sei, im konkret zu beurteilenden Fall die „kumulierten rechtlichen Antworten“ des § 168b StGB und des § 28 KartG keine übermäßige Last für die dortige Antragsgegnerin darstellten und sämtliche rechtlichen Konsequenzen für die dortige Antragsgegnerin vorhersehbar gewesen seien, dem Erfordernis einer „ausreichend engen zeitlichen Verbindung“ entsprochen worden sei und der Vermeidung von „Doppelgleisigkeiten“ bei der Sammlung und Würdigung von Beweisen zwischen Strafverfahren und Kartellverfahren allgemein durch die Bestimmungen des Art 22 B-VG, des § 76 Abs 1 StPO, des § 10 Abs 1a WettbG und des § 209b StPO ausreichend Rechnung getragen werde und auch im konkreten Fall eine angemessene Interaktion zwischen den Behörden stattgefunden habe (16 Ok 5/23f [ErwGr 3.3.2.]).

2.3.2. Zwischenergebnis

[93] Auch hinsichtlich der von der WKStA diversionell erledigten Fakten erweist sich als ausschlaggebend, dass das Fehlen einer allgemeinen Sanktionsbefugnis der Staatsanwaltschaft dazu führt, der diversionellen Erledigung durch die Staatsanwaltschaft keine Sperrwirkung iSd Art 4 7. ZPEMRK zuzumessen (vgl 16 Ok 5/23f [ErwGr 3.2.4.]; EGMR P16-2023-002).

[94] Dass im vorliegenden Fall eine Diversion durch Leistung eines Geldbetrags (§ 200 StPO) und nicht, wie in dem zu 16 Ok 5/23f entschiedenen Fall, eine Diversion durch Erbringung gemeinnütziger Leistungen (§ 201 StPO) zu beurteilen ist, führt insofern zu keiner abweichenden Beurteilung.

[95] Lediglich ergänzend wird im Folgenden aufgezeigt, dass auch unter Anwendung der in der Entscheidung des EGMR A und B/Norwegen definierten Kriterien kein Verstoß gegen Art 4 7. ZPEMRK vorliegt:

2.4. Komplementäre Sanktion

2.4.1. Grundsätzliches

[96] In der Entscheidung 16 Ok 5/23f nahm der Oberste Gerichtshof ergänzend dazu Stellung, dass selbst dann, wenn man der diversionellen Erledigung im Strafverfahren die Wirkung einer rechtskräftigen Verurteilung oder eines solchen Freispruchs iSd Art 4 7. ZPEMRK zuerkennen wollte, durch die dort beantragte kartellrechtliche Feststellung nach § 28 KartG kein Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem gemäß Art 4 7. ZPEMRK verwirklicht werde.

[97] Dazu wurden auf die vom EGMR seit der Entscheidung A und B/Norwegen judizierten Kriterien eingegangen, nach denen das Doppelbestrafungsverbot nicht verletzt wird, wenn zwischen zwei Verfahren „eine ausreichend enge Verbindung in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht“ besteht. Demnach können für ein sozialschädliches Verhalten „komplementäre rechtliche Reaktionen“ in verschiedenen Verfahren vorgesehen werden, um unterschiedliche Aspekte des betreffenden sozialen Problems anzusprechen. Die kumulierten rechtlichen Antworten dürfen allerdings keine exzessive Last für das betroffene Individuum darstellen, beide Verfahren müssen als Folge des strafbaren Verhaltens vorhersehbar sein und Doppelgleisigkeiten bei der Sammlung und Würdigung von Beweisen müssen (insbesondere durch Interaktion zwischen den Behörden) vermieden werden. Nach Nordmeyer (in Fuchs/Ratz, WK‑StPO [2022] § 190 Rz 28/2) handelt es sich dabei um ein bewegliches System (zu allem: 16 Ok 5/23f [ErwGr 3.3.1.]).

2.4.2. Zum Vorliegen dieser Voraussetzungen

[98] 2.4.2.1. Der Oberste Gerichtshof hat anhand der Schutzzwecke des § 168b StGB und des § 1 KartG bereits herausgearbeitet, dass die genannten Bestimmungen und die an § 1 KartG anknüpfenden kartellrechtlichen Sanktionen unterschiedliche Aspekte desselben „sozialen Problems“ („different aspects of the social misconduct“ adressieren, nämlich § 168b StGB die durch eine Submissionsabsprache zumindest potenziell gefährdeten Vermögensinteressen des Auftraggebers im Vergabeverfahren und das KartG die durch eine solche Absprache gefährdete Wettbewerbsordnung. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass § 168b StGB Vorsatz erfordert, während für eine Sanktion nach §§ 28 f KartG Fahrlässigkeit genügt, wodurch ebenfalls ein unterschiedliches sozialwidriges Verhalten sanktioniert wird. Für das Vorliegen einer komplementären Reaktion spricht darüber hinaus der Umstand, dass der Diversion in einem nachfolgenden Zivilprozess keine Bindungswirkung zukommt (16 Ok 5/23f [ErwGr 3.3.2.1.]).

[99] Diese im Verfahren 16 Ok 5/23f im Hinblick auf die dort beantragte Feststellung nach § 28 KartG herausgearbeiteten Aspekte sind nicht von der jeweils beantragten kartellrechtlichen Sanktion abhängig. Die dargestellten Erwägungen gelten daher gleichermaßen im Verhältnis zur im vorliegenden Verfahren beantragten Geldbuße nach § 29 KartG.

[100] 2.4.2.2. Zu 16 Ok 5/23f wurde ausgesprochen, dass die „kumulierten rechtlichen Antworten“ des § 168b StGB und der dort beantragten Feststellung nach § 28 KartG jedenfalls im konkreten Fall keine übermäßige Last („excessive burden“) für die dortige Antragsgegnerin darstellten, weil im Strafverfahren aufgrund der Diversion keine förmliche Sanktionierung ihres Verhaltens erfolgt und im Kartellverfahren nur mehr die Feststellung der Zuwiderhandlung begehrt war.

[101] Der vorliegende Fall ist insofern anders gelagert, als die Erstantragsgegnerin im Rahmen der diversionellen Erledigung nach § 200 StPO einen Geldbetrag zahlte (2.500 EUR zuzüglich eines Pauschalkostenbeitrags von 150 EUR) und im Kartellverfahren nicht bloß die Feststellung der Zuwiderhandlung nach § 28 KartG, sondern die Verhängung einer Geldbuße nach § 29 KartG beantragt ist.

[102] Eine übermäßige Belastung kann allerdings auch in einer Konstellation wie der vorliegenden vermieden werden, indem bei der Ausmessung der Geldbuße nach § 29 KartG auf die bereits erfolgte Zahlung eines Geldbetrags gemäß § 200 StPO Bedacht genommen wird.

[103] 2.4.2.3. Sämtliche rechtlichen Konsequenzen der von den Antragsgegnerinnen getroffenen Submissionsabsprachen (also sowohl eine Verfolgung nach § 168b StGB als auch Sanktionen nach dem KartG) waren für diese zweifellos auch im Sinn der Rechtsprechung des EGMR vorhersehbar.

[104] 2.4.2.4. Dem Erfordernis einer „ausreichend engen zeitlichen Verbindung“ beider Verfahren wurde hier ebenfalls entsprochen, wurden diese doch sogar teilweise parallel geführt. So erfolgte die Übermittlung der Beschwerdepunkte an die Antragsgegnerinnen am 14. 1. 2021; am 30. 5. 2022 nahm die WKStA eine Teileinstellung hinsichtlich (im einzelnen festgestellter, auch den Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildender) Fakten vor; am 7. 3. 2023 trat die Staatsanwaltschaft hinsichtlich der noch nicht mit Beschluss vom 30. 5. 2022 eingestellten Fakten von der Verfolgung der Erstantragsgegnerin zurück. Das gerichtliche Kartellverfahren wurde mit Antrag vom 27. 7. 2022, also nicht einmal zwei Monate später, eingeleitet. Eine ausreichend enge zeitliche Verbindung liegt daher vor.

[105] 2.4.2.5. Für die Vermeidung von „Doppelgleisigkeiten“ bei der Sammlung und Würdigung von Beweisen, insbesondere durch eine „angemessene Interaktion zwischen den Behörden“ im Verhältnis zwischen Strafverfahren und Kartellverfahren, bestehen taugliche gesetzliche Grundlagen (vgl 16 Ok 5/23f [ErwGr 3.3.2.5.]).

[106] Eine angemessene Interaktion fand im vorliegenden Fall auch konkret statt:

[107] So wies die Antragstellerin bereits in ihrem verfahrenseinleitenden Antrag auf die parallel von der WKStA geführten strafrechtlichen Ermittlungen und die auf der Grundlage von Art 22 B-VG iVm § 10 Abs 1a WettbG erfolgte Kooperation mit der WKStA hin. Das Erstgericht erörterte im Hinblick darauf in der ersten mündlichen Verhandlung am 26. 1. 2023 (ON 11) den Stand des Strafverfahrens, schaffte aus dem strafgerichtlichen Akt die auch für das vorliegende Kartellverfahren relevanten Protokolle vom 5. und 6. 12. 2022 bei (ON 14) und verlas die darin enthaltenen, für das Kartellverfahren relevanten Aussagen des Geschäftsführers der Antragsgegnerinnen sowie eines Zeugen in der mündlichen Verhandlung am 2. 3. 2023. Es informierte die WKStA, mit gleichzeitigem Ersuchen um Mitteilung des Standes des Strafverfahrens, über das anhängige Kartellverfahren. Die WKStA informierte das Erstgericht über die am 30. 5. 2022 erfolgte Teileinstellung. Das Kartellgericht war bei Fällung seiner Entscheidung auch in Kenntnis der diversionellen Erledigung der weiteren, den Gegenstand des Strafverfahrens bildenden Fakten.

[108] Eine „angemessene Interaktion zwischen den Behörden“ ist dadurch verwirklicht.

2.5. Ergebnis

[109] Die im Strafverfahren vom Einstellungsbeschluss nach § 200 Abs 5 StPO (Diversion durch Zahlung eines Geldbetrags) erfassten Fakten sind – ohne Verstoß gegen das Verbot des ne bis in idem gemäß Art 4 7. ZPEMRK – in die im Rekursverfahren nicht mehr strittige Gesamtzuwiderhandlung zur Bemessung der beantragten Geldbuße einzubeziehen.

[110] Dies gilt auch für jene Verstöße, hinsichtlich derer das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen § 168b StGB iVm dem VbVG nach § 190 StPO eingestellt wurde.

[111] Die Dauer der Gesamtzuwiderhandlung erstreckt sich bis Oktober 2016.

[112] Bei der Überprüfung der Höhe der vom Erstgericht verhängten Geldbuße im Rekursverfahren ist daher zu berücksichtigen, dass im Rahmen der festgestellten Gesamtzuwiderhandlung nicht – wie vom Erstgericht angenommen – 26, sondern jedenfalls 43 Zuwiderhandlungen festgestellt wurden. Hinsichtlich eines einzigen Faktums (Nr 33 laut Antrag) traf das Kartellgericht offenbar versehentlich keine Feststellungen. Dies fällt allerdings – wie unten ausgeführt – für die Bemessung der Geldbuße nicht ins Gewicht.

3. Zur Bemessung der Geldbuße

3.1. Grundsätze

[113] 3.1.1. Gegen einen Unternehmer, der vorsätzlich oder fahrlässig dem Kartellverbot (§ 1 KartG 2005) zuwiderhandelt oder gegen Art 101 AEUV verstößt, hat das Kartellgericht eine Geldbuße bis zu einem Höchstbetrag von 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes zu verhängen (§ 29 Z 1 lit a und d KartG 2005).

[114] Die in § 29 KartG vorgesehene Obergrenze ist nicht bloß „Kappungsgrenze“ im Sinn der unionsrechtlichen Obergrenze in Art 23 VO 1/2003 (vgl zur Ermittlung der Geldstrafe unter Anwendung des Höchstbetrags als Kappungsgrenze Koprivnikar/Mertel in Egger/Harsdorf‑Borsch, Kartellrecht [2022] § 29 KartG Rz 48), sondern bildet den Strafrahmen, innerhalb dessen sich das Kartellgericht bei der Bemessung der Geldbuße zu orientieren hat (RS0130389 [T1]; 16 Ok 2/15b [ErwGr 6.5.3.]; 16 Ok 7/15p [ErwGr 5.3.3.]).

[115] 3.1.2. Der Oberste Gerichtshof hat jüngst ausführlich zur Frage Stellung genommen, welches Geschäftsjahr unter dem in § 29 KartG genannten „vorausgegangenen Geschäftsjahr“ – das letzte Jahr der Zuwiderhandlung oder das der erstinstanzlichen Entscheidung vorangehende Geschäftsjahr – zu verstehen ist (16 Ok 7/23z [Rz 32 ff]). Er hat in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung Bezug genommen, die auf den Gesamtumsatz im letzten Jahr des Zuwiderhandelns abstellte (16 Ok 7/23z [Rz 32] unter Hinweis auf 16 Ok 5/08 [ErwGr II, in diesem Verfahren war noch § 142 Z 1 KartG 1988 anzuwenden]; 16 Ok 4/09 [ErwGr II.2.]; 16 Ok 2/15b [ErwGr 6.5.3.]; 16 Ok 2/22p [Rz 84]; vgl 16 Ok 7/23z [Rz 34] zu einer gewissen Widersprüchlichkeit in der Vorgangsweise). In diesem Zusammenhang wurde weiters ausgesprochen, dass eine Auslegung, nach der auf den Umsatz in dem der erstinstanzlichen Entscheidung vorangegangenen Geschäftsjahr abzustellen ist, eher dem Wortlaut des § 29 Abs 1 Z 1 KartG entspricht (16 Ok 7/23z [Rz 34]). Allerdings bedurfte es in jenem Fall keiner abschließenden Entscheidung dieser Frage, weil die Sondersituation vorlag, dass die Antragsgegnerin ihre Geschäftstätigkeit zur Gänze eingestellt hatte (vgl dazu 16 Ok 7/23z [Rz 35 ff]). Auch in der Entscheidung 16 Ok 2/22p bestanden im dortigen Verfahren mangels Tatsachensubstrats keine Anhaltspunkte für ins Gewicht fallende Umsatzschwankungen (in diesem Sinn auch 16 Ok 7/23z [Rz 32]), sodass eine nähere Auseinandersetzung mit dem für die Ermittlung des Strafrahmens heranzuziehenden Jahresumsatzes unterblieb.

[116] 3.1.3. Nach der Literatur ist unter dem in § 29 KartG genannten „vorausgegangenen Geschäftsjahr“ das letzte abgeschlossene Geschäftsjahr vor dem Erlass der Entscheidung zu verstehen (Traugott in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² [2016] § 29 Rz 13; Koprivnikar/Mertel in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht § 29 KartG Rz 45; EuGH C-238/99 p und andere, Limburgse Vinyl Maatschappij, Rz 593; C-291/98P , Sarrió/Kommission, Rz 85, 89).

[117] Dass die Rechtsprechung des EuGH für die Auslegung des Begriffs des „vorausgegangenen Geschäftsjahrs“ iSd § 29 KartG beachtlich ist, folgt aus der Vorbildfunktion der europäischen Rechtslage für das Kartellgesetz (Koprivnikar/Mertel in Egger/Harsdorf-Borsch, Kartellrecht, § 29 KartG Rz 44; 16 Ok 7/23z [Rz 39]) sowie – ausgehend von einer einheitlichen und nicht für Verstöße gegen das österreichische Kartellgesetz (§ 29 Abs 1 Z 1 lit a bis c KartG) und Verstöße gegen Art 101 und 102 AEUV (§ 29 Abs 1 Z 1 lit d KartG) differenzierenden Auslegung – dem Umstand, dass die 10 %-Höchstgrenze für Zuwiderhandlungen gegen Art 101 und 102 AEUV unionsrechtlich determiniert ist (Koprivnikar/Mertel in Egger/Harsdorf‑Borsch, Kartellrecht, § 29 KartG Rz 44). Zwar ist das Geldbußensystem des Unionsrechts mit jenem des nationalen Rechts nicht deckungsgleich, es ist aber unbedenklich, wenn sich das Kartellgericht an der europäischen Entscheidungspraxis zum Geldbußenrecht orientiert, sofern das eigenständige inländische Sanktionensystem nicht missachtet und eigene Überlegungen vernachlässigt werden und die entsprechenden Normen und die ihnen zugrunde liegenden Wertungen vergleichbar sind (RS0122747 [insb T2]; 16 Ok 7/23z [Rz 39]).

[118] Soweit für die konkrete Bemessung der Geldbuße auch der tatbezogene Umsatz berücksichtigt wird (vgl EuGH C-291/98P , Sarrió/Kommission, Rz 86), wird im Regelfall auf den Umsatz im letzten vollständigen Geschäftsjahr abgestellt, in dem das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war (Traugott in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² § 29 Rz 13 § 29 Rz 13).

[119] Dass eine Betrachtung nur des tatbezogenen Umsatzes allerdings nicht ausreicht, weil damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des betroffenen Unternehmens nicht ausreichend berücksichtigt werden kann, ist in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geklärt (16 Ok 7/15p [ErwGr 5.3.3.]; 16 Ok 2/15b [ErwGr 6.5.3.]; 16 Ok 5/08 [ErwGr II.]). Festzuhalten ist, dass die Notwendigkeit der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens einer Auslegung, wonach für die Ermittlung der Geldbußenobergrenze der Gesamtumsatz des der Geldbußenentscheidung vorangegangenen Geschäftsjahrs maßgeblich ist, nicht entgegensteht, sondern vielmehr die Berücksichtigung der im Zeitpunkt der Verhängung der Geldbuße bestehenden Leistungsfähigkeit ermöglicht.

[120] 3.1.4. Es bestehen daher insgesamt gewichtige Gründe, unter dem für die Ermittlung des Geldbußenrahmens relevanten „vorausgegangenen Geschäftsjahr“ gemäß § 29 Abs 1 KartG das dem Erlass der Entscheidung vorangegangene Geschäftsjahr zu verstehen.

[121] 3.1.5. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Festsetzung einer kartellrechtlichen Geldbuße eine Ermessensentscheidung, bei der neben den – nicht taxativ aufgezählten – gesetzlichen Bemessungsfaktoren die Umstände des Einzelfalls und der Kontext der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen sind (16 Ok 2/22p; 16 Ok 2/15b). Es handelt sich dabei um eine rechtliche und wirtschaftliche Gesamtwürdigung aller Umstände und nicht um das Ergebnis einer schlichten Rechenoperation auf Grundlage etwa des Gesamtumsatzes (RS0130389; 16 Ok 2/22p; 16 Ok 2/15b und andere).

[122] Für die Bemessung der Geldbuße sind unter anderem der räumliche Umfang des vom Wettbewerbsverstoß betroffenen Marktes, die kumulierten Marktanteile der beteiligten Unternehmen, die Art des Verstoßes und der Grad des Verschuldens wichtige Bemessungsfaktoren (RS0122743 [T1] = 16 Ok 5/10 [ErwGr II.3.2.]). Darüber hinaus ist auch auf die durch die Rechtsverletzung erzielte Bereicherung und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des dem Kartellverbot Zuwiderhandelnden Bedacht zu nehmen; ebenso auf seine Mitwirkung an der Aufklärung der Rechtsverletzung (16 Ok 7/15p). Auch Erschwerungs- und Milderungsgründe sind zu berücksichtigen (16 Ok 2/15b; zu allem: 16 Ok 2/22p).

[123] Da der Geldbuße nach dem Willen des Gesetzgebers Präventionsfunktion zukommt, muss eine angemessen hohe Geldbuße verhängt werden, weil eine Kartellstrafe nur dann abschreckend wirken kann, wenn die Höhe und Wahrscheinlichkeit der Strafe den zu erwartenden Kartellgewinn übersteigt (RS0130389; 16 Ok 2/22p; 16 Ok 2/15b).

3.2. Ausmessung der Geldbuße im konkreten Fall

[124] 3.2.1. Im vorliegenden Fall, in dem der Oberste Gerichtshof zur Überprüfung der Höhe der vom Erstgericht verhängten Geldbuße angerufen ist, ist nach den vorstehenden Erwägungen für den Strafrahmen auf die Umsätze in dem der Entscheidung des Erstgerichts vorangegangenen Geschäftsjahr auszugehen (vgl EuGH C-291/98P , Sarrió/Kommission, Rz 1 iVm Rz 25 [dort wiedergegebene Rz 402 des angefochtenen Urteils des EuGH]). Das ist im vorliegenden Fall das Geschäftsjahr von 1. 3. 2022 bis 28. 2. 2023.

[125] 3.2.2. Im Geschäftsjahr 2022/2023 erwirtschaftete die Erstantragsgegnerin Umsatzerlöse von 990.378,34 EUR. Der Geldbußenrahmen beträgt daher bis zu 99.037,83 EUR. Demgegenüber ging das Kartellgericht in seiner Entscheidung von einem Geldbußenrahmen bis zu 121.499,66 EUR aus.

[126] 3.2.3. Bei der Bemessung der Geldbuße ist davon auszugehen, dass jene Fakten, die Gegenstand der Verfahrenseinstellung nach § 190 StPO durch die WKStA sowie der diversionellen Erledigung im Strafverfahren waren, in die Ausmittlung der Geldbuße als Teil der zu ahndenden Gesamtzuwiderhandlung Eingang zu finden haben.

[127] Die Zahl der Zuwiderhandlungen umfasst daher jedenfalls 43 Fakten. Dass zum Faktum Nr 33 (Nummerierung laut Antrag) mit einer von der Antragstellerin behaupteten Angebotssumme von 6.251,30 EUR netto keine gesonderten Feststellungen getroffen wurden, fällt angesichts der Gesamtzuwiderhandlung nicht ins Gewicht.

[128] Die Dauer der Gesamtzuwiderhandlung umfasst den Zeitraum von Februar 2011 bis Oktober 2016, sohin fünf Jahre und neun Monate.

[129] Dass die regionale Ausbreitung auf Niederösterreich und Wien beschränkt war und die kumulierten Marktanteile der beteiligten Unternehmen gering waren, hat das Kartellgericht bereits zutreffend berücksichtigt.

[130] Ebenfalls ging das Kartellgericht zutreffend von einem den Antragsgegnerinnen zuzurechnenden schweren Verschulden aus, weil vorsätzliche Handlungen des Geschäftsführers vorlagen.

[131] An dem vom Kartellgericht berücksichtigten Umstand, dass die Initiative zur Abgabe von Deckangeboten nur in drei Fällen von den Antragsgegnerinnen ausgegangen war, hat sich durch die Berücksichtigung auch der durch Einstellung gemäß § 190 StPO und der durch Diversion im Strafverfahren erledigten Fakten nichts geändert.

[132] 3.2.4. Die vom Kartellgericht für die Bemessung der Geldbuße angestellten Erwägungen sind nicht zu beanstanden.

[133] Allerdings gebietet der Umstand, dass die mit Geldbuße zu belegende Gesamtzuwiderhandlung (jedenfalls) 43 anstatt, wie vom Kartellgericht angenommen, 26 Verstöße umfasste, auch unter Berücksichtigung der sich aus der Saldenliste des Geschäftsjahrs 2022/2023 ergebenden, im Vergleich zum Vorjahr niedrigeren Umsatzerlöse und daher niedrigeren Strafrahmens die Verhängung einer höheren als der vom Erstgericht ausgemessenen Geldbuße.

[134] In Anbetracht der Leistungsfähigkeit der Erstantragsgegnerin ist eine Geldbuße von 65.000 EUR angemessen.

[135] Bei der Bemessung der Geldbuße in dieser Höhe wird den Antragsgegnerinnen auch unter Berücksichtigung des für die diversionelle Erledigung bereits gezahlten Betrags von 2.500 EUR insgesamt keine übermäßige Last („excessive burden“) im Sinn der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache A und B/Norwegen auferlegt.

[136] 3.2.5. Soweit die Antragsgegnerinnen in ihrem Rekurs argumentieren, dass die von ihnen zu verantwortenden Verstöße von geringerem Gewicht seien als jene, die der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 16 Ok 2/15b zugrunde lagen, weshalb eine niedrigere Geldbuße zu verhängen sei als die zu 16 Ok 2/15b auferlegte Höhe von 3,5 % der gesetzlichen Obergrenze, ist dieses Argument nicht stichhaltig. Der Oberste Gerichtshof hat bereits nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Entscheidung 16 Ok 2/15b, in der die Geldbuße in Höhe von 3,5 % der gesetzlichen Obergrenze verhängt wurde, keineswegs einer Verallgemeinerung zugänglich ist. Vielmehr sollte durch diese Entscheidung, mit der die vom Erstgericht verhängte Geldbuße auf den Betrag von 30 Millionen EUR verzehnfacht wurde, klargestellt werden, dass auch in Österreich zur wirksamen Bekämpfung von Kartellverstößen Geldbußen in einer Größenordnung zu verhängen sind, wie sie auf Unionsebene und in zahlreichen Mitgliedstaaten bereits seit langem üblich ist (16 Ok 2/22p [Rz 86]).

[137] 4. In Hinblick auf die – dem Erstgericht obliegende (§ 37 Abs 1 Satz 1 KartG) – Veröffentlichung der Entscheidung ist der Vollständigkeit halber auf Folgendes hinzuweisen: Nach § 37 Abs 1 Satz 2 KartG ist im Fall einer Abänderung der Entscheidung des Kartellgerichts durch das Kartellobergericht die Entscheidung des Kartellobergerichts zu veröffentlichen. Wenngleich in vielen Fällen mit einer Veröffentlichung der Entscheidung des Kartellobergerichts das Auslangen gefunden werden mag (in diesem Sinn Mair in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² § 37 Rz 14), gilt dies doch nicht ausnahmslos. Hier ist etwa an Fälle einer bloß teilweisen Abänderung oder einer Abänderung bloß des Sanktionsausspruchs zu denken. Das Kartellobergericht kann sich in der Begründung seiner Entscheidung nämlich bei der Wiedergabe der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen auf das beschränken, was zum Verständnis seiner Rechtsausführungen erforderlich ist (§ 49 Abs 2 AußStrG iVm § 38 KartG). In derartigen Fällen kann dem Zweck der Veröffentlichungspflicht (dazu 16 Ok 14/13) daher nur durch die Veröffentlichung der erstinstanzlichen und der Rekursentscheidung entsprochen werden.

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