OGH 7Ob148/23z

OGH7Ob148/23z22.11.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Dr. Hans Christian Lass, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei W* AG *, vertreten durch MUSEY rechtsanwalt gmbh in Salzburg, und die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei Sparkasse K*, vertreten durch HRR Rechtsanwälte GmbH in Wörgl, wegen 79.976,86 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. Juni 2023, GZ 1 R 204/22k‑52, mit dem das Zwischenurteil des Handelsgerichts Wien vom 8. November 2022, GZ 64 Cg 49/21i‑46, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00148.23Z.1122.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Das erstgerichtliche Urteil wird aus Anlass der Revision berichtigt, dass es lautet:

„Das Klagebegehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei zu Handen des Klagevertreters binnen 14 Tagen den Betrag von 7 9.976,86 EUR samt 4 % Zinsen seit 12.6.2019 zu bezahlen, ist nicht verjährt.“

Die Durchführung der Berichtigung wird dem Erstgericht aufgetragen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin hat bei der Beklagten einen Lebensversicherugsvertrag‑Ablebensversicherung, aus dem sie nach dem Selbstmord ihres Gatten im Juni 2019 Ansprüche geltend macht. Die Beklagte lehnte eine Versicherungsleistung mit Schreiben vom 2. 10. 2019 ab und belehrte die Klägerin in diesem Schreiben über die Frist des § 12 Abs 3 VersVG. Dieses Schreiben wurde der Klägerin einige Tage danach an der Anschrift der Ehewohnung zugestellt. Zwischen Juni bis etwa Ende Oktober 2019 litt die Klägerin an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung mit deutlich depressiver Symptomatik und schweren Schlafstörungen, die zu Einschränkungen in der Wahrnehmung und Überblicksgewinnung führte. Der Klägerin war daher die Tragweite der Ablehnungserklärung samt Klagsfrist, deren Ablauf zu einem Anspruchsverlust führt, nicht in einem Maße ausreichend bewusst, dass sie zweckentsprechend, vernünftig und umsichtig darauf reagieren hätte können.

[2] Die Klägerin begehrte mit Klage vom 6. 9. 2021 die Zahlung der Versicherungsleistung.

[3] Die Beklagte wendete – soweit hier relevant – Präklusion wegen Ablaufs der Frist des § 12 Abs 3 VersVG ein.

[4] Das Erstgericht verneinte mit Zwischenurteil gemäß § 393a ZPO den Ablauf der Präklusionsfrist ersichtlich in Bezug auf das gesamte Klagebegehren. Die Klagsaufforderung nach § 12 Abs 3 VersVG sei eine empfangsbedürftige Willenserklärung, deren wirksamer Zugang zumindest dann, wenn sie für den Erklärungsempfänger nicht nur Vorteile mit sich bringe, dessen Geschäftsfähigkeit voraussetze. Die Klägerin sei zum Zeitpunkt der Zustellung nicht geschäftsfähig gewesen, weshalb ihr die Deckungsablehnung nicht wirksam zugestellt werden habe können. Der Zustellmangel sei unheilbar; insbesondere komme ein Beginn des Fristenlaufs nach Wiedererlangung der Geschäftsfähigkeit der Klägerin nicht in Betracht.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung keine Folge. Im Zusammenhang mit der Geltendmachung von versicherungsrechtlichen Ansprüchen – insbesondere im Zusammenhang mit dem Ableben ihres Ehemannes – sei die Klägerin jedenfalls nicht entscheidungs‑ und damit geschäftsfähig gewesen. Damit habe die Präklusivfrist des § 12 Abs 3 VersVG noch gar nicht begonnen. Das Erstgericht habe daher seine Entscheidung zu Recht nicht auf § 1494 ABGB gestützt. Der Zugang des Ablehnungsschreibens sei nicht wirksam gewesen und habe auch durch das Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit nicht wirksam werden können.

[6] Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung in eine Klagsabweisung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[7] Die Klägerin beantragt in ihrer vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

1. Zur Berichtigung:

[9] Eine Berichtigung ist zulässig, wenn das, was ausgesprochen wurde, offensichtlich nicht dem Willen des Gerichts zur Zeit der Fällung der Entscheidung entsprochen hat und sich dies aus dem ganzen Zusammenhang und insbesondere aus den Entscheidungsgründen ergibt (RS0041418). Durch die Berichtigung soll der wahre Entscheidungswille zum Ausdruck gebracht werden (RS0041519), der schon vor der Berichtigung den materiellen Gehalt der Entscheidung bestimmt (RS0041489). Das Erstgericht hat offenbar irrtümlich im Spruch seines Zwischenurteils lediglich über die Verjährung eines Klagebegehrens von 69.976,86 EUR entschieden. Da sich aus der Entscheidung eindeutig der Entscheidungswille zur Verneinung der Verjährung des gesamten Klagsanspruchs ableiten lässt, war diese offenbare Unrichtigkeit gemäß § 419 Abs 1 ZPO zu berichtigen, wobei die Durchführung der Berichtigung dem Erstgericht obliegt (RS0041379 [T2, T5]).

2. In der Sache:

[10] 2.1. Bei der Beurteilung, ob eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt die Tragweite bestimmter Willenserklärungen verstandesmäßig erfassen konnte oder ob ihr diese Fähigkeit durch eine die Handlungs‑ und Geschäftsfähigkeit ausschließende psychische Krankheit oder vergleichbare Beeinträchtigung fehlte, ist darauf abzustellen, ob eine Person die Tragweite eines konkreten Geschäfts und die Auswirkungen ihres Handelns abschätzen und dieser Einsicht gemäß disponieren kann. Es ist auch entscheidend, ob die Person in der Lage ist, ihre Wünsche und Vorstellungen zu erwägen und formulieren und auch zu beurteilen, inwieweit sie einem Rechtskundigen vertrauen kann, dass dieser ihre Interessen wahren werde (RS0009075 [T6, T8, T11, T12], vgl auch RS0014623).

[11] 2.2. Da die gegenständliche Ablehnungserklärung der Beklagten in unmittelbarem Zusammenhang mit dem die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin auslösenden Ereignis gestanden hat, ist mit den Vorinstanzen davon auszugehen, dass die Klägerin jedenfalls in Bezug darauf zum Zeitpunkt der Zustellung dieses Schreibens nicht geschäftsfähig war. Da diese Geschäftsunfähigkeit auch die Beurteilung betrifft, inwieweit die Wahrung ihrer Interessen im konkreten Fall einer anderen Person übertragen werden könnte, ist aus der von der Beklagten ins Treffen geführten Möglichkeit der Klägerin, einen Anwalt zu konsultieren, nichts zu gewinnen.

[12] 3. Die qualifizierte Deckungsablehnung des § 12 Abs 3 VersVG ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung (RS0080201). Sie setzt – da sie dem Empfänger nicht nur Vorteile, sondern im Gegenteil bei Fristversäumung empfindliche Nachteile bringt – für einen wirksamen Zugang die Geschäftsfähigkeit des Empfängers voraus (RS0014102; zu einer Klagsfrist nach § 12 Abs 3 VersVG vgl 7 Ob 57/80; vgl auch Steinbüchler in Fenyves/Perner/Riedler; VersVG [2021] § 12 Rz 44). Der Zugang der Erklärung an einen entscheidungsunfähigen Erklärungsempfänger ist nicht wirksam, weil es diesem an der Möglichkeit der Kenntnisnahme mangelt (vgl RS0013955 zur Annahmeerklärung). Ausgehend von der Geschäftsunfähigkeit der Klägerin zum Zeitpunkt der Zustellung der qualifizierten Deckungsablehnung ist diese der Klägerin folglich nicht wirksam zugegangen (vgl auch 7 Ob 57/80: „Eine Klagsfrist nach § 12 Abs 3 VersVG wurde nicht wirksam gesetzt.“).

[13] 3.1. Die Beklagte argumentiert im Rahmen ihrer Revision, die durch die – ursprünglich unwirksam zugestellte qualifizierte Deckungsablehnung des § 12 Abs 3 VersVG – nicht ausgelöste Klagsfrist müsse gemäß § 1494 Abs 1 ABGB durch das Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit der Klägerin Anfang des Jahres 2020 in Lauf gesetzt werden.

[14] 3.2. Gemäß § 1494 Abs 1 ABGB beginnt für den Fall, dass eine volljährige Person aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit an der Durchsetzung ihrer Rechte gehindert ist, die Ersitzungs‑ oder Verjährungszeit erst zu laufen, wenn sie die Entscheidungsfähigkeit wieder erlangt oder ein gesetzlicher Vertreter die Rechte wahrnehmen kann. Zweck des § 1494 ABGB ist es, handlungsunfähige Personen vor der Gefahr des Rechtsverlusts durch Verjährung (Ersitzung) zu schützen, wenn sie keinen gesetzlichen Vertreter haben, der ihre Rechte für sie verwalten könnte (8 Ob 17/19m; R. Madl in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.07 § 1494 Rz 2; Vollmaier in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 Vor §§ 1494–1496 Rz 4).

[15] 3.3. Die von § 12 Abs 3 VersVG ausgelöste Frist ist eine Ausschlussfrist (RS0080317), auf die § 1494 ABGB sinngemäß anzuwenden ist (RS0034608 [T1]). Diese Norm zielt auf den Schutz von Geschäftsunfähigen ab. Sie kann aber nicht bewirken, dass die allgemeinen Voraussetzungen für den Beginn der Verjährungsfrist zulasten des geschäftsunfähigen Verjährungsgegners entfallen (vgl 8 Ob 17/19m: analoge Anwendung der Hemmung der Verjährungsfrist nach § 1494 ABGB – dort auf den ruhenden Nachlass – nur zugunsten des Geschäftsunfähigen). Hier ist nur die Klägerin als zum fraglichen Zeitpunkt geschäftsunfähig vom Schutzzweck des § 1494 Abs 1 ABGB umfasst; die Beklagte kann sich demgegenüber auch nicht auf eine analoge Anwendung der Vorschrift des § 1494 Abs 1 ABGB berufen.

[16] 3.4. Die allgemeinen Voraussetzungen für den Beginn einer Verjährungs‑ oder Präklusivfrist bleiben im Übrigen von § 1494 Abs 1 ABGB unberührt. Die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen und die allgemeinen Voraussetzungen für den Beginn der jeweiligen Verjährungs- oder Präklusivfrist müssen daher für den Fristbeginn kumulativ vorliegen. Fehlt es schon an den allgemeinen Voraussetzungen für den Beginn der Frist, kann auch der spätere Wegfall des Hemmungsgrundes nach § 1494 Abs 1 ABGB nicht zum Ablauf der Frist führen. Zur wirksamen Ingangsetzung dieser Frist bedarf es einer Zustellung der qualifizierten Deckungsablehnung an einen geschäftsfähigen Versicherungsnehmer. Wenn – wie hier – die Frist mangels einer wirksamen Zustellung gar nicht wirksam in Gang gesetzt wurde, kann sie auch nicht durch das bloße Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit der Klägerin zu laufen beginnen, fehlt es doch weiterhin an der wirksamen Zustellung als fristauslösendes Moment. Auch wenn daher zu einem späteren Zeitpunkt der davor geschäftsunfähige Versicherungsnehmer geschäftsfähig wird, ändert dies alleine noch nichts an der fehlenden wirksamen Zustellung (vgl 7 Ob 57/80 zur späteren Kenntnis des gesetzlichen Vertreters von der Deckungsablehnung).

[17] 4. Da die Klägerin nach den erstgerichtlichen Feststellungen die qualifizierte Deckungsablehnung nach Wiedererlangen ihrer Geschäftsfähigkeit nicht neuerlich zugestellt bekommen hat, hat die Klagsfrist wegen der Wirkungslosigkeit des fristauslösenden Ereignisses daher nie zu laufen begonnen. § 1494 Abs 1 ABGB führt daher zu keiner günstigeren Entscheidung für die Beklagte.

[18] 5. Auf Fragen der Bedeutung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Versicherungsrecht in Zusammenschau mit § 1494 ABGB kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.

[19] 6. Der Revision war daher keine Folge zu geben.

[20] 7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 4 iVm § 393 Abs 4 ZPO (vgl RS0035896 [T2]).

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