OGH 14Os71/23g

OGH14Os71/23g1.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. August 2023 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz‑Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Mair in der Strafsache gegen * M* wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 2 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 9. Februar 2023, GZ 40 Hv 12/22f‑39, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0140OS00071.23G.0801.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Sexualdelikte

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht Feldkirch verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * M* des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 2 StGB schuldig erkannt.

[2] Danach hat er am 3. Dezember 2021 in W* eine wehrlose Person unter Ausnützung dieses Zustands dadurch missbraucht, dass er an ihr eine geschlechtliche Handlung vornahm, indem er der „schlafenden bzw. gerade aufwachenden“ sowie durch Alkohol, Übelkeit und mangelnder Nahrungsaufnahme geschwächten * D* die Hose bis zu den Knien herunterzog, ihre Unterhose zur Seite schob und sodann ihre nackte Vulva streichelte und leckte.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die aus § 281 Abs 1 Z 3, 4 und 5 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

[4] Der Verfahrensrüge (Z 3) zuwider wurde die Ton- und Bildaufnahme über die kontradiktorische Vernehmung der Zeugin D* rechtens in der Hauptverhandlung vorgeführt (ON 38 S 8). Denn nach der Belehrung durch die Richterin im Rahmen der kontradiktorischen Vernehmung, D* würde (gemeint: im Fall einer Anklageerhebung für die Hauptverhandlung) „grundsätzlich auch noch einmal eine Ladung bekommen als Zeugin außer“ es sei ihr lieber, wenn die Aufnahme der kontradiktorischen Vernehmung dort abgespielt werde, bestätigte die Zeugin, genau dies zu wollen (ON 18 S 34 f). Mangels erkennbarer Bezugnahme des Erstgerichts auf diese Erklärung bei Vornahme der kritisierten Verfahrenshandlung, stellt der erkennende Senat in freier Beweiswürdigung auf jenen Zeitpunkt bezogen selbst fest (RIS‑Justiz RS0118977 [T14]), dass die Zeugin die Inanspruchnahme der Aussagebefreiung (§ 156 Abs 1 Z 2 StPO) auf diese Weise ausreichend und unbedenklich zum Ausdruck brachte (RIS‑Justiz RS0111315, insbesondere 14 Os 118/21s) und somit die Voraussetzungen nach § 252 Abs 1 Z 2a StPO vorlagen.

[5] Davon ausgehend erübrigt sich eine Antwort auf den weiteren Einwand (nominell Z 4, inhaltlich Z 3), der Beschwerdeführer habe auch kein Einverständnis zur Vorführung dieser Ton- und Bildaufnahme erklärt.

[6] Im Recht ist allerdings die Kritik der Mängelrüge, das Erstgericht habe die Aussage des Zeugen * De *, D* habe (noch am Abend nach dem Vorfall) ihm gegenüber nicht erwähnt, „dass sie geschlafen hätte“, sie habe ihm vielmehr gesagt, „dass sie vollständig wach gewesen sei“ (ON 38 S 5), unerörtert gelassen. Die Beurteilung der Überzeugungskraft von Aussagen kann nämlich unter dem Gesichtspunkt der (hier angesprochenen) Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) mangelhaft erscheinen, wenn sich das Gericht mit gegen die Glaubwürdigkeit sprechenden Beweisergebnissen nicht auseinandergesetzt hat. Der Bezugspunkt besteht dabei nicht in der Sachverhaltsannahme der Glaubwürdigkeit (oder Unglaubwürdigkeit), sondern ausschließlich in den Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen (RIS‑Justiz RS0119422 [T4]). Genau das ist hier der Fall, denn die Tatrichter stützten die (entscheidende) Feststellung zur Wehrlosigkeit des Opfers, dieses habe sich im Tatzeitpunkt im „gerade aufgewachten bzw. wieder einschlafenden“ Zustand befunden und sei „durch Alkohol und Übelkeit sowie mangelnder Nahrungsaufnahme“ geschwächt und kraftlos gewesen (US 5, vgl auch US 12 und 15 [wo jeweils die Bedeutung des „Schlafs“ oder der „Schlaftrunkenheit“ für die Subsumtion hervorgehoben wird]), insbesondere auf dessen für glaubhaft befundene Angaben (US 6 f, 11, 12 iVm ON 2.8 S 7 und ON 18 S 14 und 17). Das dieser Annahme entgegenstehende Verfahrensergebnis in Form der ins Treffen geführten Zeugenaussage hätte das Erstgericht nicht unerörtert lassen dürfen (RIS‑Justiz RS0098495).

[7] Der aufgezeigte Begründungsmangel erfordert die sofortige Aufhebung des gesamten Urteils samt Rückverweisung der Sache an das Erstgericht bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 285e StPO).

[8] Eine Antwort auf das weitere Vorbringen der Mängelrüge erübrigt sich somit.

[9] Mit seiner Berufung war der Beschwerdeführer auf diese Entscheidung zu verweisen.

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