European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0050OB00051.24X.0704.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Erstgericht vorbehalten.
B e g r ü n d u n g :
[1] Die Streitteile – beide österreichische Staatsbürger – haben ihre Ehe am 7. 3. 2014 geschlossen. Für den Kläger war es die erste, für die Beklagte die dritte Ehe. Der Ehe entstammen der 2009 geborene L* und die 2012 geborene M*.
[2] Die Ehe der Streitteile war durch geringe Frustrationstoleranz und unvermittelte Gefühlsausbrüche der Parteien bei Konflikten geprägt. Beide haben ein hohes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, können dieses bei ihrem Partner aber nicht befriedigen. Während die Beklagte nach Beachtung durch den Kläger strebte, versuchte dieser sein Bedürfnis nach Anerkennung durch außereheliche Beziehungen zu befriedigen. Zwei‑ bis dreimal im Monat gab es Streit mit wechselseitigen Beschimpfungen. Die Streitsituationen waren von Vorwürfen, Verdächtigungen und der Eifersucht der Beklagten geprägt. Im Streit waren beide auch vor den Kindern aggressiv. Der Kläger wollte den Konflikt eher durch räumliche Trennung beenden, die Beklagte suchte hingegen die Nähe des Klägers und sorgte damit für eine Fortsetzung lautstarker Wortgefechte. Sie wollte Streitigkeiten immer in den Bereich der Kinder tragen, damit sie den Streit mitbekommen. Beide verwendeten verletzende Schimpfwörter, mehr allerdings der Kläger. Auch wenn es der Beklagten wichtig war, dass Konflikte ein harmonisches Ende finden, war das den Streitteilen aufgrund mangelnder Streitkultur nicht möglich. Die Beklagte wollte weiter über den Konflikt sprechen, der Kläger seine Ruhe haben. In solchen Situationen begab er sich in die Bibliothek, wo er sich ein Bett aufgestellt hatte. Aufgrund eskalierter Streitigkeiten gab es sechs oder sieben Polizeieinsätze, wobei die Beklagte die Polizei rief, ein Betretungsverbot gab es nie. Mehrere Paartherapien wurden abgebrochen.
[3] Bereits 2015 lernte der Kläger eine Frau namens S* kennen, mit der er eine lockere Beziehung begann, die Beklagte wusste ab 2016 davon. 2016 erhielt der Kläger die Diagnose Darmkrebs, wovon er die Beklagte nicht sofort informierte. Vierzehn Tage nach der Diagnose wurde er operiert. In dieser Situation erhielt er von der Beklagten nicht die Unterstützung, die er sich erwartet hatte, auch wenn sie ihn im Krankenhaus besuchte und bei Nachuntersuchungen dabei war. Die Beklagte sah den Grund für die Erkrankung im Lebensstil des Klägers, was dieser als Vorwurf verstand. Im September 2016 gab es während eines Streits ein Handgemenge um ein Mobiltelefon, dabei fiel der Kläger in einen Spiegel der Wohnung, der zerbrach. Danach mietete der Kläger eine Wohnung für sich, um nach neun Monaten über Wunsch der Beklagten wieder in die Ehewohnung zurückzukehren. Im Oktober 2017 sperrte sich die Beklagte bei einer Streitigkeit im Schlafzimmer ein. Da der Kläger daraus etwas benötigte und die Beklagte die Tür nicht öffnete, trat der Kläger sie ein. Die Beklagte schaffte 2018 gegen den Wunsch des Klägers (weitere) vier Katzen an.
[4] 2018 hatte der Kläger eine Affäre mit der Nachbarin, von der die Beklagte erfuhr. Als sie sein Mobiltelefon an sich nahm, um es zu kontrollieren und der Kläger versuchte, es ihr zu entreißen, biss die Beklagte ihn in die Hand. Die Beziehung mit S* und die Affäre mit der Nachbarin nahm die Beklagte nicht ernst, weil der Kläger mit den beiden Frauen ihrer Einschätzung nach keine Zukunft hatte. Nach dem Biss in die Hand teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er die Scheidung wolle. Im Juli 2018 platzierte die Beklagte in der Wohnung Zettel für den Kläger mit Nachrichten wie „Ich will deinen Hass und deine Bösartigkeit aus meiner Familie raushaben“ oder „Du musst gehen, weil du mich hasst“.
[5] Im Juli 2018 bemerkte der Kläger, dass vom Familienkonto zwischen 2015 und 2019 monatliche Barbehebungen von 2.000 EUR getätigt worden waren und machte der Beklagten deswegen Vorwürfe. Sie rechtfertigte das mit Ausgaben für die Familie. Der Aufforderung des Klägers, ein Kassabuch zu führen und Rechnungen über Barausgaben zu sammeln, kam die Beklagte nur ganz kurz nach. Im Juli 2019 behob der Kläger vom Familienkonto 4.200 EUR, um den Überziehungsrahmen auszureizen und die Beklagte von der Geldzufuhr abzuschneiden. Im Juli 2019 eröffnete die Beklagte ein eigenes Konto. Der Kläger stellt nach wie vor die Wohnung zur Verfügung und zahlt das Schulgeld der Kinder. Erste Vorschläge für einen Scheidungsvergleich gab es von einem gemeinsamen befreundeten Rechtsanwalt. Die Beklagte schlug im Herbst 2018 vor, sich noch ein halbes Jahr um die Ehe zu bemühen, womit der Kläger einverstanden war. Im Februar und April 2019 gab es gemeinsame Reisen und im September 2019 wurden Gespräche über eine einvernehmliche Scheidung fortgesetzt. Einen Urlaub im August 2019 zahlte die Beklagte mit einer Kreditkarte des Unternehmens des Klägers, wozu er eine Absprache vermisste und daher die Gehaltsauszahlungen an die Beklagte aussetzte.
[6] 2019 erkrankte die Beklagte an Brustkrebs, wobei der Kläger anbot, sie zu einem Termin mit einem Chirurgen zu begleiten. Am 8. 10. 2019 wurde sie operiert. Drei Tage zuvor erzählte der Kläger ihr von seiner Beziehung mit B*, die seine Traumfrau sei. Diese Beziehung des Klägers besteht seit 2019. Der letzte eheliche Geschlechtsverkehr war im Sommer 2019. Zwischen September und März 2020 schlief der Kläger in der Bibliothek, seit März 2020 schläft er nicht mehr in der Ehewohnung.
[7] Der Kläger begehrte die Scheidung der Ehe aus dem Verschulden der Beklagten, hilfsweise Scheidung nach mehr als dreijähriger Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft gemäß § 55 EheG. Die Ehe sei seit 2017 unheilbar zerrüttet. Er habe das Vertrauen zu der vormals in seinem Unternehmen angestellten Beklagten verloren, sie habe Gelder auftrags‑ und treuwidrig für private Zwecke verwendet. Sie habe Entscheidungen gegen den Willen des Klägers getroffen, ihn aus dem Schlafzimmer vertrieben, aus dem Familienleben ausgeschlossen und die Kinder gegen ihn aufgehetzt. Aufgrund unbegründeter Vorwürfe der Beklagten sei es mehrfach zu Polizeieinsätzen gekommen. Streitigkeiten habe sie vom Zaun gebrochen, er sei niemals gewalttätig geworden, physische Gewalt sei immer von der Beklagten ausgegangen. Sie habe den Kläger zu Unrecht vor Freunden und Bekannten, Verwandten und Polizeibeamten der Gewalt bezichtigt. Sie habe im Zug seiner Krebserkrankung ihre Beistandspflicht verletzt, in der Wohnung animal hoarding betrieben und sich über die Wünsche des Klägers betreffend Tierhaltung hinweggesetzt.
[8] Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage, hilfsweise den Ausspruch, dass das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe den Kläger treffe. Für den Fall der Scheidung nach § 55 EheG möge das Alleinverschulden des Klägers an der Zerrüttung ausgesprochen werden. Der Kläger sei 2014 aus dem Schlafzimmer ausgezogen und habe den Geschlechtsverkehr verweigert. Seit 2019 führe er eine ehewidrige Beziehung mit B*. Er habe sie bei ihrer Krebserkrankung im Sommer 2019 nicht unterstützt, während sie den Kläger liebevoll umsorgt habe, als er die Darmkrebsdiagnose bekommen habe. Im Juli 2019 habe der Kläger der Beklagten den Geldhahn völlig zugedreht, indem er den Überziehungsrahmen des Familienkontos voll ausgeschöpft habe. Bereits 2016 habe er ein Verhältnis mit einer Frau namens S* gehabt und dieses trotz seines Versprechens nicht beendet. Der Kläger habe sie misshandelt und beschimpft.
[9] Das Erstgericht gab dem Scheidungsbegehren statt und stellte das gleichteilige Verschulden der Streitteile an der Zerrüttung der Ehe fest. Ausgehend von den eingangs auszugsweise wiedergegebenen Feststellungen warf es der Beklagten ihr bedingungsloses Streitverhalten unter Einbeziehung der gemeinsamen Kinder vor. Die nicht sorgfältige Erledigung der ihr aus dem Angestelltenverhältnis zukommenden Pflichten sei aber keine Eheverfehlung. Mangelnde Unterstützung bei der Krebserkrankung des Klägers sah das Erstgericht (gerade noch) nicht. Allerdings sei der Beklagten die massive Verletzung der Pflicht zur anständigen Begegnung nach § 90 ABGB vorzuwerfen. Dem Kläger warf das Erstgericht vor, noch vor der Trennung von der Beklagen die ehewidrige Beziehung mit B* eingegangen zu sein, die zur vollständigen Ehezerrüttung geführt habe. Für die Beziehungen des Klägers mit S* und der Nachbarin gelte das nicht, weil die Beklagte diese nicht als ehezerstörend empfunden habe. Auch das unerbittliche und aggressive Streitverhalten des Klägers sei Eheverfehlung, selbst wenn er im Gegensatz zur Beklagten nicht danach getrachtet habe, die Kinder den Streit hören zu lassen. Das Einstellen der Gehaltszahlung sei nur arbeitsrechtlich relevant. Mangelnder Beistand anlässlich der Krebserkrankung der Beklagten sei ihm nicht vorzuwerfen. Da der Kläger für Ehewohnung und Schulgeld der Kinder aufkomme, sei das Ausreizen des Überziehungsrahmens des Familienkontos keine Verletzung der Unterhaltspflicht. Da ein überwiegendes Verschulden eines Ehegatten nur auszusprechen sei, wenn der Grad des Verschuldens sehr unterschiedlich sei, was hier nicht der Fall sei, sei die Ehe aus gleichteiligem Verschulden zu scheiden.
[10] Dieses Urteil bekämpfte nur die Beklagte mittels Berufung.
[11] Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass es das Hauptbegehren auf Verschuldensscheidung abwies, die Ehe gemäß § 55 EheG schied und das Alleinverschulden des Klägers an der Zerrüttung der Ehe aussprach. Die Kostenentscheidung behielt es dem Erstgericht vor.
[12] Die Beweisrüge erachtete es als nicht gesetzesgemäß ausgeführt. Rechtlich meinte es, ihr bedingungsloses Streitverhalten der Beklagten nicht vorwerfen zu können. Sie habe die Verlagerung der Streitsituation in den Kinderbereich offenbar angestrebt, um dem Kläger Zeit zu geben, sich zu beruhigen (was allerdingsso nicht festgestellt wurde). Aus den erstgerichtlichen Feststellungen leitete das Berufungsgericht ab, der Kläger habe durch das Eingehen wiederholter außerehelicher Beziehungen ein misstrauisches und kontrollierendes Verhalten der Beklagten erst hervorgerufen und damit auch die in den Streitsituationen beschriebenen Vorwürfe, Verdächtigungen und Eifersuchtsprägungen der Beklagten. Erkennbar seien die außerehelichen Beziehungen des Klägers für die Zerrüttung ursächlich gewesen, auch wenn die Beklagte – offensichtlich aufgrund ihrer dennoch positiven Einstellung gegenüber dem Kläger (die ebenso nicht festgestellt wurde) – sie als vorübergehend eingeschätzt habe. Die Unterstützung des Klägers durch die Beklagte sei umfassend und nicht nur „gerade noch gegeben“ gewesen, während der Kläger sie anlässlich ihrer eigenen Krebserkrankung nicht ausreichend unterstützt habe. Seine einmalige Frage nach einer Begleitung zum Arzt erfülle die eheliche Beistandspflicht nicht. Außerdemging das Berufungsgericht davon aus, es sei eine Eheverfehlung, dass der Kläger im Juli 2019 vom Familienkonto einen Geldbetrag abhob, um den Überziehungsrahmen auszureizen und damit die Beklagte von der Geldzufuhr abzuschneiden. Die Verletzung der Pflicht zur anständigen Begegnung durch die Beklagte, die der Kläger durch seine sonstigen Eheverfehlungen provoziert habe, trete insgesamt derart in den Hintergrund, dass von einem Verschulden ihrerseits nicht zu sprechen und die Scheidungsklage abzuweisen sei. Da eine unheilbare Zerrüttung aber kurz vor Oktober 2019 (Information der Beklagten über die neue Beziehung des Klägers zu seiner Traumfrau vor der Brustoperation) aus objektiver Sicht vorgelegen sei, sei dieEhe nach § 55 EheG zu scheiden. Sekundäre Feststellungsmängel, die vor allem auf das Abschneiden der Beklagten von laufenden Zahlungen durch das Überziehen des „Familienkontos“ abzielten, die auch der Kläger in der Berufungsbeantwortung ansprach, verneinte das Berufungsgericht. Der Verschuldensantrag nach § 61 Abs 3 EheG sei im Hinblick auf das Verhalten des Klägers berechtigt.
[13] Die Revision ließ das Berufungsgericht mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.
[14] In seiner außerordentlichen Revision strebt der Kläger die Abänderung im Sinn einer Wiederherstellung des Ersturteils an und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.
[15] Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[16] Die Revision ist zulässig, weil widersprüchliche Feststellungen des Erstgerichts eine abschließende rechtliche Beurteilung noch nicht ermöglichen. Sie ist im Sinn des Eventualantrags daher auch berechtigt.
[17] Der Kläger macht eine krasse Fehlbeurteilung der Verschuldensfrage durch das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des (teilweise disloziert) festgestellten Sachverhalts geltend und meint, die Wertung des Gesamtverhaltens ergebe keinen massiven graduellen Unterschied der Verschuldensanteile. Abzustellen sei darauf, durch wessen Verhalten die Ehezerrüttung unheilbar wurde (3 Ob 66/19f). Das Berufungsgericht habe das „Anschwärzen“ gegenüber den Polizeibeamten und den Umstand, dass die Beklagte von verbalen zu körperlichen Attacken gewechselt und den Kläger in die Hand gebissen habe, nicht gewertet. Außerdem erhebt der Kläger eine Beweisrüge mit dem Argument, er sei zu einer Tatsachenrüge in der Berufungsbeantwortung nicht verpflichtet gewesen. Er bekämpft die Feststellung des Erstgerichts, dass die verletzenden Schimpfwörter im Zug der Streitigkeiten überwiegend von ihm ausgegangen seien, dies sei von beiden Seiten zu gleichen Teilen ausgegangen.
Hiezu wurde erwogen:
[18] 1. Zwar ist nach dem RS0042740 die siegreiche Partei nicht genötigt, in der Berufungsmitteilung oder in der Berufungsverhandlung die ihr ungünstigen Feststellungen des erstinstanzlichen Verfahrens zu bekämpfen, wenn sie im Revisionsverfahren diese Feststellungen angreifen will. Allerdings gilt das nur für die in erster Instanz vollständig obsiegende Partei (RS0042740 [T27]); der Kläger hier obsiegte in 1. Instanz nicht vollständig. Überdies beruht dieser Rechtssatz auf Entscheidungen aus den 70er‑Jahren und wird schon seit den 90er‑Jahren nicht mehr aufrecht erhalten (vgl RS0042740 [T42, T43, T44]). Die Beweisrüge ist daher nicht zulässig.
[19] 2. Grundsätzlich ist es eine Frage des Einzelfalls, wie die beiderseitigen Verschuldensanteile zu gewichten sind, die daher – von Fällen krasser Fehlbeurteilung abgesehen – in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage aufwirft (RS0118125; RS0119414). Welchem Ehepartner Eheverfehlungen zur Last fallen, wann die unheilbare Zerrüttung der Ehe eintrat und welchen Teil das überwiegende Verschulden trifft, sind im Regelfall irrevisible Fragen des Einzelfalls (RS0119414 [T2, T3]). Liegen allerdings widersprüchliche Feststellungen vor, die eine abschließende rechtliche Beurteilung nicht ermöglichen, sind dies Feststellungsmängel, deren Vermeidung zur Wahrung der Rechtssicherheit erhebliche Bedeutung zukommt (RS0042744). Dieser Fall liegt hier vor:
[20] 3. Das Berufungsgericht ging davon aus, dass das der Beklagten vorgeworfene Streitverhalten mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Eifersucht Reaktion auf die vom Kläger bereits kurz nach der Eheschließung aufgenommenen ehewidrigen Beziehungen gewesen sei, das daher bei der Abwägung des ehewidrigen Verschuldens nicht wesentlich ins Gewicht falle. Zuzugestehen ist dem Berufungsgericht, dass das Erstgericht tatsächlich feststellte, dass die vom Kläger in seinem Bedürfnis nach Anerkennung aufgenommenen außerehelichen Beziehungen zu einem misstrauischen und kontrollierenden Verhalten der Beklagten führten. Der kausale Zusammenhang mit dem nächsten Satz der Feststellungen, wonach zwischen den Streitteilen zwei‑ oder dreimal im Monat Streitsituationen entstanden, die von Vorwürfen und Verdächtigungen und von der Eifersucht der Beklagten geprägt waren, ist aber nicht mehr klar. Das Erstgericht stellte nämlich im Sachverhalt (Seite 6 der Urteilsausfertigung) auch fest, die Beklagte habe die Beziehungen mit S* und die Affäre mit der Nachbarin nicht ernst genommen, weil der Kläger mit den beiden Frauen nach ihrer Einschätzung keine Zukunft hatte. Vor allem aber stellte es – disloziert (Urteilsausfertigung Seite 15) – ausdrücklich fest, die Beklagte habe die Beziehungen des Klägers zu S* und der Nachbarin nicht als ehezerstörend empfunden.
[21] 4. Ob ein Verhalten als ehezerstörend empfunden wird, betrifft einen inneren Vorgang, der nach freier Beweiswürdigung festzustellen ist, also das Gebiet der Tatsachenfeststellung, dessen Überprüfung dem Obersten Gerichtshof an sich entzogen ist (RS0043450). Nach der Rechtsprechung (RS0043434; zuletzt 1 Ob 80/20a) müssten nicht als ehezerstörend empfundene Eheverfehlungen bei der Verschuldensabwägung unberücksichtigt bleiben, worauf der Kläger im Rahmen seiner Revision auch hinweist.
[22] 5.1. Die aufgezeigte Widersprüchlichkeit betrifft einen entscheidungserheblichen Umstand. Bei der Abwägung des beiderseitigen Verschuldens im Sinn des § 49 EheG ist nämlich das Gesamtverhalten der Ehegatten im Zusammenhang maßgebend, ohne dass einzelne Eheverfehlungen einander gegenübergestellt werden müssten (RS0056171 [T6, T8]; RS0057303). Abzustellen ist nicht auf die Anzahl oder die Schwere der Verfehlungen, sondern primär auf den Beitrag zur Zerrüttung (RS0057858; RS0056171; RS0057223). Während Verfehlungen, die die Zerrüttung in Gang gesetzt oder vollendet haben, besonders schwer wiegen (RS0057361), spielen nach unheilbarer Zerrüttung der Ehe begangene Eheverfehlungen bei der Verschuldensabwägung grundsätzlich keine entscheidende Rolle mehr (RS0057338).
[23] 5.2. An sich ist Ehebruch einer der schwersten Eheverfehlungen, weil der darin gelegene Treuebruch regelmäßig die Vertrauensgrundlage der ehelichen Gemeinschaft tiefgreifend und nachhaltig erschüttert (RS0056559 [T6]), er hat aber mit dem EheRÄG 1999 seinen Charakter als absoluter Scheidungsgrund verloren, er muss nun zerrüttende Wirkung haben, um ein tauglicher Scheidungsgrund zu sein (RS0056559 [T8]). Auch hier ist daher maßgeblich, ob und inwieweit er zur Zerrüttung der Ehe beigetragen hat und welches Gewicht er im Vergleich zu den Eheverfehlungen des anderen Ehepartners hat (RS0056496). Damit kommt es hier entscheidend darauf an, ob die Beklagte die vom Kläger bereits knapp nach Eingehen der Ehe aufgenommenen Beziehungen zu S* und seiner Nachbarin tatsächlich nicht als ehezerstörend empfand (wie dies das Erstgericht ausdrücklich sagt) oder aber diese außerehelichen Beziehungen die vom Erstgericht festgestellte Streitkultur mit Vorwürfen, Verdächtigungen, Misstrauen, kontrollierendem Verhalten und Eifersucht der Beklagten erst auslösten (wovon das Berufungsgericht ausging). Zur Aufklärung dieser Widersprüchlichkeit sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben, wobei es dem Erstgericht überlassen bleibt, ob es einer Verfahrensergänzung bedarf, um eindeutige Feststellungen treffen zu können.
[24] 6. Im fortgesetzten Verfahren wird auch zu berücksichtigen sein, dass die Feststellungen zu den wechselseitig behaupteten Eheverfehlungen in Bezug auf das Familienkonto, die das Erst‑ und Berufungsgericht ebenso konträr bewerteten, für eine rechtliche Beurteilung einer Eheverfehlung der Streitteile in diesem Zusammenhang nicht ausreichen. Während der Kläger der Beklagten vorwarf, monatlich 2.000 EUR bar behoben zu haben, um „Geld auf die Seite zu bringen“, zumal sie laufende Kosten in dieser Höhe nicht abdecken habe müssen, behauptete die Beklagte, der Kläger habe ihr grundlos den Zugang zum Familienkonto gesperrt und den „Geldhahn völlig zugedreht“. Da diese behaupteten Verfehlungen vor Oktober 2019 lagen und nach der übereinstimmenden Auffassung der Vorinstanzen, die die Revision nicht substanziiert in Zweifel zieht, von einer unheilbaren Zerrüttung der Ehe jedenfalls im Oktober 2019 auszugehen ist, bedarf es auch zu diesem Themenkreis präziserer Feststellungen.
[25] 7. Eine abschließende Beurteilung der wechselseitigen Verfehlungen und der Berechtigung des auf § 49 EheG gestützten Ehescheidungsbegehrens des Klägers und Mitverschuldensantrags der Beklagten wird erst aufgrund dieser ergänzend zu treffenden Feststellungen möglich sein.
[26] 8. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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