OGH 2Ob216/23p

OGH2Ob216/23p21.11.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda, Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Rechtsanwälte Estermann & Partner OG, Mattighofen, gegen die beklagte Partei U*, vertreten durch PRILLER Rechtsanwalts GmbH, Eggelsberg, wegen 200.000 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 30. August 2023, GZ 3 R 103/23x-31, mit dem das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 30. Mai 2023, GZ 5 Cg 46/22z‑27, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00216.23P.1121.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Erbrecht und Verlassenschaftsverfahren

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Streitteile sind die Töchter des 2020 verstorbenen Erblassers, der 2018 mit Testament seinen Sohn zu seinem Alleinerben einsetzte. Diesem wurde 2021 der Nachlass eingeantwortet. Der Erblasser setzte seine Gattin und die Beklagte im Testament auf den Pflichtteil, wobei er hinsichtlich Letzterer verfügte, dass sich diese die im Jahr 2015 erfolgte Übergabe von Liegenschaften als Vorempfang anrechnen lassen müsse, sodass ihr Pflichtteilsanspruch erledigt sei. Den Pflichtteil der Klägerin minderte der Erblasser um die Hälfte. Punkt 6 seines Testaments lautet: „Hinsichtlich der Pflichtteilsansprüche ordne ich ferner an, dass zur Bezahlung derselben eine Frist von fünf Jahren eingeräumt wird, diese also frühestens nach Ablauf von fünf Jahren nach meinem Ableben zur Zahlung fällig sind.“

[2] Mit ihrer 2022 eingebrachten Klage begehrt die Klägerin 200.000 EUR als Ergänzung ihres Pflichtteils, dies unter Bezugnahme auf den zwischen dem Erblasser und seiner Gattin als Übergeber und der Beklagten als Übernehmerin geschlossenen Übergabsvertrag 2015 und unter Berücksichtigung einer Zahlung der Beklagten von 100.000 EUR an sie. Die Pflichtteilskürzung sei nicht gerechtfertigt. Die vom Erblasser nach § 766 Abs 1 ABGB angeordnete Stundung bedeute keine Klagssperre. Die Einleitung eines Pflichtteilsprozesses sei dessen ungeachtet möglich. Sollte dieser vor Ablauf der Frist beendet sein, sei die Leistungsfrist nach § 409 ZPO so zu bestimmen, dass dem Pflichtteilsschuldner die gesamte Jahresfrist bis zur Leistung des Geldpflichtteils zur Verfügung bleibe. Zudem sei die Stundung auch unbillig iSd § 766 Abs 2 ABGB. Die Klägerin sei auf das Geld angewiesen, die Beklagte könne den Anspruch auch ohne Darlehensaufnahme erfüllen.

[3] Die Beklagte wandte mangelnde Fälligkeit ein. Die Klägerin könne wegen der vom Erblasser verfügten Stundung den Anspruch erst fünf Jahre nach seinem Ableben gerichtlich geltend machen. Darüber hinaus bestritt die Beklagte den Anspruch der Höhe nach.

[4] Das Erstgericht wies die Klage mangels Fälligkeit ab. Es liege eine fälligkeitsändernde Stundung vor, die eine Klagssperre bis zum Ablauf der mit dem Tod des Erblassers beginnenden Frist von fünf Jahren bewirke.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das Ersturteil auf und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. In Anknüpfung an die zu § 765 Abs 2 ABGB ergangene Rechtsprechung ging es davon aus, dass auch § 766 ABGB ein Konzept der reinen Stundung verfolge, wobei aber eine Verurteilung zur Leistung bereits vor Ablauf der Stundungsfrist zuzulassen sei. Der Pflichtteilsberechtigte könne daher schon ab dem Tod des Erblassers auf Leistung klagen. Die Stundung sei durch ein Hinausschieben der Vollstreckbarkeit, also durch eine von § 409 Abs 1 ZPO abweichende Leistungsfrist auszudrücken.

[6] Das Berufungsgericht ließ den Rekurs mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage zu, ob § 766 ABGB lediglich eine „Vollstreckungssperre“ oder doch eine „Klagssperre“ bewirke.

Rechtliche Beurteilung

[7] Der dagegen von der Beklagten erhobene und von der Klägerin beantwortete Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig. Der Umstand, dass der Oberste Gerichtshof die Zulassungsfrage in einem obiter dictum (2 Ob 117/21a Rz 21) bereits im Sinne der Berufungsentscheidung beantwortet hat, bewirkt noch keine gesicherte Rechtsprechung (4 Ob 156/17w; RS0042672 [T1]) und kann daher eine Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage nicht tragen. Das Rechtsmittel ist aber nicht berechtigt.

[8] 1. Im Rekursverfahren war ausschließlich zu klären, ob § 766 ABGB eine Klags- oder Vollstreckungssperre bewirkt. Diese Bestimmung ist vorliegend anwendbar (§ 790 Abs 2 ABGB).

[9] 2. Nach § 766 Abs 1 ABGB kann der letztwillig Verfügende die Stundung des Pflichtteilsanspruchs auf höchstens fünf Jahre nach seinem Tod oder die Zahlung in Teilbeträgen innerhalb dieses Zeitraums anordnen. Ebenso kann er die Deckung des Pflichtteils durch eine Zuwendung ganz oder zum Teil auf diesen Zeitraum erstrecken. In diesen Fällen kann der Pflichtteilsberechtigte den gesamten oder restlichen Geldpflichtteil erst mit Ende dieses Zeitraums fordern, es sei denn, dass ihn dies unter Berücksichtigung aller Umstände unbillig hart träfe (Abs 2 leg cit).

[10] 3. Der Senat hat zur mit § 766 Abs 2 ABGB vergleichbaren Bestimmung des § 765 Abs 2 ABGB bereits mehrfach geprüft, ob diese Bestimmung die Einleitung eines Pflichtteilsprozesses hindert (2 Ob 49/19y; 2 Ob 117/21a).

[11] 3.1 Nach § 765 Abs 1 ABGB erwirbt der Pflichtteilsberechtigte den Anspruch für sich und seine Nachfolger mit dem Tod des Verstorbenen. Nach Abs 2 leg cit kann der Pflichtteilsberechtigte den Geldpflichtteil erst ein Jahr nach dem Tod des Verstorbenen fordern. Diese Bestimmung findet auch auf die Haftung des Geschenknehmers gegenüber dem verkürzten Pflichtteilsberechtigten Anwendung (RS0134241).

[12] 3.2 Nach der Entscheidung 2 Ob 49/19y hat der Gesetzgeber mit § 765 Abs 2 ABGB das Konzept einer „reinen Stundung“ verfolgt. Die Regelung soll dem Vertreter der Verlassenschaft bzw dem Erben Zeit geben, um sich einen Überblick zu verschaffen, die Verlassenschaft zu sichten und zu eruieren, wie und woher die Mittel für die Begleichung der unter Umständen erst zu klärenden Geldpflichtteilsansprüche beschafft werden können. Unter Bezugnahme auf das überwiegende Schrifttum vertrat der Senat die Ansicht, dass mit § 765 Abs 2 ABGB nur die Geldzahlungspflicht des Schuldners auf ein Jahr nach dem Tod des Erblassers aufgeschoben werden soll, nicht aber die Einleitung eines Pflichtteilsprozesses. Sollte dieser vor Ablauf der Jahresfrist beendet sein, wäre die Leistungsfrist nach § 409 ZPO gerichtlich so zu bestimmen, dass dem Pflichtteilsschuldner die gesamte Jahresfrist bis zur Leistung des Geldpflichtteils zur Verfügung bleibt.

[13] 3.3 Auch in der Entscheidung 2 Ob 117/21a verwies der Fachsenat in Anlehnung an die im Schrifttum überwiegend positiv aufgenommene (Rz 17) Entscheidung 2 Ob 49/19y darauf, dass § 765 Abs 2 ABGB im Ergebnis nur eine „Vollstreckungssperre“ bewirkt, die nur die Zahlungspflicht des Pflichtteilsschuldners, nicht aber die Einleitung des Pflichtteilsprozesses aufschiebt. Es ist nicht Zweck von § 765 Abs 2 ABGB, dem Schuldner für die Entrichtung des Pflichtteils durch Annahme einer „Klagssperre“ zusätzlich zur für den Pflichtteilsprozess erforderlichen Zeit auch noch die gesetzliche Jahresfrist zur Verfügung zu stellen. Diese Bestimmung führt daher tatsächlich nur zum Hinausschieben der Vollstreckbarkeit.

[14] 3.4 In der Entscheidung 2 Ob 117/21a (Rz 21) wurde obiter auch für den Bereich des § 766 Abs 2 ABGB (nur) das Vorliegen einer Vollstreckungssperre bejaht.

[15] 4. Das Berufungsgericht hat überzeugend ausgeführt, dass die Rechtsprechung zur gesetzlichen Stundung (§ 765 Abs 2 ABGB) auf die letztwillig verfügte Stundung (§ 766 Abs 2 ABGB) zu übertragen ist (idS Fucik in Barth/Pesendorfer, ErbR 342 ff; Likar-Peer in Ferrari/Likar‑Peer, ErbR2 Rz 10.145; Musger in KBB7 § 766–768 ABGB Rz 12; Nemeth in Schwimann/Neumayr 5 § 767 ABGB Rz 8; aA Kogler in Fenyves/Kerschner/Vonkilch,Klang3 § 766 ABGB Rz 10).

[16] 4.1 Dafür spricht zum einen der (oben hervorgehobene) idente Wortlaut der Bestimmungen („kann der Pflichtteilsberechtigte den … Geldpflichtteil erst … fordern“).

[17] 4.2 Auch der Normzweck der Stundung nach § 765 Abs 2 ABGB (dazu 2 Ob 49/19y) unterscheidet sich nicht vom telos des § 766 ABGB. Es besteht mangels unterschiedlichen Normzwecks daher kein Anlass, eine „Klagssperre“ in einem Fall zu verneinen, im anderen Fall aber zu bejahen.

[18] 4.3 Dem Schuldner wird in beiden Fällen eine „Atempause“ im Hinblick auf die Zahlung des Geldpflichtteils (bzw der Pflichtteilsergänzung) und nicht auf einen möglichen Prozess zugestanden (vgl zu § 765 Abs 2 ABGB: Dukic, NZ 2019/149 [Entscheidungsanmerkung]; Raunigg, ecolex 2020/2 [Entscheidungsanmerkung]). Dieser Zweck wird (auch im Bereich des § 766 ABGB) bereits mit einer bloßen „Vollstreckungssperre“ erreicht (Schwarzenegger, Neues zur Rechtsnatur der reinen Stundung in § 765 Abs 2 ABGB, EF-Z 2020/29).

[19] 4.4 Dem Ergebnis des Berufungsgerichts kann auch nicht die „konkrete testamentarische Anordnung“ entgegengehalten werden. Damit blendet die Beklagte aus, dass das Gesetz dem Erblasser in § 766 Abs 1 ABGB (nur) die Möglichkeit einräumt, eine Stundung anzuordnen. Die Folgen einer solchen letztwilligen Anordnung, dass nämlich der Pflichtteilsberechtigte damit zeitlich eingeschränkt wird, seinen Anspruch zu „fordern“, sind hingegen in § 766 Abs 2 ABGB gesetzlich normiert und damit unabhängig vom Testament zu prüfen.

[20] 5. Das Berufungsgericht ist damit zu Recht davon ausgegangen, dass auch § 766 Abs 2 ABGB (nur) eine Vollstreckungssperre normiert, sodass dem Anspruch der Klägerin mangelnde Fälligkeit nicht entgegengehalten werden kann. Dem Rekurs der Beklagten ist daher ein Erfolg zu versagen.

[21] 6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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