OGH 6Ob164/23w

OGH6Ob164/23w23.10.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L* AG, *, vertreten durch Gottgeisl Leinsmer Weber Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei L* plc, *, Malta, vertreten durch Brandl Talos Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 11.876 EUR sA, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 6. Juli 2023, GZ 5 R 144/23x‑29, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Hall in Tirol vom 15. Mai 2023, GZ 3 C 186/22s-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00164.23W.1023.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.

Die Zurückweisung der Klage wird bestätigt, soweit die klagende Partei ihr Begehren auf ungerechtfertigte Bereicherung stützt.

Im Übrigen – soweit die klagende Partei ihre Ansprüche auf den Rechtsgrund des deliktischen Schadenersatzes stützt – werden die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben. Dem Erstgericht wird insoweit die Einleitung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

 

Begründung:

[1] Die Beklagte ist ein Unternehmen mit Sitz in Malta und bietet im Rahmen ihrer gewerblichen Tätigkeit über die Website www.l*.com unter anderem in Österreich die Teilnahme an Online‑Glücksspielen an. Eine Konzession nach dem österreichischen Glücksspielgesetz hat die Beklagte nicht. Sie verfügt über eine Konzession in Malta. Unstrittig ist, dass die Website der Beklagten in deutscher Sprache gehalten ist, ein bestimmter im Sprengel des Erstgerichts wohnhafter Verbraucher (im Folgenden: der Spieler) die Verträge mit der Beklagten von Österreich aus schloss, „bei“ der Beklagten einen Online-Account einrichtete und von Österreich aus spielte. Die AGB der Beklagten lauten auszugsweise wie folgt:

[2] Der Spieler nahm die Dienste der Beklagten im Zeitraum vom 28. 12. 2020 bis 27. 1. 2022 in Anspruch und verlor dabei den Klagsbetrag.

[3] Am 24. 2. 2022 schloss der Spieler einen Abtretungsvertrag mit der Klägerin, mit dem er sämtliche Erstattungsansprüche und Schadenersatzansprüche, die im Zusammenhang mit seiner Nutzung des Glücksspielangebots der Beklagten stehen, an die Klägerin abtrat.

[4] Die Klägerin begehrt die Rückzahlung der vom Spieler erlittenen Verluste. Der Rückersatzanspruch stütze sich auf Bereicherung und Schadenersatz. Das von der Beklagten in Österreich angebotene Glücksspiel sei verboten, weshalb die Spielverluste daraus rückforderbar seien.

[5] Zur internationalen Zuständigkeit beruft sich die Klägerin – soweit für das Revisionsrekursverfahren noch von Bedeutung – auf den Gerichtsstand des Erfüllungsorts nach Art 7 Nr 1 EuGVVO 2012 sowie auf den Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2.

[6] Die Beklagte erhob den Einwand der internationalen Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts. Beim zugrunde liegenden Vertrag handle es sich um einen Dienstleistungsvertrag, dessen Erfüllungsort in Malta liege. Auch der Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 führe nicht zur Zuständigkeit des angerufenen Gerichts, weil weder der Handlungsort noch der Erfolgsort in Österreich lägen. Vielmehr sei der ausschließliche Gerichtsstand Malta vereinbart worden.

[7] Das Erstgericht sprach seine internationale Unzuständigkeit aus und wies die Klage unter Hinweis auf Rechtsprechung des Rekursgerichts zu vergleichbaren Fällen zurück.

[8] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Soweit man in der Veranstaltung von Online-Glücksspielen die Erbringung einer Dienstleistung erblicke, werde diese Dienstleistung mangels anderer Anhaltspunkte von der Beklagten offenkundig an ihrem Unternehmenssitz in Malta erbracht (Art 7 Nr 1 lit b zweiter Fall EuGVVO 2012) und könne sich die Klägerin nicht auf einen in Österreich gelegenen Erfüllungsort berufen.

[9] Die in Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 (zum Gerichtsstand für Deliktsklagen) verwendeten Begriffe „unerlaubte Handlung“ und „Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist“, seien autonom und eng auszulegen. Sie würden sich auf alle Klagen beziehen, mit denen eine Schadenshaftung geltend gemacht werde und die nicht an einen Vertrag anknüpften. Die Klägerin fordere als Zessionarin die vom Zedenten (vom Spieler) als Einsatz erbrachten Geldleistungen für die vermeintlich rechtswirksam zustande gekommenen Ausspielungen (Glücksspielverträge) zurück. Es knüpfe damit der geltend gemachte bereicherungsrechtliche Anspruch an einen Vertrag an. Damit sei nicht zu prüfen, ob der Handlungs- oder der Erfolgsort im Sinne dieses Wahlgerichtsstands in Österreich gelegen sei.

[10] Die Fragen, ob zwischen den ursprünglichen Vertragsparteien (Spieler und Spielanbieter) rechtswirksam eine Gerichtsstandsvereinbarung zustande gekommen sei und ob diese der Klägerin entgegengehalten werden könne, seien daher nicht mehr zu klären.

[11] Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht zu, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob bei der Durchsetzung bereicherungsrechtlicher Rückforderungsansprüche aus verbotenen Glücksspielverträgen ein Wahlgerichtsstand des Art 7 EuGVVO 2012 in Anspruch genommen werden könne, fehle.

Rechtliche Beurteilung

[12] Der gegen die Entscheidung des Rekursgerichts gerichtete Revisionsrekurs der Klägerin mit dem Antrag auf deren Abänderung dahin, dass das angerufene Erstgericht „zur Entscheidung in dieser Rechtssache international zuständig sei“, ist zulässig und teilweise berechtigt. Zwar ist die vom Rekursgericht aufgeworfene Frage mittlerweile geklärt (8 Ob 172/22k; 10 Ob 56/22s; 6 Ob 168/23h). Das Rekursgericht weicht aber – wie der Revisionsrekurs zu Recht geltend macht – mit seinem Beschluss davon ab, sodass seine Entscheidung teilweise abzuändern ist:

[13] 1. Die Anwendbarkeit der EuGVVO 2012 auf den Anlassfall steht nicht in Frage. Die Klägerin beruft sich im Revisionsrekurs nur mehr auf den Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012. Die Beklagte verneint dessen Vorliegen und hält an ihrer Auffassung einer wirksamen Vereinbarung der ausschließlichen Zuständigkeit maltesischer Gerichte fest.

[14] 2. Dass die von der Beklagten als nach § 25 Abs 1 EuGVVO 2012 gültig vereinbart angesehene Gerichtsstandsvereinbarung zwischen dem Spieler/Verbraucher und der Beklagten nach Punkt 12. der AGB mangels Vorliegens der Voraussetzungen des Art 19 EuGVVO 2012 unwirksam und in der Folge die Klägerin als Zedentin daran nicht gebunden ist, hat der Oberste Gerichtshof bereits klargestellt. Die Beklagte kann dazu auf die ausführliche Begründung in der Entscheidung zu 10 Ob 56/22s (ErwGr 3.1 ff; dem folgend 8 Ob 172/22k [Rz 17 f]) verwiesen werden.

[15] 3.1. Die Klägerin macht mit ihrer Klage in erster Linie bereicherungsrechtliche Rückforderungsansprüche aus nichtigen Glücksspielverträgen (§ 1174 iVm § 1431 ABGB) geltend.

[16] 3.2. Die Begriffe „Vertrag“ und „Ansprüche aus einem Vertrag“ sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) autonom auszulegen. Danach liegt ein vertraglicher Anspruch vor, wenn eine Person gegenüber einer anderen Person freiwillig eine rechtliche Verpflichtung eingegangen ist (EuGH C‑548/12 , Brogsitter [Rn 18]), die verletzt wurde. Diese Voraussetzung ist dann gegeben, wenn das vorgeworfene Verhalten als Verstoß gegen die vertraglichen Verpflichtungen angesehen werden kann, wie sie sich anhand des Vertragsgegenstands ermitteln lassen. Dies ist grundsätzlich der Fall, wenn eine Auslegung des Vertrags zwischen den Parteien unerlässlich erscheint, um zu klären, ob das dem Beklagten vom Kläger vorgeworfene Verhalten widerrechtlich ist. Zu den Verpflichtungen aus einem Vertrag gehören demnach nicht nur die unmittelbaren vertraglichen Pflichten wie etwa Leistungs-, Zahlungs-, Duldungs- oder Unterlassungspflichten, sondern auch die Verpflichtungen, die an die Stelle einer nicht erfüllten vertraglichen Verbindlichkeit treten (sogenannte Sekundärverpflichtungen), also vor allem Schadenersatz- und Rückersatzansprüche, und zwar auch dann, wenn sie (erst) aus dem Gesetz folgen. Dies gilt somit auch für bereicherungsrechtliche Rückforderungsansprüche, die ihren Ursprung in der Verletzung einer sich aus dem Vertrag ergebenden Pflicht haben und demnach etwa aus einem nichtigen Vertrag resultieren (4 Ob 140/18v; 4 Ob 212/18g).

[17] Dies gilt auch für die hier geltend gemachten bereicherungsrechtlichen Rückersatzansprüche, weil diese aus der Nichtigkeit des zugrunde liegenden Glücksspielvertrags resultieren (8 Ob 172/22k [ErwGr 2.2.]; 10 Ob 56/22s [ErwGr 4.3.]).

[18] 3.3. Dass für diese Ansprüche der Gerichtsstand des Erfüllungsorts nach Art 7 Nr 1 EuGVVO 2012 (lit b zweiter Gedankenstrich: Glücksspielvertrag als Dienstleistungsvertrag; vgl EuGH C‑307/19 , Obala i lucice [Rn 93 f]; 4 Ob 140/18v) nicht zur Zuständigkeit des Erstgerichts führt, stellt die Klägerin im Revisionsrekurs zutreffend nicht mehr in Frage. Nach dieser Bestimmung ist bei der Prüfung des Erfüllungsorts auf die charakteristische Leistung abzustellen (EuGH C‑19/09 , Wood Floor Solutions [Rn 34]). Das Kriterium des Erfüllungsorts ist dabei autonom nach Möglichkeit aus dem Vertrag zu bestimmen. Im Zweifel ist am Sitz des Dienstleistungserbringers anzuknüpfen, der im Anlassfall in Malta liegt (vgl 8 Ob 172/22k [Rz 25]; 10 Ob 56/22s [ErwGr 4.8.]; 4 Ob 140/18v).

[19] Insoweit war die Zurückweisung der Klage daher zu bestätigen.

[20] 4.1. Die Klägerin stützt die von ihr verfolgten Ansprüche allerdings auch auf deliktischen Schadenersatz, weil die Beklagte in Österreich konzessionslos nach dem Gesetz verbotenes Glücksspiel anbiete. Die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts stützt sie in dieser Hinsicht auf den Deliktsgerichtsstand des Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012.

[21] 4.2. Nach dieser Bestimmung kann dann, wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, eine Person mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat vor dem Gericht des Orts geklagt werden, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht. Der EuGH definiert Klagen aus „unerlaubten Handlungen“ als Klagen, mit denen eine Schadenshaftung des Beklagten geltend gemacht wird und die nicht an einen Vertrag iSd Art 7 Nr 1 EuGVVO 2012 anknüpfen (vgl RS0115357). Beruft sich der Kläger auf die Regeln über die Haftung aus einer unerlaubten Handlung und damit auf einen Verstoß gegen eine gesetzliche Verpflichtung, besteht diese Verpflichtung unabhängig von einem Vertrag und erscheint es daher erlässlich, den Inhalt des geschlossenen Vertrags zu prüfen, so gelangt Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 zur Anwendung (EuGH C‑548/12 , Brogsitter [Rn 25]; C‑59/19 , Wikingerhof [Rn 33]).

[22] 4.3. Für die hier in Rede stehenden deliktischen Schadenersatzansprüche ist die internationale Zuständigkeit nach Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 zu prüfen. Auf der Grundlage dieses Tatbestands kann bei Distanzdelikten sowohl am Handlungsort als auch am Erfolgsort geklagt werden. Als Erfolgsort kommt aber nur jener Ort in Betracht, an dem sich die Schädigung zuerst auswirkt (Primärschaden). Folgewirkungen auf Person oder Vermögen des Geschädigten lassen dessen (Wohn-)Sitz auch dann nicht zum Erfolgsort werden, wenn sie gleichzeitig verwirklicht werden (vgl RS0119142; 4 Ob 185/18m EvBl 2019/75, 513 [Brenn/Frauenberger/Pfeiler]).

[23] Nach der Rechtsprechung des EuGH ist im gegebenen Zusammenhang die Zuständigkeitszuweisung zum Wohnsitz des Geschädigten gerechtfertigt, soweit der Wohnsitz des Klägers tatsächlich der Ort des ursächlichen Geschehens oder der Verwirklichung des Schadenserfolgs ist (EuGH C‑375/13 , Kolassa [Rn 50 ff]). Die Anknüpfung an den Erfolgsort darf jedoch nicht so weit ausgelegt werden, dass sie jeden Ort erfasst, an dem die nachteiligen Folgen eines Umstands spürbar sind, der bereits einen tatsächlich an einem anderen Ort (primär) entstandenen Schaden verursacht hat. Sie bezieht sich nicht schon deshalb auf den Ort des Klägerwohnsitzes, weil dem Kläger durch den Verlust von Vermögensbestandteilen in einem anderen Mitgliedstaat ein finanzieller Schaden entstanden ist. Eine solche Zuständigkeitszuweisung ist vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn auch die anderen spezifischen Gegebenheiten des Falls zur Zuweisung der Zuständigkeit an die Gerichte des Wohnsitzstaats beitragen (EuGH C-12/15 , Universal Music). Dies ist im gegebenen Zusammenhang dann der Fall, wenn der Beklagte die zugrunde liegenden gesetzlichen Verpflichtungen im Wohnsitzstaat zu erfüllen hat und der Schaden aus der Verletzung dieser Pflichten abgeleitet wird, wenn also der Beklagte die schadensrelevante Pflichtverletzung im Wohnsitzstaat des Geschädigten begangen hat und sich als Folge dieser Pflichtverletzung der Schaden unmittelbar im Wohnsitzstaat (zB auf einem inländischen Bankkonto des Klägers) verwirklicht (EuGH C‑709/19 , Vereniging van Effectenbezitters, ÖJZ [EuGH] 2021/86, 703 [Brenn]). Davon abgesehen kommt als Erfolgsort auch jener Ort in Betracht, an dem es zu einem direkten Eingriff in das Rechtsgut des Geschädigten gekommen ist (RS0109739 [T8]).

[24] 4.4. Nach dem Vorbringen der Klägerin resultiert der von ihr geltend gemachte Schadenersatzanspruch (die Rechtswidrigkeit) aus dem Verstoß gegen das österreichische Glücksspielrecht, also aus einem Verstoß gegen öffentlich-rechtliche österreichische Normen. Das vorgeworfene deliktische Verhalten der Beklagten besteht dabei nicht im Anbieten von Online-Glücksspielen an sich, sondern darin, dass dieses Angebot trotz fehlender österreichischer Konzession auch in Österreich zugänglich und nutzbar gemacht wird. Damit liegt die schadensrelevante Pflichtverletzung in Österreich, weshalb die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts für die geltend gemachten deliktischen Schadenersatzansprüche gemäß Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012 zu bejahen ist (idS auch 8 Ob 172/22k [Rz 29]; 6 Ob 168/23h [ErwGr 4.]).

[25] Schon deshalb erweist sich der Revisionsrekurs der Klägerin daher in Ansehung dieser Ansprüche als (teilweise) berechtigt.

[26] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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