European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:009OBA00056.24M.0919.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Arbeitsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin geändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:
„1. Es wird zwischen den Parteien festgestellt, dass
1.1. für Mehr- oder Überstunden, die bei Arbeiten in Wechselschichten in Form von Zusatzschichten oder Einspringschichten in einer zweiten Schicht geleistet werden, Schichtzulagen für die zweite Schicht (gemäß Abschnitt XIV Punkt 6 des Kollektivvertrags für die eisen- und metallerzeugende und ‑verarbeitende Industrie) zu zahlen sind, und für Überstunden, die bei Arbeiten in Wechselschichten in Form von Zusatzschichten oder Einspringschichten in einer dritten Schicht geleistet werden, Schichtzulagen für die dritte Schicht (gemäß Abschnitt XIV Punkt 6 des Kollektivvertrags für die eisen- und metallerzeugende und ‑verarbeitende Industrie) zu zahlen sind, und
1.2. für Schichtzulagen bei Wechselschichten während Mehrarbeit die gesetzliche dreijährige Verjährungsfrist, wie in Abschnitt XX Punkt 1 des Kollektivvertrags für die eisen- und metallerzeugende und ‑verarbeitende Industrie geregelt, Anwendung findet.
2. Das Mehrbegehren, es werde zwischen den Parteien festgestellt, dass
2.1. für Mehrstunden, die bei Arbeiten in Wechselschichten in Form von Zusatzschichten oder Einspringschichten in einer dritten Schicht geleistet werden, Schichtzulagen für die dritte Schicht (gemäß Abschnitt XIV Punkt 6 des Kollektivvertrags für die eisen- und metallerzeugende und ‑verarbeitende Industrie) zu zahlen seien,
2.2. für Mehr- oder Überstunden, die bei Arbeiten in Wechselschichten vor oder nach einer zweiten Schicht geleistet werden, Schichtzulagen für die zweite Schicht zu zahlen seien, und für Mehr- oder Überstunden, die bei Arbeiten in Wechselschichten vor oder nach einer dritten Schicht geleistet werden, Schichtzulagen für die dritte Schicht zu zahlen seien,
2.3. für Schichtzulagen bei Wechselschichten während Überstundenarbeit die gesetzliche dreijährige Verjährungsfrist, wie in Abschnitt XX Punkt 1 des Kollektivvertrags für die eisen- und metallerzeugende und ‑verarbeitende Industrie geregelt, Anwendung finde,
2.4. Schichtzulagen bei Wechselschichten während Mehrarbeit oder Überstundenarbeit nicht unter den Begriff der Überstundenvergütung gemäß Abschnitt XX Punkt 2 des Kollektivvertrags für die eisen- und metallerzeugende und ‑verarbeitende Industrie subsumiert werden, und
2.5. für die Differenzansprüche bei Einbeziehung der Schichtzulagen in die kollektivvertraglichen Sonderzahlungen sowie in die kollektivvertraglichen und gesetzlichen Entgeltschnitte ebenfalls die gesetzliche Verjährungsfrist, wie in Abschnitt XX Punkt 1 des Kollektivvertrags für die eisen- und metallerzeugende und ‑verarbeitende Industrie geregelt, Anwendung finde,
sowie das Eventualbegehren, es werde zwischen den Parteien festgestellt,
2.6. dass die von der klagenden Partei vertretenen Arbeitnehmer rückwirkend drei Jahre ab Klageeinbringung Anspruch auf Nachzahlung der Schichtzulagen laut Kollektivvertrag bei Wechselschichten während Mehrarbeit oder Überstundenarbeit haben,
werden abgewiesen.“
Über die Verpflichtung zum Kostenersatz für das gesamte Verfahren entscheidet das Gericht erster Instanz.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Beklagte betreibt ein Gießereiunternehmen. Auf die Arbeitsverhältnisse ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter ist der Kollektivvertrag für die eisen- und metallerzeugende und ‑verarbeitende Industrie anzuwenden (zitierte Fassung: 1. 11. 2021; aktuelle Fassung: 1. 11. 2023 [im Wesentlichen unverändert]). Der Kollektivvertrag enthält die folgenden Bestimmungen:
„ VI. ARBEITSZEIT
Wöchentliche Arbeitszeit
1. Die wöchentliche Normalarbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen 38,5 Stunden.
[…]
Schichtarbeit
21. Bei mehrschichtiger oder kontinuierlicher Arbeitsweise ist aufgrund einer Betriebsvereinbarung ein Schichtplan zu erstellen. Die Arbeitszeit ist so einzuteilen, dass […] im Durchschnitt die wöchentliche Normalarbeitszeit innerhalb eines Schichtturnusses nicht überschritten wird.
Für Arbeitnehmer/innen in vollkontinuierlichen Betrieben kann die wöchentliche Normalarbeitszeit in einzelnen Wochen auf bis zu 56 Stunden ausgedehnt werden, wenn am Wochenende eine oder zwei Schichten von 10 bis 12 Stunden Dauer im Schichtplan vorgesehen sind und mindestens 2 von 3 Wochenenden vollkommen arbeitsfrei sind.
Wenn es die Betriebsverhältnisse erfordern, kann die wöchentliche Normalarbeitszeit innerhalb des Schichtturnusses ungleichmäßig so verteilt werden, dass sie im Durchschnitt des Schichtturnusses 40 Stunden nicht überschreitet.
Die sich daraus ergebenden Über- oder Unterschreitungen der kollektivvertraglichen Normalarbeitszeit sind innerhalb eines 26 Stunden nicht übersteigenden Durchrechnungszeitraums auszugleichen.
Ein längerer Durchrechnungszeitraum […] ist nur durch Betriebsvereinbarung und mit Zustimmung der Kollektivvertragspartner rechtswirksam.
[…]
VIa. MEHRARBEIT
Das Ausmaß der ab November 1986 durchgeführten Verkürzung der wöchentlichen Normalarbeitszeit (bei vorher 40 Stunden Normalarbeitszeit, 1 1/2 Stunden pro Woche) ist Mehrarbeit.
[…]
VII. ÜBERSTUNDEN […]
Überstunden
1. Als Überstunde gilt jede Arbeitszeit, welche außerhalb der auf Grundlage der geltenden wöchentlichen Normalarbeitszeit, Abschnitt VI, Punkt 1, sowie der Mehrarbeit gemäß Abschnitt VIa vereinbarten täglichen Arbeitszeit liegt.
[…]
XIV. ZULAGEN UND ZUSCHLÄGE
[…]
Nachtarbeitszulage
5. Für jede in der Zeit zwischen 22 und 6 Uhr geleistete Arbeitsstunde wird, sofern es sich nicht um Überstunden handelt, eine Zulage
ab 1.11.2021 von mindestens € 2,524
ab 1.11.2022 von mindestens € 2,770
ab 1.11.2023 von mindestens € 3,016
ab 1.11.2024 von mindestens € 3,262
ab 1.11.2025 von mindestens € 3,508
ab 1.11.2026 von mindestens € 3,754
ab 1.11.2027 von mindestens € 4,000
bezahlt. Besteht Anspruch auf Nachtarbeitszulage, gebührt eine Zulage nach Punkt 6 nicht.
Schichtzulage bei Arbeiten in Wechselschichten
6. Die Arbeitnehmer/innen erhalten bei Schichtarbeit für die
2. Schicht pro Stunde
ab 1.11.2021 mindestens € 0,670
ab 1.11.2022 mindestens € 0,837
ab 1.11.2023 mindestens € 1,004
3. Schicht pro Stunde
ab 1.11.2021 mindestens € 2,524
ab 1.11.2022 mindestens € 2,770
ab 1.11.2023 mindestens € 3,016
ab 1.11.2024 mindestens € 3,262
ab 1.11.2025 mindestens € 3,508
ab 1.11.2026 mindestens € 3,754
ab 1.11.2027 mindestens € 4,000
[…]
Überstundenzuschläge
9. Für jede Überstunde […] ist ein Zuschlag in Höhe von 50 Prozent zu bezahlen. Die dritte und die folgenden Überstunden an einem Tag werden mit einem Zuschlag von 100 Prozent entlohnt.
Abweichend davon gebührt an einem sonst arbeitsfreien Tag der 100%ige Zuschlag erst ab der 11. Arbeitsstunde an diesem Tag, soweit nicht ohnedies Anspruch auf einen höheren Zuschlag besteht (z.B. Überstundenarbeit nach der 50. Stunde, Sonn- und Feiertagsentlohnung, Nachtarbeit etc.).
Bei mehrschichtiger Arbeit hingegen gebührt der 100%ige Zuschlag für die dritte und folgenden Überstunden an einem sonst arbeitsfreien Tag erst für Arbeitsleistungen, die in Verlängerung der betriebsüblich ersten Schicht geleistet werden, soweit nicht ohnedies Anspruch auf einen höheren Zuschlag besteht (z.B. Überstundenarbeit nach der 50. Stunde, Sonn- und Feiertagsentlohnung, Nachtarbeit etc.).
Werden in einer Arbeitswoche mehr als 50 Stunden gearbeitet, so gebührt ab der 51. Arbeitsstunde, sofern es sich um eine Überstunde handelt, ein Zuschlag in Höhe von 100 Prozent. […]
Jedenfalls ist für Überstunden zwischen 20 und 6 Uhr früh ein Zuschlag von 100 Prozent zu bezahlen.
Ein Zuschlag von 100 Prozent gebührt auch für Stunden, die nach Beendigung der Nachtschicht nach 6 Uhr geleistet werden.
Für am 24. und 31. Dezember nach der Normalarbeitszeit geleistete Überstunden gebührt ein Zuschlag von 100 Prozent.
Überstunden an Feiertagen – das sind Arbeitsleistungen, die außerhalb der für den entsprechenden Wochentag vereinbarten normalen Arbeitszeit erbracht werden – sowie Überstunden an Sonntagen sind ab der ersten Stunde mit einem Zuschlag von 100 Prozent zu entlohnen.
Wird der/die Arbeitnehmer/in nach Verlassen des Betriebes bzw. der Arbeitsstätte zur Leistung von Überstunden zurückberufen, so sind diese in jedem Fall mit einem Zuschlag von 100 Prozent zu vergüten. Bestehen im Betrieb für solche Einsätze insgesamt günstigere Regelungen, so gelten diese anstatt des obigen Satzes.
Sonntagszuschlag
10. […]
Feiertagsentlohnung
11. […]
12. Bei Zusammentreffen mehrerer Zuschläge der Punkte 9 bis 11 sowie 14 gebührt nur der jeweils höchste Zuschlag.
13. Die Überstunden- bzw. Mehrarbeitsgrundvergütung und die Grundlage für die Berechnung der Zuschläge gemäß Punkte 9 bis 11 bzw. Abschnitt VIa […] beträgt 1/143 des Monatslohnes (bei 38,5 Wochenstunden Normalarbeitszeit); […]
Zuschläge für Wochenend- bzw. Feiertagsarbeiten bei einem vorübergehend auftretenden besonderen Arbeitsbedarf […]
14. […]
XX. VERFALL VON ANSPRÜCHEN
1. Für die Verjährung und den Verfall aller Ansprüche zwischen Arbeitgeber/in und Arbeitnehmer/in gelten ausschließlich die gesetzlichen Vorschriften. Auch für die Rückforderung zu Unrecht geleisteter Entgelte gilt die 3-jährige Verjährungsfrist.
2. Abweichend davon müssen
‑ Überstundenvergütungen, Sonn- und Feiertagszuschläge,
‑ Schmutz-, Erschwernis- und Gefahrenzulagen,
‑ Reiseaufwandsentschädigungen und Wegzeitvergütungen
bei sonstigem Verfall binnen 6 Monaten nach ihrer Fälligkeit bzw. Bekanntwerden mündlich oder schriftlich geltend gemacht werden; […]“
[2] Mindestens drei Arbeiterinnen und Arbeiter der Beklagten arbeiten in Wechselschichten (erste Schicht: von 6:00 bis 14:00 Uhr; zweite Schicht: von 14:00 bis 22:00 Uhr; dritte Schicht: von 22:00 bis 6:00 Uhr). Es kommt vor, dass Arbeiterinnen und Arbeiter im Schichtplan nicht vorgesehene Zusatzschichten leisten. Es kommt auch vor, dass Arbeiterinnen und Arbeiter bei Bedarf schon vor ihrer Schicht zu arbeiten beginnen („Hineinarbeiten in die Schicht“) oder nach ihrer Schicht weiterarbeiten („Herausarbeiten aus der Schicht“). Dabei fallen Mehr- und Überstunden an. Die Beklagte zahlt die kollektivvertragliche Schichtzulage nur für Normalarbeitsstunden, nicht aber für Mehr- und Überstunden. Sie beruft sich auf den Verfall der Schichtzulage bei Überstunden vor und nach einer Schicht, wenn sie nicht binnen sechs Monaten nach Fälligkeit oder Bekanntwerden mündlich oder schriftlich geltend gemacht wird.
[3] Der Kläger stellte, gestützt auf die zitierten Bestimmungen des Kollektivvertrags und § 54 Abs 1 ASGG, die aus dem Spruch ersichtlichen Feststellungsbegehren und brachte vor, die Bestimmungen des Kollektivvertrags seien in diesem Sinne auszulegen.
[4] Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Klage und hilfsweise die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kläger habe kein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung. Die gebotene Auslegung des Kollektivvertrags stehe dem Klagebegehren entgegen.
[5] Das Erstgericht gab dem Hauptbegehren statt und legte die Kollektivvertragsbestimmungen in dem vom Kläger gewünschten Sinn aus.
[6] Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil und wies das Klagebegehren ab. Nach der Wertung des Kollektivvertrags verdrängten der höhere Überstundenzuschlag und die günstigere Berechnungsart der Überstundenentlohnung nicht nur die Nachtarbeitszulage, sondern auch die Schichtzulage. Die Zahlung „schichtfremder“ Schichtzulagen scheide nach dem Kollektivvertrag aus. Den Feststellungsbegehren betreffend die Verfallsbestimmungen fehle es mangels eines Anspruchs auf Schichtzulage für Mehr- und Überstunden am rechtlichen Interesse. Die Revision sei mangels einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig.
[7] In seiner außerordentlichen Revision macht der Kläger eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt die Wiederherstellung des Ersturteils.
[8] Die Beklagte beantragt in ihrer – vom Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 2 ZPO freigestellten – Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen und hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die Revision ist zulässig, weil die Auslegung der fraglichen Kollektivvertragsbestimmungen durch die Vorinstanzen einer Korrektur bedarf. Sie ist aus diesem Grund auch teilweise berechtigt.
[10] 1. Der normative Teil eines Kollektivvertrags ist gemäß den §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt auszulegen; maßgeblich ist, welchen Willen des Normgebers der Leser dem Text entnehmen kann (RS0010088). In erster Linie ist dabei der Wortsinn – auch im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen – zu erforschen und die sich aus dem Text des Kollektivvertrags ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen (RS0010089). Führt der Wortsinn der Bestimmung zu keinem eindeutigen Ergebnis, so ist mittels objektiv-teleologischer Interpretation nach dem Sinn und Zweck zu fragen, den die Regelung vernünftigerweise haben kann (9 ObA 141/17a; 9 ObA 108/23g). Da den Kollektivvertragsparteien unterstellt werden darf, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen wollten, ist bei mehreren an sich in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten, wenn alle anderen Auslegungsgrundsätze versagen, jener der Vorzug zu geben, die diesen Anforderungen am meisten entspricht (RS0008828).
2. Zur Schichtzulage (Abschnitt XIV Punkt 6 des Kollektivvertrags) für Mehrarbeit und Überstunden:
[11] 2.1. Die Schichtzulage gebührt wörtlich „bei Arbeiten in Wechselschichten“ (Überschrift des Abschnitts XIV Punkt 6) bzw „bei Schichtarbeit“ (Abschnitt XIV Punkt 6). In seinen Regelungen über die Arbeitszeit bezeichnet der Kollektivvertrag „Schichtarbeit“ auch als „mehrschichtige Arbeitsweise“ (Abschnitt VI Punkt 21). Nach der Rechtsprechung ist „Schichtarbeit“ bzw „mehrschichtige Arbeitsweise“ eine Arbeitszeiteinteilung, bei der an einem oder mehreren Arbeitsplätzen innerhalb eines Tages verschiedene Arbeitnehmer in zeitlicher Aufeinanderfolge ihre Tagesarbeitszeit absolvieren (RS0051396; vgl auch 9 ObA 191/88). Dabei muss nicht jede Schicht aus der gleichen Anzahl von Arbeitnehmern bestehen (RS0051396). Ein „Schichtwechsel“ wiederum liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn sich die Lage der Schicht nach dem Schichtplan ändert (vgl § 4a Abs 3 AZG; 10 ObS 104/17t). Die Parteien sind sich darüber einig, dass die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter der Beklagten diese Voraussetzungen erfüllen, also „Schichtarbeit“ in diesem Sinn leisten. Der Kollektivvertrag bietet keine Anhaltspunkte für ein abweichendes Begriffsverständnis der Kollektivvertragsparteien: Dass die Arbeitszeit im „Schichtplan“ nach Abschnitt VI Punkt 21 so einzuteilen ist, dass im Durchschnitt die wöchentliche Normalarbeitszeit innerhalb eines Schichtturnusses nicht überschritten wird, lässt entgegen der Ansicht der Beklagten für sich allein nicht den Schluss zu, nach dem Kollektivvertrag werde „Schichtarbeit“ nur in der Normalarbeitszeit geleistet.
[12] 2.2. Abschnitt XIV Punkt 6 regelt einen allgemeinen Anspruch auf Schichtzulage ohne Bezugnahme auf die arbeitszeitrechtliche Qualifikation der geleisteten Arbeitsstunde. Er differenziert insbesondere nicht zwischen der Normalarbeitszeit einerseits sowie Mehrarbeit und Überstunden andererseits, sondern stellt nur darauf ab, dass „Arbeiten in Wechselschichten“ bzw „Schichtarbeit“ geleistet werden bzw wird. Der isoliert betrachtete Wortlaut von Abschnitt XIV Punkt 6 erweckt damit den Eindruck, eine Schichtzulage gebühre für jede Arbeitsstunde in einer zweiten oder dritten Schicht, unabhängig von ihrer genauen zeitlichen Lage und ihrer arbeitszeitrechtlichen Qualifikation (als Normalarbeitszeit, Mehrarbeit oder Überstunde). Allgemein folgt aus Punkt 6: Wird eine Arbeitsstunde (laut Schichtplan) in einer ersten Schicht geleistet, gebührt keine Schichtzulage; wird sie in einer zweiten Schicht geleistet, gebührt eine Schichtzulage für die zweite Schicht; wird sie in einer dritten Schicht geleistet, gebührt eine Schichtzulage für die dritte Schicht. Eine abweichende Beurteilung der Höhe der Schichtzulage bei „Hineinarbeiten in eine Schicht“ oder „Herausarbeiten aus einer Schicht“ ist Punkt 6 nicht zu entnehmen.
[13] 2.3. Die systematische Zusammenschau von Abschnitt XIV Punkt 6 („Schichtzulage bei Arbeiten in Wechselschichten“) mit seinen Punkten 5 („Nachtarbeitszulage“), 9 („Überstundenzuschläge“) und 13 bestätigt diese Auslegung mit einer Ausnahme betreffend Normal- und Mehrarbeitsstunden zwischen 22:00 und 6:00 Uhr:
[14] 2.3.1. Punkt 5 gibt allen Arbeiterinnen und Arbeitern – unabhängig davon, ob sie Arbeiten in Wechselschichten leisten – einen Anspruch auf Nachtarbeitszulage für jede zwischen 22:00 und 6:00 Uhr geleistete Arbeitsstunde, „sofern es sich nicht um Überstunden handelt“. Eine Nachtarbeitszulage gebührt daher für Normal- und Mehrarbeitsstunden zwischen 22:00 und 6:00 Uhr, nicht aber für Überstunden in diesem Zeitraum. Einen vergleichbaren Ausschluss der Schichtzulage für Überstunden gibt es in Punkt 6 nicht.
[15] 2.3.2. Der Hintergrund des Ausschlusses der Nachtarbeitszulage für Überstunden ergibt sich aus der systematischen Zusammenschau mit weiteren Regelungen des Abschnitts XIV: Nach Punkt 9 gebührt für Überstunden zwischen 20:00 und 6:00 Uhr (darin enthalten der gesamte Zeitraum, für den Nachtarbeitszulage zustehen kann) ein Zuschlag von 100 %. Nach Punkt 13 betragen die Überstunden- bzw Mehrarbeitsgrundvergütung und die Grundlage für die Berechnung (ua) der Mehrarbeits- und Überstundenzuschläge (bei 38,5 Wochenstunden Normalarbeitszeit) 1/143 des Monatslohns. Der Kollektivvertrag normiert also (auch) für die Zeit, für die die Nachtarbeitszulage gebühren kann, einen höheren als den gesetzlichen Überstundenzuschlag (§ 10 Abs 1 Z 1 AZG: 50 %) und eine günstigere „andere Berechnungsart“ iSd § 10 Abs 3 S 3 AZG. Im Gegenzug gebührt für Überstunden zwischen 22:00 und 6:00 Uhr keine Nachtarbeitszulage. Für die Schichtzulage gibt es diese Wertung in Wortlaut und Systematik der Punkte 5, 6, 9 und 13 nicht.
[16] 2.3.3. Punkt 5 enthält eine einzige Einschränkung für die Schichtzulage, und zwar im letzten Satz: „Besteht Anspruch auf Nachtarbeitszulage, gebührt eine Zulage nach Punkt 6 nicht.“ Die (allgemeine) Nachtarbeitszulage geht also der (besonderen) Schichtzulage vor – Arbeiterinnen und Arbeiter, die eine Nachtarbeitszulage beanspruchen können, erhalten keine Schichtzulage. Finanziell hat das für sie keine Auswirkungen, weil die Nachtarbeitszulage nach dem Kollektivvertrag genauso hoch ist wie die höchste Schichtzulage – jene für die dritte Schicht. Im Umkehrschluss folgt aus dem letzten Satz von Punkt 5: „Besteht kein Anspruch auf eine Nachtarbeitszulage, gebührt unter den Voraussetzungen von Punkt 6 eine Schichtzulage.“ Da es für Überstunden generell keine Nachtarbeitszulage gibt (arg: „sofern es sich nicht um Überstunden handelt“), bleibt der Anspruch auf die Schichtzulage für Überstunden zwischen 22:00 und 6:00 Uhr bestehen. Für Arbeitsstunden zwischen 22:00 und 6:00 Uhr, die der Normalarbeitszeit oder der Mehrarbeit zuzuordnen sind, besteht aber ein Anspruch auf Nachtarbeitszulage – und damit kein Anspruch auf Schichtzulage.
[17] 2.3.4. Eine allgemeine Reihung, wie von der Beklagten gewünscht – eine Schichtzulage sei nur zu zahlen, wenn weder eine Überstunde vorliege noch ein Anspruch auf Nachtarbeitszulage bestehe –, ist Wortlaut und Systematik der Punkte 5 und 6 nicht zu entnehmen. Eine solche Reihung ergibt sich auch nicht aus Abschnitt XIV Punkt 12, wonach bei Zusammentreffen mehrerer Zuschläge nur der jeweils höchste Zuschlag gebühre: Diese Bestimmung bezieht sich ausdrücklich nur auf das Verhältnis von Zuschlägen „der Punkte 9 bis 11 sowie 14“ (Überstundenzuschläge, Sonntagszuschlag, Feiertagsentlohnung sowie Zuschläge für Wochenend- bzw Feiertagsarbeiten bei einem vorübergehend auftretenden besonderen Arbeitsbedarf).
[18] 2.4. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten: Nach Wortlaut und Systematik von Abschnitt XIV Punkte 5 und 6 des Kollektivvertrags gebührt für im Betrieb der Beklagten geleistete Arbeitsstunden in der dritten Schicht (zwischen 22:00 und 6:00 Uhr), die als Normalarbeitszeit oder als Mehrarbeit zu qualifizieren sind, keine Schichtzulage (sondern eine Nachtarbeitszulage in der Höhe der Schichtzulage für die dritte Schicht). Von dieser Ausnahme abgesehen besteht der Anspruch auf Schichtzulage unabhängig von der arbeitszeitrechtlichen Einordnung der im Betrieb der Beklagten geleisteten Arbeitsstunde – insbesondere auch für Mehr- und Überstunden. Der Anspruch hängt (nur) davon ab, zu welcher Zeit die Arbeitsstunde geleistet wird (keine Schichtzulage zwischen 6:00 und 14:00 Uhr [erste Schicht], Schichtzulage für die zweite Schicht von 14:00 bis 22:00 Uhr und Schichtzulage für die dritte Schicht von 22:00 bis 6:00 Uhr).
[19] 2.5. Zu prüfen bleibt, ob der Text des Kollektivvertrags Anhaltspunkte für eine abweichende Absicht der Kollektivvertragsparteien als Normgeber bietet:
[20] 2.5.1. Oben wurde dargelegt, dass der Kollektivvertrag die Belastung durch eine Überstunde Nachtarbeit (zwischen 20:00 und 6:00 Uhr früh) allein durch die günstigere Höhe und Berechnungsart des Überstundenzuschlags abgegolten wissen will. Die Normgeber gewichteten nun die Belastung der Arbeiterin und des Arbeiters durch eine Stunde Nachtarbeit iSd Pkt XIV.5 KV genau gleich wie die Belastung durch eine Stunde in der dritten Schicht (erkennbar durch die gleiche Höhe der Nachtarbeitszulage sowie der Schichtzulage für die dritte Schicht) und höher als die Belastung durch eine Stunde der zweiten Schicht (erkennbar durch die höheren Beträge der Nachtarbeitszulage). Dazu passt die feststehende Praxis im Betrieb der Beklagten, wonach sich die Zeit der dritten Schicht mit der kollektivvertraglichen Zeit der Nachtarbeit iSd Pkt XIV.5 KV deckt (22:00 bis 6:00 Uhr). Das wirft zwei Fragen auf: Sollte nach der Absicht der Normgeber die Regelung für die Nachtarbeitszulage gleichermaßen auch für die Schichtzulage für die dritte Schicht gelten (nach den Beträgen gleich belastend wie Nachtarbeit; nach den Feststellungen im vorliegenden Fall zur selben Zeit wie Nachtarbeit)? Und sollte das nach ihrer Absicht auch für die Schichtzulage für die – nach den Beträgen als weniger belastend angesehene – zweite Schicht gelten, zumindest insofern, als es für die Überstunden einen 100%igen Zuschlag und eine günstigere Berechnungsart gibt (so zB in der hier festgestellten zweiten Schicht immer von 20:00 bis 22:00 Uhr; oder ab der dritten Überstunde an einem Tag; oder am 24. oder 31. Dezember; usw)?
[21] 2.5.2. Im äußersten Wortsinn des Abschnitts XIV fände eine solche Absicht der Kollektivvertragsparteien aber keine Deckung: Die Punkte 5 und 6 stellen Nachtarbeitszulage und Schichtzulage nebeneinander. Punkt 5 ordnet nur insofern eine Subsidiarität (einen Entfall) der Schichtzulage an, als eine Nachtarbeitszulage gebührt. Punkt 5 schließt die Nachtarbeitszulage, nicht aber die Schichtzulage für Überstunden aus; auch in Punkt 6 gibt es keinen Ausschluss der Schichtzulage für Überstunden. Sollte also der Normgeber tatsächlich die in 2.5.1. angesprochene Regelungsabsicht gehabt haben und deshalb die gleichen Beträge für die Nachtarbeitszulage und die Schichtzulage für die dritte Schicht vorgesehen haben, käme sie im äußersten Wortsinn der Punkte 5 und 6 nicht ausreichend zum Ausdruck. Die gleiche Höhe der Beträge allein reicht dafür nicht aus.
[22] 2.5.3. Für eine abweichende Ansicht des Normgebers mit dem Inhalt, der Anspruch auf Schichtzulage bei „Hineinarbeiten in eine Schicht“ oder „Herausarbeiten aus einer Schicht“ richte sich nach der Schicht, in die hineingearbeitet oder aus der herausgearbeitet werde, gibt es jedenfalls keinen Anhaltspunkt im Kollektivvertrag.
[23] 2.6. Es bleibt daher bei folgendem Auslegungsergebnis: Für im Betrieb der Beklagten geleistete Arbeitsstunden in der dritten Schicht (zwischen 22:00 und 6:00 Uhr), die als Normalarbeitszeit oder Mehrarbeit zu qualifizieren sind, gebührt keine Schichtzulage (sondern eine Nachtarbeitszulage in der Höhe der Schichtzulage für die dritte Schicht). Von dieser Ausnahme abgesehen besteht der Anspruch auf Schichtzulage unabhängig von der arbeitszeitrechtlichen Einordnung der Arbeitsstunde – also auch für Mehr- und Überstunden, und zwar je nachdem, wann die Stunde geleistet wird (keine Schichtzulage zwischen 6:00 und 14:00 Uhr [erste Schicht], Schichtzulage für die zweite Schicht von 14:00 bis 22:00 Uhr und Schichtzulage für die dritte Schicht von 22:00 bis 6:00 Uhr).
[24] 2.7. Dieses Ergebnis hat folgende Auswirkungen auf die Berechtigung der Feststellungsbegehren betreffend den Anspruch auf Schichtzulage: Das erste Feststellungsbegehren ist abzuweisen. Weder der Kollektivvertrag noch die Revision bieten Anhaltspunkte dafür, dass sich die Höhe der Schichtzulage nicht nach der Zeit richten würde, zu der die Mehr- oder Überstunde geleistet wird, sondern nach der eingeteilten Schicht der Arbeiterin oder des Arbeiters, in die „hineingearbeitet“ oder aus der „herausgearbeitet“ wird. Dem zweiten Feststellungsbegehren ist dagegen mit Ausnahme der Mehrarbeit in der Zeit von 22:00 bis 6:00 Uhr (für die eine Nachtarbeitszulage in der Höhe der Schichtzulage für die dritte Schicht) gebührt, stattzugeben.
3. Zu den Begehren betreffend den Verfall des Anspruchs auf Schichtzulage (Abschnitt XX Punkt 2):
[25] 3.1. Abschnitt XX Punkt 2 stellt nach seinem klaren Wortlauf auf die „Überstundenvergütung“ ab. Dazu gehört schon rein begrifflich das gesamte Entgelt, das die Arbeiterin oder der Arbeiter für die Überstunde bezieht, also auch eine für die Überstunde auszuzahlende Schichtzulage. Auch für Schichtzulagen für Überstunden gilt daher die sechsmonatige Verfallsfrist ab Fälligkeit oder Bekanntwerden (und nicht die gesetzliche Verjährungsfrist). Auf Mehrarbeit dagegen bezieht sich Punkt 2 nicht. Für Schichtzulagen für Mehrstunden gilt daher nicht die sechsmonatige Verfallsfrist, sondern die gesetzliche Verjährungsfrist.
[26] 3.2. Dieses Ergebnis hat folgende Auswirkungen auf die Berechtigung der Feststellungsbegehren betreffend den Verfall des Anspruchs auf Schichtzulage: Soweit sie sich auf Schichtzulagen für Überstunden beziehen, sind sie abzuweisen. In Bezug auf Schichtzulagen für Mehrstunden ist festzustellen, dass die gesetzliche dreijährige Verjährungsfrist Anwendung findet. Ein gesondertes rechtliches Interesse an der Feststellung, dass die Schichtzulagen für Mehrstunden nicht unter den Begriff der Überstundenvergütung fallen, und an der Feststellung des Anspruchs auf Nachzahlung für drei Jahre ist im Hinblick darauf nicht mehr zu erkennen. Die darauf gerichteten Feststellungsbegehren (Haupt- und Eventualbegehren) sind daher abzuweisen. Dasselbe gilt für das die Differenzansprüche betreffende Feststellungsbegehren; hier bietet schon das Vorbringen keine Hinweise für eine Bestreitung der Beklagten und damit ein rechtliches Interesse des Klägers.
[27] 4. Der Ausspruch über die Kosten gründet auf § 52 Abs 3 ZPO. Das Berufungsgericht hat die Kostenentscheidung bis zur rechtskräftigen Erledigung der Streitsache vorbehalten (§ 52 Abs 1, 2 ZPO). Das Erstgericht hat nun über die Verpflichtung zum Kostenersatz für das gesamte Verfahren zu entscheiden.
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