OGH 10ObS65/18h

OGH10ObS65/18h23.10.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andrea Schultz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*****, vertreten durch Dr. Johannes Schuster, Mag. Florian Plöckinger Rechtsanwälte GesbR in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Entziehung des Rehabilitationsgeldes, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 25. April 2018, GZ 9 Rs 33/18s‑21, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 17. November 2017, GZ 2 Cgs 136/17w‑18, teilweise als nichtig aufgehoben und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00065.18H.1023.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die im Umfang der Abweisung des Eventualbegehrens und der Zurückweisung des Begehrens auf Feststellung, dass ein Anspruch auf allfällige Rehabilitationsmaßnahmen bestehe, als unangefochten unberührt bleiben, werden im Übrigen aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird insoweit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Der 1966 geborene Kläger bezog ab einem nicht näher festgestellten Zeitpunkt bis zu dessen Entziehung per 31. 1. 2017 von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt Rehabilitationsgeld.

Mit der gegen den Entziehungsbescheid vom 30. 11. 2016 erhobenen Klage begehrt er die Feststellung, dass über den 31. 1. 2017 hinaus vorübergehende Invalidität vorliege und ein Anspruch auf „allfällige Rehabilitationsmaßnahmen“ und auf Rehabilitationsgeld bestehe, hilfsweise die Feststellung der dauernden Invalidität und die Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß. Sein Gesundheitszustand habe sich nicht so weit gebessert, dass ihm die Ausübung einer auf dem Arbeitsmarkt noch bewerteten Tätigkeit wieder möglich sei.

Die Beklagte hielt dem entgegen, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers wesentlich gebessert habe.

Das Erstgericht wies das Haupt- und das Eventualbegehren ab. Es stellte fest, dass im Vergleich zum (nicht festgestellten) Gewährungszeitpunkt eine Besserung des Gesundheitszustands des Klägers im Sinn einer kardiovaskulären Leistungsverbesserung stattgefunden habe. Es könne aber nicht festgestellt werden, dass der Kläger zum Gewährungszeitpunkt objektiv „völlig arbeitsunfähig“ gewesen sei; es sei unklar gewesen, ob er „arbeitsfähig“ sei. Eine Belastungsergometrie habe für den Gewährungszeitpunkt einen Wert ergeben, der leichte Arbeiten prinzipiell zulasse, dies jedoch unter angegebenen Schmerzen im Brustkorb. Die Gewährung der Maßnahmen medizinischer Rehabilitation sei zur Abklärung der Ursachen der Brustschmerzen des Klägers sowie dazu erfolgt, eine weitere Verschlechterung seines Gesundheitszustands durch eine allfällige Arbeit zu verhindern. Durch weitere, nach dem Gewährungszeitpunkt durchgeführte Untersuchungen habe sich ergeben, dass die Schmerzen im Brustkorb nicht von der Herzerkrankung, sondern von der Wirbelsäule herrührten und die koronare Herzerkrankung „nunmehr“ leichte Arbeiten zulasse. Es sei jedenfalls zu einer Besserung des Gesundheitszustands und der Leistungsfähigkeit des Klägers in Bezug auf seine Herzerkrankung gekommen. Darüber hinaus traf das Erstgericht Feststellungen zum Leistungskalkül des Klägers im Entziehungszeitpunkt und zu den ihm unter Einhaltung dieses Leistungskalküls am allgemeinen Arbeitsmarkt zumutbaren Tätigkeiten.

Rechtlich kam es zum Ergebnis, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Leistungsvoraussetzungen im Gewährungszeitpunkt nicht erfüllt gewesen wären, weil auch eine nicht zeitnah abklärbare mögliche Gefahr der Gesundheitsschädigung durch das Ausüben einer Tätigkeit die Gewährung von Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation rechtfertige. Durch die Besserung des Gesundheitszustands in Bezug auf die koronare Herzerkrankung und in der Abklärung der Ursache der Brustschmerzen sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse zu sehen.

Das Berufungsgericht hob aus Anlass der Berufung des Klägers das Ersturteil und das ihm vorangegangene Verfahren im Umfang des Begehrens auf Feststellung eines Anspruchs auf allfällige Rehabilitationsmaßnahmen als nichtig auf und wies die Klage insofern zurück. Im Übrigen gab es der Berufung Folge und sprach aus, dass beim Kläger über den 31. 12. 2017 hinaus vorübergehende Invalidität vorliege und ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe.

Rechtlich begründete es die Klagezurückweisung damit, dass Rehabilitationsmaßnahmen nicht Gegenstand des angefochtenen Bescheids gewesen seien. Zum abändernden Teil seiner Entscheidung führte es aus, die Beweislast für eine rechtlich relevante Besserung des im Gewährungszeitpunkt bestehenden Zustands treffe die Beklagte. Es habe sich zwar der Gesundheitszustand des Klägers gebessert, sein Leistungskalkül im Gewährungszeitpunkt habe aber nicht festgestellt werden können. Daher stehe die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung einer Entziehung entgegen.

Die Revision ließ das Berufungsgericht mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld begehrt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in der ihm gemäß § 508a Abs 2 ZPO freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist entgegen dem Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die Revisionswerberin macht zu Recht geltend, dass die bisher getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um die Rechtssache abschließend zu beurteilen.

1. Für diejenigen Versicherten, die – wie der Kläger – am 1. 1. 2014 das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, wurde mit dem Sozialrechts-Änderungsgesetz 2012 (SRÄG 2012, BGBl I 2013/3) die befristete Invaliditätspension (Berufsunfähigkeitspension) abgeschafft, aber ein Rechtsanspruch auf medizinische Rehabilitation bei vorübergehender Invalidität bzw Berufsunfähigkeit sowie auf die neuen Leistungen des Rehabilitations- und des Umschulungsgeldes eingeführt. Nach der Rechtslage seit dem SRÄG 2012 gebührt bei vorübergehender Invalidität Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung, hingegen bei dauernder Invalidität Invaliditätspension aus der Pensionsversicherung (ErläutRV 2000 BlgNR 24. GP  24).

2.1 Mit der Schaffung des Rehabilitationsgeldes ist der Gesetzgeber des SRÄG vom Konzept der grundsätzlichen Befristung von Leistungen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit wieder abgegangen, indem er das Rehabilitationsgeld als unbefristete Dauerleistung ausgestaltet hat (ErläutRV 321 BlgNR 25. GP  4). Es ist durch Bescheid des Pensionsversicherungsträgers gemäß § 99 ASVG zu entziehen (§ 143a Abs 1 ASVG; ErläutRV 321 BlgNR 25. GP  5).

2.2 Der angefochtene Bescheid vom 30. 7. 2016 fällt bereits in den Geltungsbereich des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes 2015 (SVAG 2015, BGBl I 2015/2), mit dem auch die Entziehung des Rehabilitationsgeldes neu geregelt wurde. Wenngleich der Grundtatbestand des § 99 Abs 1 ASVG durch das SVAG 2015 unberührt blieb, wurde in § 99 Abs 1a ASVG der neue Rückforderungstatbestand der Verletzung von Mitwirkungspflichten geschaffen (10 ObS 4/16k, SSV‑NF 30/33). Bei den weiteren Entziehungstatbeständen – Besserung des Gesundheitszustands, Zumutbarkeit der beruflichen Rehabilitierbarkeit, Eintritt voraussichtlich dauernder Invalidität/Berufsunfähigkeit – handelt es sich aber jeweils um Fälle des Wegfalls einer ursprünglich vorhandenen Leistungsvoraussetzung im Sinn des Grundtatbestands des § 99 Abs 1 ASVG (Atria in Sonntag, ASVG9 § 99 Rz 23).

2.3 In allen diesen Fällen kann daher (auch) das Rehabilitationsgeld nach § 99 Abs 1 ASVG nur entzogen werden, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung eingetreten ist (10 ObS 50/15y, SSV‑NF 29/48); ansonsten steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (RIS‑Justiz RS0106704; RS0083941 [T1]). Zeitpunkt der ursprünglichen Leistungszuerkennung ist die Erlassung des Gewährungsbescheids. Es ist der Zustand in diesem Bescheidzeitpunkt dem Zustand im Zeitpunkt der Entziehung gegenüberzustellen (RIS‑Justiz RS0083876; Schramm in SV‑Komm [184. Lfg] § 99 ASVG Rz 6 mzwN).

Die Änderung kann im Fall einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit etwa in der Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten oder in der Wiederherstellung oder Besserung seiner Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an die Leiden bestehen (vgl RIS‑Justiz RS0083884). Ist der Leistungsbezieher durch diese Änderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist die Entziehung der Leistung sachlich gerechtfertigt (vgl RIS‑Justiz RS0083884 [T5]).

2.4 Den Versicherungsträger trifft die objektive Beweislast dafür, dass eine rechtlich relevante Besserung des bei Gewährung der Leistung bestandenen Zustands eingetreten ist (RIS‑Justiz RS0083813).

3.1 Ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt eingetreten ist oder ob dies nicht der Fall ist, kann aber – wie die Revisionswerberin zutreffend aufzeigt – nach den getroffenen Feststellungen nicht verlässlich beurteilt werden.

3.2 Selbst wenn man – wie das Berufungs-gericht – die Negativfeststellung dazu, ob der Kläger im Gewährungszeitpunkt „völlig arbeitsunfähig“ gewesen sei, als Negativfeststellung dahin auffasst, dass ein Leistungskalkül für den Gewährungszeitpunkt nicht festgestellt werden könne, erweisen sich die getroffenen Feststellungen als widersprüchlich. Die Feststellungen zur Abklärung der Schmerzen des Klägers im Brustbereich deuten nämlich darauf hin, dass die im Gewährungszeitpunkt bestehenden diagnostischen Unsicherheiten behoben wurden, sodass zum Beurteilungszeitpunkt (§ 193 ZPO) die Ursache der Brustschmerzen des Klägers auch für den Gewährungszeitpunkt geklärt und damit ein Leistungskalkül für diesen Zeitpunkt sehr wohl erstellbar ist.

3.3 Entscheidend für die Abgrenzung der Rechtskraftwirkungen des Bescheids der Beklagten ist die Sachlage, wie sie im Zeitpunkt der (Gewährungs‑)Entscheidung objektiv vorlag, und nicht jene, welche – auf einer allfälligen Fehleinschätzung der ärztlichen Sachverständigen (vgl RIS‑Justiz RS0110119 [T6] = 10 ObS 144/17z), auf der Heranziehung von im Gewährungszeitpunkt nicht mehr zutreffenden Gutachten (vgl 10 ObS 330/92, SSV‑NF 7/2; RIS‑Justiz RS0083876) oder, wie hier, auf einer nicht abschließenden diagnostischen Abklärung beruhend – subjektiv angenommen wurde.

4.1 Im fortzusetzenden Verfahren werden daher zunächst widerspruchsfreie Feststellungen zu den Einschränkungen der Leistungsfähigkeit (Leistungskalkül) des Klägers im Gewährungszeitpunkt sowie – ausgehend davon – Feststellungen dazu zu treffen sein, in welchem Umfang der Kläger im Hinblick auf die bestehenden Einschränkungen im Gewährungszeitpunkt behindert war bzw welche Tätigkeiten er ausführen konnte (vgl RIS‑Justiz RS0084399 [T3]).

4.2 Sollte sich auch ergeben, dass im Zeitpunkt der Erlassung des Gewährungsbescheids die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld erfüllt waren, wäre in der Wiedererlangung einer Leistungsfähigkeit, die dem Kläger die Ausübung einer auf dem Arbeitsmarkt noch bewerteten Tätigkeit erlaubt, eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der Zuerkennung zu erblicken. In diesem Fall wäre die Entziehung des Rehabilitationsgeldes zu Recht erfolgt.

4.3 Der Oberste Gerichtshof hat jüngst ausgesprochen, dass dann, wenn einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 5 bis 10 vH aufgrund einer Fehlbeurteilung eine Dauerrente gewährt wird, auch eine geringfügige Verbesserung seines Zustands, die zu einer etwa im Bereich von rund 5 bis 10 vH liegenden Änderung des Maßes der Minderung der Erwerbsfähigkeit führt, eine Entziehung der zu Unrecht gewährten Dauerrente rechtfertigt (10 ObS 87/16s, SSV‑NF 30/49; RIS‑Justiz RS0084194 [T1], RS0110119 [T4], RS0084142 [T4], RS0084151 [T6]). In der Entscheidung 10 ObS 87/16s sieht der Oberste Gerichtshof es als schwer vertretbares Ergebnis an, wenn ein Versehrter, dem eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente zu Recht gewährt wurde, bei einer geringfügigen Verbesserung seines Zustands die Entziehung der Rente in Kauf nehmen muss (RIS‑Justiz RS0084224), während einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von lediglich 5 bis 10 vH die aufgrund einer Fehleinschätzung gewährte Dauerrente trotz Vorliegens einer umfänglich gleichen Verbesserung nicht entzogen werden könnte.

Dieser Grundsatz wurde zuletzt auch auf die Entziehung des Pflegegeldes angewendet (10 ObS 78/17v).

Zu Recht gingen die Vorinstanzen davon aus, dass er auch auf die Entziehung des Rehabilitationsgeldes anzuwenden ist. Auch die Anwendung dieses Grundsatzes erfordert aber die Feststellung des Leistungskalküls des Klägers bezogen auf den Zeitpunkt der Zuerkennung des Rehabilitationsgeldes.

4.4 Sollte dieses im fortgesetzten Verfahren nicht feststellbar sein, so fiele die Negativfeststellung der mit dem Beweis des Eintritts einer rechtlich relevanten Besserung belasteten Beklagten (vgl RIS‑Justiz RS0083813) zur Last (RIS‑Justiz RS0039903 [T5]).

5. Da sich somit das Verfahren als ergänzungsbedürftig erweist, war der Revision Folge zu geben und die Sozialrechtssache zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf den § 2 ASGG, § 52 ZPO.

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