OGH 2Ob245/23b

OGH2Ob245/23b20.2.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende, die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger sowie die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Dr. Sebastian Lenz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei D*, vertreten durch Dr. Stephan Trautmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen 20.000 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 7. August 2023, GZ 16 R 24/23a‑22, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 13. November 2023 (ON 31), womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 16. November 2022, GZ 56 Cg 16/22m‑16, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00245.23B.0220.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger war beim beklagten Arzt für Allgemeinmedizin zumindest von 2013 bis Anfang 2017 in Behandlung. Im Februar 2017 wurde beim Kläger in einem Spital chronische Hepatitis C diagnostiziert und behandelt, wobei er nach drei Monaten antiviraler Therapie in Tablettenform als geheilt galt.

[2] Im April 2017 machte der Kläger gegenüber dem Beklagten mit der Behauptung einer schuldhaften Diagnoseverzögerung erstmals Ansprüche geltend. Ein von der Haftpflichtversicherung des Beklagten eingeholtes Sachverständigengutachten ging davon aus, dass der Beklagte bereits 2013 Hepatitis C diagnostizieren hätte können. Der Sachverständige wies darauf hin, dass eine fortgeschrittene Leberveränderung, aber noch keine Leberzirrhose beim Kläger bestehe. Der weitere Verlauf der Lebererkrankung „insbesondere hinsichtlich einer Entwicklung hin zu einer Leberzirrhose“ sei nicht absehbar. Nach Vorliegen dieses Gutachtens forderte der Anwalt des Klägers die Haftpflichtversicherung im März 2018 zur Zahlung von 40.000 EUR an Schmerzengeld und zur Anerkennung der Haftung für Spät- und Dauerfolgen auf. Letztlich nahm die Haftpflichtversicherung im Mai 2018 ein Vergleichsanbot des Klägers durch Zahlung von 12.000 EUR an Schmerzengeld an. Mit diesem Vergleich wurden „sämtliche Ansprüche [des Klägers] resultierend und im Zusammenhang mit der Behandlung durch [den Beklagten] gegenüber [dem Beklagten] und [der Haftpflichtversicherung] bereinigt und verglichen“.

[3] Im März 2019 wurde beim Kläger Leberkrebs bei Leberzirrhose festgestellt, im April 2019 und Dezember 2021 wurden dem Kläger jeweils Teile der Leber entfernt. Dem Kläger war (erkennbar gemeint: bei Vergleichsabschluss) zwar bewusst, dass Leberzirrhose eine denkbare Folge von Hepatitis C ist, über die mögliche Entstehung von Leberkrebs wurde mit ihm aber nicht gesprochen.

[4] Der Kläger begehrt die Zahlung von 20.000 EUR sA an Schmerzengeld für „die Biopsien, operativen Teilresektionen und die Schmerzen durch den Leberkrebs an sich“ und die Feststellung der Haftung des Beklagten für sämtliche zukünftige Folgen der Diagnoseverzögerung. Dem Beklagten sei eine verzögerte Diagnose vorzuwerfen, die letztlich für das Auftreten von Leberkrebs kausal gewesen sei. Bei Abschluss des außergerichtlichen Vergleichs sei die mögliche Entstehung von Leberkrebs weder erkennbar noch vorhersehbar gewesen. Es liege daher insoweit keine verglichene Rechtssache vor. Außerdem bestehe ein krasses Missverhältnis zwischen dem Abfindungsbetrag von 12.000 EUR und dem unter Berücksichtigung des nunmehr aufgetretenen Leberkarzinoms tatsächlich angemessenen Schmerzengeld.

[5] Der Beklagte bestreitet und erhebt den Einwand (außergerichtlich) verglichener Rechtssache. Dem Vergleich komme umfassende und endgültige Bereinigungswirkung zu, das Entstehen von Leberkrebs sei auch dem Kläger als medizinischem Laien beim Vergleichsabschluss erkennbar und vorhersehbar gewesen. Eine vorwerfbare Diagnoseverzögerung durch den Beklagten werde ebenso bestritten wie ein Kausalzusammenhang zwischen dem behaupteten Fehler und dem Entstehen von Leberkrebs.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, weil die Entstehung von Leberkrebs für den Kläger beim Vergleichsabschluss vorhersehbar gewesen sei.

[7] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu. Die mögliche Entstehung von Leberkrebs sei für den Kläger als medizinischen Laien beim Vergleichsabschluss bei pflichtgemäßer Sorgfalt nicht vorhersehbar gewesen. Der Vergleich bereinige aber auch nicht vorhersehbare Folgen allfälliger Behandlungsfehler des Beklagten endgültig. Eine Sittenwidrigkeit der Abfindungsklausel sei zu verneinen, weil zwischen dem Abfindungsbetrag von 12.000 EUR und dem nunmehr erhobenen Zahlungsbegehren kein krasses Missverhältnis bestehe.

[8] Die Revision sei zulässig, weil zur Frage, ab welcher Relation zwischen dem Gesamtschaden und der Abfindungssumme bei Eintritt einer unvorhersehbaren Folge von einem besonders krassen Missverhältnis auszugehen sei, erst eine Entscheidung des Höchstgerichts vorliege.

[9] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, das Berufungsurteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[10] Der Beklagte beantragt, die Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zulässig, weil die Rechtsansicht des Berufungsgerichts im Einzelfall einer Korrektur bedarf. Sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[12] Der Kläger argumentiert, dass nicht vorhersehbare Folgen nicht in die Abfindung einbezogen worden seien. Selbst wenn man von der Einbeziehung unvorhersehbarer Folgen ausgehe, habe das Berufungsgericht die Frage der Sittenwidrigkeit unrichtig gelöst und ohne Objektivierung des tatsächlichen Gesamtschadens nur das nunmehr erhobene Zahlungsbegehren dem Abfindungsbetrag gegenüber gestellt.

Dazu hat der Fachsenat erwogen:

[13] 1. Ein Abfindungsvergleich umfasst jedenfalls erkennbare und vorhersehbare Ansprüche (RS0087312). Umfasst er auch (oder nur) Schmerzengeld, so erstreckt er sich im Zweifel nur auf schon bekannte oder doch vorhersehbare Unfallfolgen (RS0031031). Entscheidend für den Gegenstand der Streitbereinigung ist der übereinstimmend erklärte Parteiwille (RS0017954).

[14] Ausgehend von diesen Grundsätzen ist aufgrund des Wortlauts der Bereinigungsklausel (im Zweifel) davon auszugehen, dass nicht vorhersehbare Unfallfolgen in die Abfindung des Schmerzengeldanspruchs nicht einbezogen wurden. Weder die Feststellungen noch das Vorbringen der Streitteile bieten Anhaltspunkte für einen vom Wortlaut der Erklärung abweichenden übereinstimmenden Parteiwillen.

[15] 2. Ob ein Schaden als vorhersehbar zu qualifizieren ist, hängt davon ab, ob die Partei im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt mit dem späteren weiteren Anspruch rechnen konnte (2 Ob 45/12z mwN). Dabei kommt es auf die objektive Voraussehbarkeit an; ein subjektiver Irrtum des Geschädigten ist nicht zu berücksichtigen. Das bedeutet allerdings nicht, dass auf die Vorhersehbarkeit für Sachverständige bei einer ex‑post‑Betrachtung im Sinn einer absoluten Wahrheit abzustellen wäre. Maßgebend ist vielmehr, ob dem Geschädigten objektiv alle für das Entstehen seines Anspruchs maßgebenden Tatbestände bekannt gewesen sind, in der Regel also der – uU durch das Gutachten eines Sachverständigen angereicherte – Kenntnisstand eines medizinischen Laien (2 Ob 71/16d Punkt 3.3. mwN).

[16] Ausgehend von diesen Grundsätzen trifft die Beurteilung des Berufungsgerichts zu, das Auftreten von Leberkrebs sei für den Kläger bei Abschluss des Vergleichs nicht objektiv voraussehbar gewesen.

[17] Dem Kläger war aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens zwar bekannt, dass die Verzögerung bei der Behandlung von Hepatitis C Dauerfolgen auslösen könnte, wobei der „weitere Verlauf der Lebererkrankung insbesondere hinsichtlich einer Entwicklung bis hin zu einer Leberzirrhose“ im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses nicht absehbar war. Er musste aber als medizinischer Laie nicht mit einer Weiterentwicklung der als denkbar erachteten Leberzirrhose hin zu Leberkrebs rechnen, zumal mit ihm bis dahin nie über eine solche Möglichkeit gesprochen worden war. Vielmehr durfte der Kläger die Ausführungen des von der Haftpflichtversicherung beigezogenen Sachverständigen dahin verstehen, dass die dort erwähnte Leberzirrhose den schlechtest möglichen Fall der weiteren Entwicklung darstellt.

[18] 3. Da die Folgen der Erkrankung an Leberkrebs, auf die sich sowohl das Zahlungs- als auch erkennbar das Feststellungsbegehren bezieht, nicht von der Bereinigungswirkung des außergerichtlich geschlossenen Abfindungsvergleichs umfasst sind, erweist sich der vom Beklagten erhobene Einwand verglichener Rechtssache insgesamt als nicht erfolgreich (vgl 2 Ob 164/17g Punkt I.3. mwN).

[19] 4. Auf die vom Berufungsgericht als erheblich angesehene Rechtsfrage, unter welchen Umständen ein Abfindungsvergleich als sittenwidrig anzusehen wäre (vgl dazu RS0108259), kommt es mangels Einbeziehung nicht vorhersehbarer Unfallfolgen nicht an (vgl RS0131312).

[20] 5. Der Revision war damit im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags Folge zu geben. Im fortgesetzten Verfahren wird mit dem Kläger zu erörtern sein, dass das umfassend formulierte Feststellungsbegehren in einem Spannungsverhältnis zur Bereinigungswirkung des außergerichtlichen Vergleichs steht, die (nur, aber immerhin) die dem Kläger schon bekannten oder doch vorhersehbaren Folgen der vorgeworfenen Diagnoseverzögerung umfasst.

[21] 6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte