OGH 1Ob118/23v

OGH1Ob118/23v27.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofrätin und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A* AG, *, vertreten durch die E+H Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien 1, Singerstraße 17–19, wegen 373.170,46 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 18. April 2023, GZ 14 R 187/22f‑64, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. August 2022, GZ 31 Cg 18/19y‑60, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00118.23V.0527.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG

 

Spruch:

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art 8 der Verordnung (EG) Nr 550/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2004 über die Erbringung von Flugsicherungsdiensten im einheitlichen europäischen Luftraum („Flugsicherungsdienste‑Verordnung“) in der durch die Verordnung (EG) Nr 1070/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art 2 Nr 4 der Verordnung (EG) Nr 549/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2004 zur Festlegung des Rahmens für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums („Rahmenverordnung“) in der durch die Verordnung (EG) Nr 1070/2009 geänderten Fassung dahin auszulegen,

dass die Erbringung von Flugverkehrsdiensten auch dem Schutz des einzelnen Luftraumnutzers vor dem Eintritt eines reinen Vermögensschadens aufgrund rechtswidriger und schuldhafter Versäumnisse der mit den Flugsicherungsdiensten betrauten Flugsicherungsorganisation dient?

II. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlagen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

 

Begründung:

I. Sachverhalt

[1] Die Austro Control Österreichische Gesellschaft für Zivilluftfahrt mit beschränkter Haftung (in der Folge: Austro Control) ist eine aufgrund des Bundesgesetzes über die Austro Control Gesellschaft mit beschränkter Haftung (in der Folge: ACG‑Gesetz) gegründete Gesellschaft, deren alleiniger Gesellschafter die hier beklagte Republik Österreich (Bund) ist. Sie hat alle früher dem Bundesamt für Zivilluftfahrt übertragenen Aufgaben wahrzunehmen, insbesondere die hoheitliche Aufgabe der Flugsicherung. Die Republik Österreich (Bund) haftet gemäß § 10 Abs 1 ACG‑Gesetz nach den Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes (AHG) für die von den Dienstnehmern der Austro Control in Wahrnehmung des übertragenen Aufgabenbereichs in Vollziehung der Gesetze wem immer zugefügten Schäden.

[2] Die Klägerin ist eine Fluggesellschaft mit Heimatflughafen in Wien-Schwechat. Sie nimmt für Flüge von und nach Wien die Flugverkehrsdienste der Austro Control in Anspruch und hat dafür Gebühren zu entrichten.

[3] Am 28. August 2016 kam es aufgrund technischer Probleme in der Sphäre der Austro Control zu Verzögerungen bei der Abfertigung und Annahme von Flügen und damit zu einem Passagierrückstau. Davon war auch die Klägerin betroffen.

II. Anträge und Vorbringen der Parteien:

[4] Die Klägerin begehrt von der beklagten Republik Österreich (Bund) Schadenersatz von 373.170,46 Euro.

[5] Die Austro Control betreibe im Rahmen der Flugsicherung den Nachrichtenvermittlungsserver (AFTN‑Server [„Aeronautical Fixed Telecommunication Network“]), der als Teil des internationalen, dezentralen AFTN‑Netzwerks zur Übermittlung von Fluginformationen zwischen den einzelnen Fluglinien, der Austro Control und der europäischen Koordinationsstelle in Brüssel (Eurocontrol) von essentieller Bedeutung sei. Die Austro Control sei verpflichtet, die zur ordnungsgemäßen und sicheren Erfüllung der ihr übertragenen Flugsicherungsaufgaben erforderlichen und dem internationalen Standard entsprechenden Flugsicherungseinrichtungen vorzuhalten und in betriebssicherem Zustand zu erhalten. Weil die Austro Control die angemessenen und zumutbaren technischen und personellen Vorkehrungen versäumt habe, sei es am 28. August 2016 zu einem weitgehenden Zusammenbruch des AFTN‑Servers und in der Folge zu einer drastischen Reduktion der An- und Abflugraten des Flughafens Wien-Schwechat gekommen. Dadurch sei die Klägerin gezwungen gewesen, insgesamt 60 Flüge zu annullieren. Daraus sei ihr (schon unter Berücksichtigung von Ersparnissen) ein Vermögensschaden von insgesamt 373.170,46 Euro entstanden, der insbesondere aus der Rückerstattung von Tickets, den Umbuchungen auf Fremd-Airlines, dem Entfall der Verrechnung von Codesharing-Flügen, der Verpflegung und Unterbringung sowie dem Transport von Passagieren, der Nachsendung von Gepäckstücken und Überstundenleistungen der Mitarbeiter resultiere. Die nationalen und europäischen Normen über die Flugsicherung schützten (auch) die (rein) vermögensrechtlichen Interessen der Luftraumnutzer, die sich der Dienste der Flugsicherungsorganisation bedienen müssten und dafür Gebühren zu entrichten hätten.

[6] Die beklagte Republik Österreich (Bund) lehnt die Haftung ab. Die Verantwortlichen und Mitarbeiter der Austro Control hätten aus näher dargestellten Gründen nicht rechtswidrig und schuldhaft gehandelt. Zudem könne aus den rechtlichen Bestimmungen über die Flugsicherung kein Schutz (rein) vermögensrechtlicher Interessen von Flugunternehmen abgeleitet werden. Die europäischen Verordnungen seien reine Verwaltungsvorschriften und enthielten keine Haftungsregelungen; sie dienten ausschließlich dem Interesse der Allgemeinheit an einem sicheren Luftverkehr.

III. Bisheriges Verfahren:

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ohne Durchführung eines Beweisverfahrens aus rein rechtlichen Erwägungen ab.

[8] Die nationalen und europäischen Bestimmungen über die Flugsicherung dienten der sicheren, geordneten und flüssigen Abwicklung des Flugverkehrs und bezweckten, die Gesamteffizienz des Flugverkehrsmanagements und der Flugsicherungsdienste für den allgemeinen Flugverkehr in Europa im Hinblick darauf zu steigern, den Anforderungen aller Luftraumnutzer zu entsprechen. Die Gewährleistung eines sicheren Flugverkehrs und dessen möglichst reibungslosen Ablaufs komme zwar auch den einzelnen Luftfahrtunternehmen zugute, sodass die darauf abzielenden Normen als Schutzgesetze zu beurteilen seien. Allerdings dienten die betreffenden Vorschriften einzig und allein der Regelung des (vorhandenen) Luftverkehrs und nicht dem Vermögensschutz der Luftfahrtunternehmen. Daher sei der Schaden, den ein solches Unternehmen dadurch erleide, dass bestimmte Flüge nicht oder nur zu einem anderen Zeitpunkt durchgeführt werden könnten, vom Schutzzweck nicht erfasst. Schon aus diesem Grund sei die Haftung der Beklagten zu verneinen, ohne dass es auf die Frage ankäme, ob Mitarbeiter der Austro Control rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hätten.

[9] Das Berufungsgericht hob das Urteil des Erstgerichts auf und trug diesem die Ergänzung des Verfahrens auf.

[10] Es kam – zusammengefasst – zum Ergebnis, dass die Besorgung der Flugsicherung nicht bloß im öffentlichen Interesse erfolge, sondern auch im Interesse der Luftfahrtunternehmen. Die Regeln über die Flugsicherung dienten zwar in erster Linie der Flugsicherheit. Nach den Zielsetzungen der unionsrechtlichen Verordnungen komme die Flugsicherung aber nicht bloß der Allgemeinheit oder dem Gemeinwohl zugute: Die Luftfahrtunternehmen als Luftraumnutzer, die im Tätigkeitsgebiet der örtlichen Flugsicherheit agierten, seien auf die Zusammenarbeit mit der Flugsicherungsorganisation angewiesen und hätten für deren Tätigkeit Gebühren zu entrichten. Damit sei eine Sonderbeziehung gegeben, sodass auch die rein wirtschaftlichen Interessen dieser Unternehmen vom Schutz der die Flugsicherheit regelnden Normen erfasst seien. Es seien daher Beweise zur Frage aufzunehmen, ob Mitarbeiter der Austro Control ein Verschulden an den Verzögerungen bei der Abfertigung von Flügen treffe.

[11] Der Oberste Gerichtshof hat über einen Rekurs der beklagten Republik Österreich (Bund) zu entscheiden, mit dem sie die Wiederherstellung der klageabweisenden Entscheidung des Erstgerichts anstrebt. Sie stützt sich weiterhin darauf, dass rein finanzielle Interessen von Luftfahrtunternehmen nicht nicht in den Schutzbereich der Regelungen zur Flugsicherheit fielen.

IV. Rechtsgrundlagen

1. Unionsrecht:

[12] 1.1. Die Verordnung (EG) Nr 549/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2004 zur Festlegung des Rahmens für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums („Rahmenverordnung“) in der durch die Verordnung (EG) Nr 1070/2009 geänderten Fassung enthält folgenden Erwägungsgrund und folgende Bestimmungen:

Erwägungsgrund 3:

Das reibungslose Funktionieren des Luftverkehrssystems setzt ein einheitliches, hohes Sicherheitsniveau der Flugsicherungsdienste voraus, die eine optimale Nutzung des europäischen Luftraums sowie ein einheitliches, hohes Sicherheitsniveau des Flugverkehrs in Übereinstimmung mit dem im allgemeinen Interesse liegenden Auftrag der Flugsicherungsdienste, einschließlich gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen [...] ermöglichen. Es sollte daher den höchsten Anforderungen an Verantwortlichkeit und Kompetenz genügen.

Artikel 1

Ziel und Anwendungsbereich

(1) Mit der Initiative des einheitlichen europäischen Luftraums wird das Ziel verfolgt, die derzeitigen Sicherheitsstandards des Luftverkehrs zu verbessern, einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung des Luftverkehrssystems zu leisten und die Gesamteffizienz des Flugverkehrsmanagements (ATM) und der Flugsicherungsdienste (ANS) für den allgemeinen Flugverkehr in Europa im Hinblick darauf zu steigern, den Anforderungen aller Luftraumnutzer zu entsprechen. Dieser einheitliche europäische Luftraum besteht aus einem zusammenhängenden europaweiten Netz von Strecken, Streckenmanagement- und Flugverkehrsmanagementsystemen, denen ausschließlich Sicherheits-, Effizienz- und technische Erwägungen zum Vorteil aller Luftraumnutzer zugrunde liegen. Im Rahmen der Verwirklichung dieses Ziels errichtet diese Verordnung einen harmonisierten Rechtsrahmen für die Schaffung des einheitlichen europäischen Luftraums.

[...]

Artikel 2

Begriffsbestimmungen

Für die Zwecke dieser Verordnung und der in Artikel 3 genannten Maßnahmen gelten folgende Begriffsbestimmungen: […]

(4) „Flugsicherungsdienste“ bezeichnet Flugverkehrsdienste, Kommunikations-, Navigations‑ und Überwachungsdienste, Flugwetterdienste sowie Flugberatungsdienste.

(5) „Flugsicherungsorganisation“ bezeichnet eine öffentliche oder private Stelle, die Flugsicherungsdienste für den allgemeinen Flugverkehr erbringt. [...]

(8) „Luftraumnutzer“ bezeichnet die Betreiber von Luftfahrzeugen, die im allgemeinen Flugverkehr betrieben werden. [...]

(11) „Flugverkehrsdienste“ bezeichnet wechselweise Fluginformationsdienste, Flugalarmdienste, Flugverkehrsberatungsdienste und Flugverkehrskontrolldienste (Bezirks-, Anflug- und Flugplatzkontrolldienste).

[13] 1.2. Die Verordnung (EG) Nr 550/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2004 über die Erbringung von Flugsicherungsdiensten im einheitlichen europäischen Luftraum („Flugsicherungsdienste-Verordnung“) in der durch die Verordnung (EG) Nr 1070/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 geänderten Fassung enthält folgende Erwägungsgründe und Bestimmungen:

Erwägungsgründe 3 bis 5, 10, 13 und 22:

(3) Die Verordnung […] Nr 549/2004 […] legt den Rahmen für die Schaffung des einheitlichen europäischen Luftraums fest.

(4) Zur Schaffung des einheitlichen europäischen Luftraums sollten Maßnahmen erlassen werden, mit denen die sichere und effiziente Erbringung von Flugsicherungsdiensten gewährleistet wird, die auf die Ordnung und Nutzung des Luftraums gemäß der Verordnung (EG) Nr 551/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2004 über die Ordnung und Nutzung des Luftraums im einheitlichen europäischen Luftraum ('Luftraumverordnung') [(ABl. 2004, L 96, S. 20)] abgestimmt sind. Die Festlegung einer harmonisierten Ordnung für die Erbringung dieser Dienste ist wichtig, um dem Bedarf der Luftraumnutzer angemessen Rechnung zu tragen und den Flugverkehr sicher und effizient abzuwickeln.

(5) Die Erbringung von Flugverkehrsdiensten gemäß dieser Verordnung hängt mit der Ausübung von hoheitlichen Befugnissen zusammen, die keinen wirtschaftlichen Charakter aufweisen, der die Anwendung der Wettbewerbsregeln des Vertrags rechtfertigen würde. […]

(10) Unter Gewährleistung der Kontinuität des Dienstes sollte ein gemeinsames System für die Zertifizierung von Flugsicherungsorganisationen eingerichtet werden, in dessen Rahmen die Rechte und Pflichten dieser Organisationen festgelegt werden und die regelmäßige Überwachung der Erfüllung dieser Anforderungen erfolgt. […]

(13) Die Erbringung von Kommunikations-, Navigations- und Überwachungsdiensten sowie von Flugberatungsdiensten sollte unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale dieser Dienste und unter Aufrechterhaltung eines hohen Sicherheitsniveaus zu Marktbedingungen organisiert werden. […]

(22) Flugsicherungsorganisationen stellen bestimmte Einrichtungen und Dienste bereit, die unmittelbar mit dem Betrieb von Luftfahrzeugen in Verbindung stehen und deren Kosten sie nach dem Verursacherprinzip decken können sollten, so dass die Luftraumnutzer die von ihnen verursachten Kosten am Ort der Nutzung oder so ortsnah wie möglich tragen sollten.

Artikel 1

Ziel und Geltungsbereich

(1) Im Geltungsbereich der Rahmenverordnung betrifft die vorliegende Verordnung die Erbringung von Flugsicherungsdiensten im einheitlichen europäischen Luftraum. Ziel dieser Verordnung ist die Festlegung gemeinsamer Anforderungen für eine sichere und effiziente Erbringung von Flugsicherungsdiensten in der Gemeinschaft.

(2) Diese Verordnung gilt für die Erbringung von Flugsicherungsdiensten für den allgemeinen Flugverkehr nach Maßgabe und im Rahmen des Geltungsbereichs der Rahmenverordnung.

Artikel 8

Benennung von Dienstleistern für Flugverkehrsdienste

(1) Die Mitgliedstaaten sorgen für die Erbringung von Flugverkehrsdiensten auf ausschließlicher Grundlage innerhalb bestimmter Luftraumblöcke in Bezug auf den Luftraum in ihrem Zuständigkeitsbereich. Hierzu benennen die Mitgliedstaaten einen Dienstleister für Flugverkehrsdienste, der im Besitz eines in der Gemeinschaft gültigen Zeugnisses ist. [...]

(3) Die Mitgliedstaaten legen die Rechte und Pflichten der benannten Dienstleister für Flugverkehrsdienste fest. Die Pflichten können Bedingungen für die zeitnahe Bereitstellung relevanter Informationen umfassen, die zur Identifizierung aller Luftfahrzeugbewegungen im Luftraum in ihrem Zuständigkeitsbereich geeignet sind.

Artikel 15

Grundsätze [der Gebührenregelung]

(1) Die Gebührenregelung beinhaltet die Erfassung der Kosten von Flugsicherungsdiensten, die Flugsicherungsorganisationen bei ihrer Tätigkeit für Luftraumnutzer entstehen. Die Regelung ordnet diese Kosten den Nutzerkategorien zu. [...]

2. Nationales Recht

[14] 2.1. Das Luftfahrtgesetz (LFG) enthält in seinem 8. Teil (Sicherung der Luftfahrt, Betrieb von Zivilluftfahrzeugen und Besondere Sicherheitsmaßnahmen) unter anderem folgende Regelung zur Flugsicherung:

§ 120. Wahrnehmung der Flugsicherung

(1) Soweit in oder auf Grund von völkerrechtlichen Vereinbarungen, in unionsrechtlichen Regelungen oder in diesem Bundesgesetz nichts anderes bestimmt ist, obliegt die Wahrnehmung der Flugsicherung als hoheitliche Aufgabe des Bundes der Austro Control GmbH. Die Austro Control GmbH ist zur Durchführung der Flugverkehrsdienste gemäß § 119 Abs 2 Z 1 lit a und der Flugwetterdienste gemäß § 119 Abs 2 Z 1 lit c auf ausschließlicher Grundlage im Sinne des Art 8 und des Art 9 der Verordnung (EG) Nr 550/2004 über die Erbringung von Flugsicherungsdiensten im einheitlichen europäischen Luftraum („Flugsicherungsdienste-Verordnung“), ABl. Nr L 96 vom 31.3.2004 S. 10, benannt. [...]

(5) Die Flugsicherungsorganisationen haben die zur ordnungsgemäßen und sicheren Erfüllung der ihnen übertragenen Flugsicherungsaufgaben erforderlichen und dem internationalen Standard entsprechenden Flugsicherungseinrichtungen vorzuhalten sowie im betriebssicheren Zustand zu erhalten und ordnungsgemäß zu betreiben.

§ 122. Flugsicherungseinrichtungen

(5) Für die Bemessung und Festlegung der für die Inanspruchnahme von Diensten und Einrichtungen der zur Wahrnehmung von Flugsicherungsdiensten gemäß § 120 Abs. 1 und 2 benannten Flugsicherungsorganisationen zu entrichtenden Gebühren ist die Durchführungsverordnung (EU) 2019/317 zur Festlegung eines Leistungssystems und einer Gebührenregelung für den einheitlichen europäischen Luftraum, ABl. Nr L 56 vom 25.2.2019 S. 1, maßgeblich. Die Höhe der Gebührensätze ist vom Bundesminister für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie spätestens zwei Wochen vor der jeweiligen Gültigkeit im Internet auf der Homepage des Bundesministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie kundzumachen. Die näheren Bestimmungen über die Vorschreibung und Einhebung der Gebühren sind mit Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Finanzen festzulegen. Die Einbringung der Gebühren hat auf dem Zivilrechtsweg zu erfolgen. Die gesetzlichen Verzugszinsen sind vorzuschreiben.

[15] 2.2. Das Bundesgesetz über die Austro Control Gesellschaft mit beschränkter Haftung (ACG‑Gesetz) enthält unter anderem folgende Regelungen:

§ 1

(1) Der Bundesminister für öffentliche Wirtschaft und Verkehr wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Finanzen an Stelle des Bundesamtes für Zivilluftfahrt eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit einem Stammkapital von mindestens 1 Million Schilling zu gründen. […]

(2) Die Gesellschaft ist ein Luftfahrtunternehmen und führt die Firma „Austro Control Österreichische Gesellschaft für Zivilluftfahrt mit beschränkter Haftung“ (Austro Control GmbH). Ihre Anteile sind zu 100 % dem Bund vorbehalten. […]

§ 2. Aufgaben, Befugnisse

(1) Die Austro Control GmbH hat sämtliche dem Bundesamt für Zivilluftfahrt im Luftfahrtgesetz (LFG), BGBl. Nr 253/1957, sowie in den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen und im Flugsicherungsstreckengebührengesetz, BGBl. Nr 137/1986, bisher übertragenen Aufgaben, ausgenommen jene, welche durch Verordnung gemäß § 140b Luftfahrtgesetz übertragen sind, wahrzunehmen. Die Austro Control GmbH hat weiters jene Aufgaben, die ihr durch Bundesgesetze oder auf Grund dieser Bundesgesetze erlassene Verordnungen übertragen worden sind, wahrzunehmen. Für diese Aufgaben besteht Betriebspflicht. Die Austro Control GmbH hat alle organisatorischen Vorkehrungen zu treffen, um diese Aufgaben unter der Aufsicht der staatlichen Behörden erfüllen zu können.

§ 10. Haftung

(1) Für die von Dienstnehmern der Austro Control GmbH in Wahrnehmung des in § 2 Abs. 1 und 3 dieses Bundesgesetzes übertragenen Aufgabenbereiches in Vollziehung der Gesetze wem immer zugefügte Schäden haftet der Bund nach den Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes, BGBl. Nr 20/1949. Der Dienstnehmer haftet dem Geschädigten nicht. [...]

2.3. Amtshaftungsrecht

[16] (a) Das nach § 10 Abs 1 ACG‑Gesetz auf die Haftung der beklagten Republik Österreich (Bund) anwendbare Amtshaftungsgesetz (AHG) bestimmt in seinem § 1 Abs 1:

Der Bund, die Länder, die Gemeinden, sonstige Körperschaften des öffentlichen Rechts und die Träger der Sozialversicherung - im folgenden Rechtsträger genannt - haften nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts für den Schaden am Vermögen oder an der Person, den die als ihre Organe handelnden Personen in Vollziehung der Gesetze durch ein rechtswidriges Verhalten wem immer schuldhaft zugefügt haben; dem Geschädigten haftet das Organ nicht. Der Schaden ist nur in Geld zu ersetzen.

[17] (b) Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RS0050038; zuletzt etwa 1 Ob 146/23m) sind selbst bei einer schuldhaften Verletzung von Rechtsvorschriften nur jene Schäden zu ersetzen, deren Eintritt die übertretene Vorschrift verhindern wollte oder deren Verhinderung zumindest mitbezweckt ist. Nur in diesem Fall besteht der für die Bejahung der Haftung erforderliche Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Schaden und der übertretenen Norm. Maßgebend ist also der Schutzzweck der Norm,der durch ihre Auslegung zu ermitteln ist (RS0050038 [T14], zuletzt etwa 1 Ob 199/22d [Rz 22]).

(c) Bei der Auslegung nationaler Regelungen bejaht der Oberste Gerichtshof einen auch individuelle Interessen schützenden Zweck der Norm in der Regel dann, wenn eine rechtliche Sonderverbindung zwischen dem Geschädigten und dem Rechtsträger bestanden hatte, dessen Organe eine Amtspflicht verletzt haben sollen (RS0049993; zuletzt etwa 1 Ob 199/22d [Rz 52]). Eher verneint wird ein auch Individualinteressen schützender Zweck hingegen dann, wenn die Erfüllung öffentlicher Aufgaben eine so große und unbestimmte Zahl von Personen betrifft, dass diese der Allgemeinheit gleichzusetzen sind (RS0049993, zuletzt etwa 1 Ob 199/22d [Rz 50]). In diesem Fall wird angenommen, dass mögliche Auswirkungen der Norm auf den Einzelnen nur ein Reflex ihres die Allgemeinheit schützenden Zwecks sind, sodass auch bei rechtswidrigem und schuldhaftem Handeln eine Haftung zu verneinen ist (RS0050038 [T5], zuletzt etwa 1 Ob 199/22d [Rz 51]).

V. Zur Vorlagefrage:

Rechtliche Beurteilung

[18] 1. Die Klägerin macht Amtshaftungsansprüche geltend, weil es Verantwortliche der Austro Control schuldhaft verabsäumt hätten, den für das Erbringen der Flugverkehrsdienste erforderlichen Nachrichtenvermittlungsserver (AFTN‑Server) in einem betriebssicheren Zustand zu halten. Der Ausfall dieses Servers und die damit verbundene Reduktion von Flugbewegungen habe bei ihr zu einem reinen Vermögensschaden (Verdienstentgang) geführt. Unstrittig ist, dass ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten von Verantwortlichen oder anderen Mitarbeitern der Austro Control der beklagten Republik Österreich zuzurechnen wäre (§ 10 Abs 1 ACG‑Gesetz iVm § 1 Abs 1 AHG). Unterschiedliche Auffassungen vertreten die Parteien hingegen zur Frage, ob die Regelungen, die der Flugsicherung zugrunde liegen, (auch) den einzelnen Luftraumnutzer vor reinen Vermögensschäden schützen sollen oder ob diese Regelungen ausschließlich die Sicherheit des Luftverkehrs und die Abwehr von der Allgemeinheit daraus drohenden Gefahren bezwecken.

[19] 2. Nach § 120 Abs 1 LFG ist die Austro Control unter anderem zur Durchführung der Flugverkehrsdienste „auf ausschließlicher Grundlage im Sinne des Art 8 […] der Verordnung (EG) Nr 550/2004“ benannt. Maßgebend ist daher der Regelungszweck dieser Verordnung, der durch ihre Auslegung zu ermitteln ist. Diese Auslegung hat unionsrechtsautonom zu erfolgen, wobei der Zusammenhang mit den anderen unionsrechtlichen Regelungen zum Luftverkehr zu beachten ist. Die vom Obersten Gerichtshof für nationale Normen entwickelten Auslegungsgrundsätze (oben IV.2.3.) können aus diesem Grund nicht unmittelbar herangezogen werden.

[20] 3. Der Europäische Gerichtshof hat in der Rechtssache C‑353/20 , Skeyes, zum Regelungszweck der Verordnung (EG) Nr 550/2004 Stellung genommen.

[21] Das Ausgangsverfahren dieser Entscheidung betraf die von einem Luftfahrtunternehmen beantragte Verhängung eines Zwangsgeldes gegen einen Flugverkehrs-Dienstleister, der den in seine Zuständigkeit fallenden Luftraum wegen eines Fluglotsenstreiks gesperrt hatte. Zu prüfen war, ob eine unionsrechtliche Pflicht bestand, einem Luftfahrtunternehmen in einem solchen Fall einen wirksamen Rechtsbehelf gegen den Dienstleister zu gewähren. Der Dienstleister hatte dies bestritten, weil das Luftfahrtunternehmen insofern über kein „subjektives Recht“ verfüge.

[22] Der EuGH lehnte diese Auffassung ab und bejahte die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Luftraumnutzern einen wirksamen Rechtsbehelf für den Fall von Pflichtverletzungen des Dienstleisters zur Verfügung zu stellen (Hervorhebungen im Folgenden durch den Senat): Luftraumnutzer wie Luftfahrtunternehmen seien Inhaber von Rechten, die durch die Sperrung des Luftraums beeinträchtigt werden könnten (Rz 39). Insbesondere hätten sie nach Art 15 im Licht von ErwGr 22 die Kosten der Flugsicherungsdienste zu tragen, die in ihrem Interesse erbracht werden oder unmittelbar mit dem Betrieb von Luftfahrzeugen in Verbindung stehen (Rz 42). Aus dem Kontext der Regelungen zur Flugsicherung ergebe sich, dass die Dienstleister auch Dienste erbringen müssten, die für die wirtschaftliche Tätigkeit der Luftraumnutzer erforderlich sein könnten (Rz 43). Die Verpflichtungen nach Art 8 der VO (EG) Nr 50/2004 in Verbindung mit Art 2 Nr 4 der VO (EG) Nr 549/2004 könnten den Luftraumnutzern somit Rechte gewähren, die durch eine Sperre des Luftraums beeinträchtigt werden könnten (Rz 45). Aus diesem Grund müsse ihnen für den Fall, dass der Dienstleister seine Verpflichtungen verletzte, im Lichte von Art 47 Abs 1 der Grundrechte-Charta ein wirksamer Rechtsbehelf vor einem nationalen Gericht zur Verfügung stehen.

[23] 4. Dieser Entscheidung liegt zugrunde, dass der Zweck der Regeln über die Flugsicherung jedenfalls nicht auf die Gewährleistung von Flugsicherheit im engeren Sinn beschränkt ist. Wäre das der Fall, so könnte eine Sperre des Luftraums – die das höchste Maß an Sicherheit gewährleistet, weil sie jeden Unfall verhindert – niemals Rechte von Luftraumnutzern verletzen.

[24] Vielmehr dient die Flugsicherung auch der effizienten Nutzung des Luftraums. Das folgt schon aus den in der VO (EG) Nr 549/2004 genannten Zielen der Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums: ErwGr 3 spricht von der „optimale[n] Nutzung des europäischen Luftraums“, und nach Art 1 Abs 1 soll das Regelungswerk die „derzeitigen Sicherheitsstandards und die Gesamteffizienz des allgemeinen Flugverkehrs in Europa [..] verbessern, die Kapazität so [..] optimieren, dass den Anforderungen aller Luftraumnutzer entsprochen wird, und Verspätungen [..] minimieren“. Darauf aufbauend sieht ErwGr 4 der VO (EG) Nr 550/2004 eine harmonisierte Ordnung der Flugsicherungsdienste als wichtig an, „um dem Bedarf der Luftraumnutzer angemessen Rechnung zu tragen und den Flugverkehr sicher und effizient abzuwickeln“, und Art 1 Abs 1 dieser VO nennt als ihr Ziel „die Festlegung gemeinsamer Anforderungen für eine sichere und effiziente Erbringung von Flugsicherungsdiensten in der Gemeinschaft“.

[25] Effizienz des Luftverkehrs ist damit ohne Zweifel ebenso Regelungszweck der VO (EG) Nr 550/2004 wie dessen Sicherheit. In einem weiteren Schritt folgt aus der Entscheidung C‑353/20 , Skeyes, dass das effiziente Erbringen der Flugsicherungsleistungen auch den konkreten wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Luftfahrtunternehmen dient. Eine Beschränkung des Regelungszwecks auf ein „Allgemeininteresse“ an einem effizienten Flugverkehr ist damit nicht vereinbar.

[26] 5. Aus den Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C‑353/20 , Skeyes, folgt, dass Art 8 der VO (EG) Nr 550/2004 – in Verbindung mit Art 2 Nr 4 der VO (EG) Nr 549/2004 – dem Luftraumnutzer Rechte gewährt, die durch die Entscheidung eines Dienstleisters für Flugverkehrsdienste beeinträchtigt werden können. Für den Obersten Gerichtshof stellt sich damit die Frage, ob auch rein vermögensrechtliche Interessen des Luftraumnutzers von Art 8 der VO (EG) Nr 550/2004 in Verbindung mit Art 2 Nr 4 der VO (EG) Nr 549/2004 erfasst sein könnten, für die dann – rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten der dem beklagten Rechtsträger zuzurechnenden Organe vorausgesetzt – nach nationalem Amtshaftungsrecht einzustehen wäre. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin als Luftraumnutzerin auf die Dienste der Austro Control GmbH als Dienstleisterin der Flugverkehrsdienste angewiesen ist und dafür eine Gebühr zu entrichten hat, die mit der Inanspruchnahme von Diensten und Einrichtungen der Flugsicherung beim An‑ und Abflug auf Flughäfen zu leisten ist. Das spricht nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs für eine rechtliche Sonderverbindung zum beklagten Rechtsträger und gegen dessen Auffassung, dass die Regelungen über die Flugsicherheit ausschließlich Sicherheitsaspekten und damit Allgemeininteressen dienten.

[27] 6. Insbesondere aus dem letztgenannten Grund neigt der Oberste Gerichtshof eher zur Auffassung, dass Art 8 der VO (EG) Nr 550/2004 in Verbindung mit Art 2 Nr 4 der VO (EG) Nr 549/2004 und Art 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auch rein vermögensrechtliche Interessen des einzelnen Luftraumnutzers schützt. Eine solche Auslegung der unionsrechtlichen Regelungen zumLuftverkehr ist jedoch keinesfalls zwingend und beruht im Ergebnis auf der Interpretation der Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C‑353/20 , Skeyes, die jedoch keine ausdrückliche Stellungnahme zu der hier präjudiziellen Rechtsfrage enthalten. Nach Ansicht des Senats kann damit nicht von einem „acte clair“ ausgegangen werden, sodass es im Interesse einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts durch die Gerichte der Mitgliedsstaaten geboten erscheint, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.

Zu II.:

[28] Der Ausspruch über die Aussetzung des Verfahrens bis zur Erledigung des Vorabentscheidungsersuchens gründet sich auf § 90a Abs 1 GOG.

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