OGH 10ObS82/24t

OGH10ObS82/24t13.8.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und FI Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei I*, vertreten durch die Korn & Gärtner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz, LL.M., Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rehabilitationsgeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Mai 2024, GZ 12 Rs 45/24 k‑73, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Dezember 2023, GZ 18 Cgs 71/22g‑67, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00082.24T.0813.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf Weitergewährung des – mit Vergleich vom 9. Mai 2017 gewährten und mit 31. August 2021 entzogenen – Rehabilitationsgeldes über den 31. August 2021 hinaus.

[2] Die Klägerin bezieht seit 1. März 2015 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der deutschen Rentenversicherung Bund.

[3] Mit Vergleich vom 9. Mai 2017 verpflichtete sich die beklagte Pensionsversicherungsanstalt, der Klägerin Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation und Rehabilitationsgeld ab 1. Jänner 2016 zu gewähren. Basis dieses Vergleichs war das Gesamtgutachten der neurologisch‑psychiatrischen Sachverständigen, die zunächst eine Gesamtkrankenstandsprognose im Ausmaß von sechs Wochen pro Jahr anführte, in weiterer Folge jedoch aufgrund von Herpes Zoster von mehr als sieben Wochen.

[4] Mit Schreiben vom 11. Mai 2017 machte die Beklagte die Klägerin auf ihre Mitwirkungspflicht aufmerksam und forderte sie unter Hinweis auf die drohenden Rechtsfolgen zur Durchführung bestimmter medizinischer Behandlungen (darunter eine stationäre Aufnahme an einer psychiatrischen Abteilung) auf.

[5] Die Klägerin hielt sich von November 2020 bis Oktober 2021 in Spanien auf. Es ist sehr schwierig, in Spanien eine psychiatrische Behandlung zu bekommen. Die Wartezeit dort beträgt acht bis zehn Monate für einen Termin.

[6] Im Lauf des Verfahrens erhöhte sich (per 1. Jänner 2023) die Gesamtkrankenstandsprognose aus neuropsychiatrischer Sicht von zwei bis drei Wochen seit dem Stichtag auf nunmehr fünf Wochen.

[7] Mit Bescheid vom 29. Juni 2021 entzog die Beklagte der Klägerin das seit 1. Jänner 2016 gewährte Rehabilitationsgeld mit 31. August 2021, weil vorübergehende Berufsunfähigkeit nicht mehr vorliege.

[8] Dagegen richtet sich die Klage, in der die Klägerin (erkennbar) die Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes über den 31. August 2021 hinaus begehrt.

[9] Die Beklagte hielt dem Klagebegehren entgegen, dass die Klägerin nicht mehr invalid sei. Außerdem sei Österreich aufgrund des Bezugs einer deutschen Rente nicht leistungszuständig. Die Klägerin habe überdies ihre Mitwirkungspflicht ab November 2020 verletzt.

[10] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Über den eingangs gekürzt wiedergegebenen Sachverhalt hinaus stellte es außerdem (in der Berufung aus dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung bekämpft) fest:

„Aus gesamtgutachterlicher Sicht liegt die Krankenstandsprognose (zum 31. August 2021) jedenfalls unter sieben Wochen.

[11] Eine Psychotherapie wurde seit der Letztbegutachtung nur bis zum Jahr 2020 in Anspruch genommen. Im Zeitfenster 23. September 2020 bis 20. Juni 2022 fand keine Psychotherapie statt. Ab 18. August 2021 bemühte sich die Klägerin, bei ihrem bisherigen Psychotherapeuten einen Termin zu erhalten; dies war aber aus Kapazitätsgründen bis zum 21. Juni 2022 nicht möglich. Es wäre der Klägerin zumutbar gewesen, bei einem anderen Psychotherapeuten einen Termin zu erhalten. Es wurde auch zwischenzeitig keine neuropsychiatrische Rehabilitation in Anspruch genommen.“

[12] In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht, dass über den 31. August 2021 hinaus kein weiterer Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe, weil die Krankenstandsprognose nunmehr unter sieben Wochen liege und die Klägerin schuldhaft ihre Mitwirkungspflicht verletzt habe. Eine allfällige spätere Verschlechterung des Gesundheitszustands per 1. Jänner 2023 sei unbeachtlich, weil die Klägerin der deutschen Krankenversicherung leistungszugehörig sei und der Staat Österreich daher für Leistungen aus der Krankenversicherung bzw Rehabilitation nicht mehr zuständig sei.

[13] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es verneinte zwei in der Berufung geltend gemachte Verfahrensmängel (Nichteinholung eines internistischen/rheumatologischen Gutachtens; keine Befragung der neurologisch‑psychiatrischen Sachverständigen zur Verletzung der Mitwirkungspflicht im Entziehungszeitpunkt). Einen weiteren geltend gemachten Verfahrensmangel (Nichtaufklärung behaupteter Widersprüche zwischen dem internistischen und dem neurologisch‑psychiatrischen Sachverständigengutachten betreffend die festgestellte Krankenstandsprognose zum Entziehungszeitpunkt) behandelte das Berufungsgericht nicht. Die in der Berufung enthaltene Beweisrüge zur Krankenstandsprognose zum Entziehungszeitpunkt behandelte das Berufungsgericht (nur) insofern, als es darin die Geltendmachung eines – vom Berufungsgericht bejahten – Begründungsmangels des Ersturteils sah, der aber nicht wesentlich sei, weil es Österreich an der Zuständigkeit für die Gewährung von Rehabilitationsgeld mangle. Aufgrund des Bezugs einer deutschen Rente sei Deutschland für die Gewährung von Geldleistungen bei Krankheit zuständig. Die Klägerin habe diese Rente zwar bereits bei Gewährung des Rehabilitationsgeldes bezogen, aber ihren Wohnsitz im November 2020 nach Spanien verlegt, sodass aufgrund einer tatsächlichen Änderung der Umstände eine neuerliche Beurteilung der Rechtslage zulässig sei. Da Österreich für die Gewährung von Rehabilitationsgeld nicht zuständig sei bzw gewesen sei, sei die Entziehung des Rehabilitationsgeldes zu Recht erfolgt und eine neuerliche Gewährung von Rehabilitationsgeld ausgeschlossen. Dass das Erstgericht keine konkreten Feststellungen zum Leistungskalkül der Klägerin im Gewährungszeitpunkt getroffen habe (sondern lediglich Ausführungen der neurologisch‑psychiatrischen Sachverständigen wiedergegeben habe), begründe daher auch keinen (relevanten) sekundären Feststellungsmangel. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zur Frage zu, ob eine Wohnsitzverlegung in das EU‑Ausland eine wesentliche Änderung der Verhältnisse darstelle, die eine Entziehung von Rehabilitationsgeld rechtfertige.

[14] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn der Stattgabe des Klagebegehrens; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[15] In der Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[16] Die Revision ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts von höchstgerichtlicher Rechtsprechung abweicht; sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[17] 1.1. Die Entziehung des Rehabilitationsgeldes als laufende Geldleistung aus der Krankenversicherung (§ 143a ASVG) ist nach § 99 Abs 1 ASVG zu beurteilen. Sind nach dieser Bestimmung die Voraussetzungen des Anspruchs auf eine laufende Leistung nicht mehr vorhanden, so ist die Leistung zu entziehen, sofern der Anspruch nicht ohnedies gemäß § 100 Abs 1 ASVG ohne weiteres Verfahren erlischt. Ein Fall des § 100 Abs 1 ASVG ist hier nicht zu beurteilen.

[18] 1.2. Die Entziehung einer laufenden Leistung wie des Rehabilitationsgeldes ist nach § 99 Abs 1 ASVG nur zulässig, wenn sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben (RS0083884). Bei Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit ist eine wesentliche Änderung der Verhältnisse etwa dann anzunehmen, wenn die Arbeitsfähigkeit des Pensionsbeziehers so weit wiederhergestellt ist, dass er nicht mehr als invalid oder berufsunfähig gilt (RS0083884 [T14]).

[19] 1.3. Für den anzustellenden Vergleich sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzugs in Beziehung zu setzen (RS0083884 [T2]; RS0083876). Zeitpunkt der ursprünglichen Leistungszuerkennung ist die Erlassung des Gewährungsbescheids, bei einer gerichtlichen Entscheidung der Schluss der mündlichen Verhandlung oder der Zeitpunkt des Abschlusses eines Vergleichs über die Leistungsgewährung in einem gerichtlichen Verfahren (RS0083884 [T21]). Zur Beurteilung, ob sich die Verhältnisse derart verändert haben, dass eine Entziehung gerechtfertigt ist, sind im Verfahren über die Entziehung unabhängig von den im Zuerkennungsverfahren allenfalls getroffenen Feststellungen neuerlich Feststellungen über die für die Zuerkennung wesentlichen Tatsachen zu treffen (RS0083884 [T3]).

[20] 1.4. Die nachträgliche Erkenntnis, dass die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch zur Zeit der Zuerkennung nicht vorhanden waren, rechtfertigt die Entziehung der Leistung nicht (RS0083941; RS0106704).

[21] 2. Das Berufungsgericht sah eine solche Änderung der Verhältnisse bereits darin, dass die Klägerin ihren Wohnsitz (nach der Gewährung des Rehabilitationsgeldes durch Vergleich im Jahr 2017) im November 2020 nach Spanien verlegte. Der Wohnsitz der Klägerin ist im konkreten Fall allerdings nicht entscheidungswesentlich.

[22] 2.1. Der Anspruch auf Rehabilitationsgeld stellt eine Leistung des österreichischen Systems der sozialen Sicherheit dar. Die Klägerin bezog seit dem Jahr 2015 eine deutsche Rente. Es liegt daher ein grenzüberschreitender Sachverhalt im Sinn des Art 2 Abs 1 VO 883/2004 vor, sodass der persönliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet ist. Das Berufungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass der EuGH in der Entscheidung C‑135/19 , Pensionsversicherungsanstalt, ECLI:EU:C:2020:177, das Rehabilitationsgeld als Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a der VO 883/2004 qualifiziert hat, sodass – was im Verfahren auch nicht in Zweifel gezogen wird – auch der sachliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet ist.

[23] 2.2.1. Personen, für die die VO 883/2004 gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats (Art 11 Abs 1 VO 883/2004 ). Vorbehaltlich der hier nicht relevanten Sonderregeln der Art 12 bis 16 VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats (Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 ). Jede andere Person, die nicht unter Art 11 Abs 3 lit a bis lit d fällt, unterliegt unbeschadet anders lautender Bestimmungen der VO 883/2004 , nach denen ihr Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats (Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 ).

[24] 2.2.2. Die Klägerin ging weder bei Abschluss des Vergleichs vom 9. Mai 2017, mit dem ihr Rehabilitationsgeld gewährt wurde, noch im Entziehungszeitpunkt 31. August 2021 einer Beschäftigung in Österreich nach (vgl das – von der Klägerin nicht bestrittene – Vorbringen der Beklagten ON 47 Seite 2), sodass Österreich nicht nach Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 zuständig gewesen sein kann. Nach der allgemeinen Regelung des Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 wäre für die Klägerin allerdings nur dann der Wohnmitgliedstaat zuständig, wenn dem nicht anders lautende Bestimmungen der VO 883/2004 entgegen stünden.

[25] In diesem Sinn enthalten die Art 23 ff VO 883/2004 für die Krankenversicherung der Pensionisten („Rentner“ im Sinn des Art 1 lit w VO 883/2004 ) Sonderkollisionsnormen. Nach Art 29 Abs 1 iVm Art 21 VO 883/2004 ist für die Gewährung von Geldleistungen – wozu auch das Rehabilitationsgeld zählt – an Pensionisten (Rentner) mit einer Pension (Rente) eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig (vgl 10 ObS 34/20b ErwGr 1.3; 10 ObS 123/16k [21. Februar 2017] ErwGr 2.8).

[26] Da die Klägerin zu beiden maßgeblichen Zeitpunkten eine deutsche Rente bezog, war somit – wie die Parteien im Revisionsverfahren übereinstimmend vortragenund wovon auch das Berufungsgericht ausgeht – Deutschland der für Geldleistungen zuständige Mitgliedstaat und Österreich – unabhängig vom Wohnort der Klägerin – nicht zur Zahlung des österreichischen Rehabilitationsgeldes verpflichtet.

[27] 2.2.3. Für die Frage, welcher Mitgliedstaat nach der VO 883/2004 für die Erbringung von Geldleistungen bei Krankheit zuständig ist, ist es aufgrund des Bezugs der deutschen Rente somit irrelevant, in welchem Staat der Wohnort der Klägerin lag. Aus welchem Grund die Verlegung des Wohnorts eine für den Anspruch der Klägerin auf Rehabilitationsgeld wesentliche Änderung der Verhältnisse darstellen soll, lässt sich der Revisionsbeantwortung und dem Berufungsurteil auch nicht entnehmen.

[28] 2.3. Österreich war somit im maßgeblichen Zeitpunkt des Abschlusses des Vergleichs am 9. Mai 2017 und auch im Entziehungszeitpunkt 31. August 2021 nicht der für die Erbringung von Geldleistungen bei Krankheit zuständige Mitgliedstaat, sodass der Umstand, dass die Klägerin im Entziehungszeitpunkt ihren Wohnort nicht mehr in Österreich, sondern in Spanien hatte, keine wesentliche Änderung der Verhältnisse darstellte, die eine Entziehung rechtfertigen könnte.

[29] 3. Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts kommt es im vorliegenden Fall somit darauf an, ob die anderen von der Beklagten geltend gemachten Gründe für eine Entziehung vorliegen, also sich der Gesundheitszustand der Klägerin besserte oder sie ihre Mitwirkungspflicht verletzte.

[30] 3.1. Für eine Besserung des Gesundheitszustands ist zu prüfen, welches Leistungskalkül zum Zeitpunkt der Gewährung des Rehabilitationsgeldes (RS0083884 [T3, T6]; hier: 9. Mai 2017) und welcher zum Entziehungszeitpunkt (hier: 31. August 2021) tatsächlich vorlag. Eine solche Prüfung lässt die vorliegende Feststellungsgrundlage jedoch nicht zu.

[31] 3.1.1. Ein Leistungskalkül zum Gewährungszeitpunkt lässt sich – worauf das Berufungsgericht zutreffend verweist – dem festgestellten Sachverhalt nicht entnehmen. Insbesondere lassen die Feststellungen des Erstgerichts dazu, welche Sachverständigengutachten „Basis“ des abgeschlossenen Vergleichs waren und von welcher Krankenstandsprognose diese Gutachten damals ausgingen, eine verlässliche Beurteilung der Verhältnisse im Gewährungszeitpunkt nicht zu. Entscheidend für die Entziehung ist die Sachlage, wie sie im Zeitpunkt der Zuerkennung objektiv vorlag, und nicht jene, welche subjektiv angenommen wurde (10 ObS 65/18h ErwGr 3.3).

[32] 3.1.2. Das Berufungsgericht erachtete überdies aufgrund seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht die vom Erstgericht getroffenen und in der Berufung mittels Beweisrüge bekämpften Feststellungen zum Leistungskalkül (der Krankenstandsprognose) im Entziehungszeitpunkt für nicht entscheidungswesentlich. Wenn das Berufungsgericht – wie hier – die Beweisrüge einer Partei gegen bestimmte, in Wahrheit entscheidungswesentliche Feststellungen aus rechtlichen Gründen nicht erledigt, bestehen – mangels gesicherter Tatsachengrundlage – Feststellungsmängel, die im Rahmen der rechtlichen Beurteilung in dritter Instanz wahrzunehmen sind und deshalb keiner Mängelrüge in der Revision bedürfen (2 Ob 50/19w ErwGr 1.2; 3 Ob 153/16w ErwGr 3.5.; 5 Ob 168/08d ErwGr 7.1.; Lovrek in Fasching/Konecny 3 IV/1 § 503 ZPO Rz 71). Das Gleiche gilt für die Unterlassung der Behandlung der auf diese Feststellung bezogenen Mängelrüge (3 Ob 153/16w ErwGr 3.5.). Auch insofern liegen somit sekundäre Feststellungsmängel vor.

[33] Soweit das Berufungsgericht in der in der Berufung enthaltenen Beweisrüge die Geltendmachung eines Begründungsmangels sah, weil das Erstgericht nicht auf bestimmte (gegen die festgestellte Krankenstandsprognose im Entziehungszeitpunkt sprechende) Beweisergebnisse eingegangen sei, ist auf die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu verweisen, nach der das Vorliegen einer formal nachvollziehbaren Beweiswürdigung die Annahme eines Begründungsmangels ausschließt (2 Ob 200/17a ErwGr 3.; RS0040132 [T5]), und zwar auch in dem Fall, dass sich das Gericht mit einem Beweisergebnis nicht auseinandersetzt (RS0040180). Eine unvollständige, mangelhafte oder fehlerhafte Beweiswürdigung fällt vielmehr nur unter den Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung (RS0106079).

[34] 3.2. Verweigert die zu rehabilitierende Person die Mitwirkung an medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen, die ihr zumutbar sind, so ist auch bei Fortbestehen vorübergehender Invalidität, nachdem auf diese Rechtsfolge hingewiesen wurde, das Rehabilitationsgeld zu entziehen (§ 99 Abs 1a ASVG). Das Erstgericht stellte zwar fest, dass die Beklagte die Klägerin zur Durchführung von konkreten zweckmäßigen und zumutbaren Behandlungsmaßnahmen aufforderte, sie auf die Rechtsfolgen bei Verletzung dieser Mitwirkungspflicht hinwies und die Klägerin nicht alle Behandlungsmaßnahmen durchführen ließ. Das Berufungsgericht unterließ allerdings auch die Behandlung der darauf bezogenen Beweisrüge der Klägerin in der Berufung, was erkennbar wiederum auf die – vom Obersten Gerichtshof nicht geteilte – Annahme zurückzuführen ist, dass diese Frage nicht entscheidungswesentlich sei. Auch insofern erlaubt die (nicht gesicherte) Tatsachengrundlage somit keine abschließende Beurteilung der Frage, ob die Entziehung des Rehabilitationsgeldes gerechtfertigt war oder nicht.

[35] 3.3. Zu bemerken ist noch, dass – entgegen der von der Klägerin in der Revision vertretenen Rechtsansicht – auch das festgestellte Leistungskalkül zum 1. Jänner 2023 keinen Zuspruch ab diesem Zeitpunkt rechtfertigt. Das auf Weitergewährung des entzogenen Rehabilitationsgeldes gerichtete Klagebegehren enthält zwar als logisches Substrat auch das Eventualbegehren auf Wiedergewährung der Pensionsleistung für den Fall, dass zwar die Entziehung berechtigt war, inzwischen aber die Voraussetzung für eine Neugewährung vorliegen (RS0099110). Die Entscheidung über dieses Eventualbegehren setzt aber voraus, dass die Entziehung berechtigt war, was derzeit noch nicht beurteilt werden kann. In diesem Fall wären die Voraussetzungen des neu zu gewährenden Anspruchs der Klägerin überdies unabhängig von einer Änderung der Verhältnisse seit der Gewährung im Jahr 2017 zu prüfen, sodass der Klägerin die mangelnde Zuständigkeit Österreichs für Geldleistungen bei Krankheit nach der VO 883/2004 entgegen gehalten werden könnte. Soweit die Klägerin unter Berufung auf die Entscheidung 10 ObS 46/21v die Maßgeblichkeit des Wohnorts in Österreich unabhängig von der Auszahlung einer Rente durch einen anderen Staat behauptet, ist dieser Entscheidung eine solche Aussage nicht zu entnehmen; dass der dortige Kläger im strittigen Zeitraum (zum Teil) eine Rente von einem anderen Mitgliedstaat bezog, ändert nichts daran, dass er nicht dem österreichischen System der sozialen Sicherheit angehörte und daher keine Verpflichtung zur Zahlung des österreichischen Rehabilitationsgeldes bestand.

[36] 4. Das Verfahren erweist sich daher insgesamt als sekundär mangelhaft. Da sich die Unvollständigkeit der Sachverhaltsgrundlage nicht ausschließlich aus der Unterlassung der Behandlung von Beweisrügen durch das Berufungsgericht ergibt, sondern schon die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen für die abschließende Beurteilung der Sozialrechtssache nicht ausreichen, bedarf es einer neuerlichen Entscheidung durch die erste Instanz. Das Erstgericht wird daher Feststellungen zum Leistungskalkül (und insbesondere zur Krankenstandsprognose) im Zuerkennungszeitpunkt zu treffen haben. Hinsichtlich des Gesundheitszustands im Entziehungszeitpunkt ist das Erstgericht an seine bisherige Beweiswürdigung nicht gebunden, sodass bei der neuerlichen Beweiswürdigung zweckmäßigerweise auch die diesbezüglichen Ausführungen der Parteien in der Berufung und in der Berufungsbeantwortung zu berücksichtigen wären. Ob eine Ergänzung des Beweisverfahrens (etwa durch neuerliche Beiziehung einer oder mehrerer Sachverständigen) erforderlich ist, obliegt dabei der Beurteilung durch das Erstgericht.

[37] 5.1. Der Revision war daher Folge zu geben, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[38] 5.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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